Frankreich 2012 · 122 min. · FSK: ab 12 Regie: Olivier Assayas Drehbuch: Olivier Assayas Kamera: Eric Gautier Darsteller: Clément Métayer, Lola Créton, Félix Armand, Carole Combes, India Salvor Menuez u.a. |
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Cool, aber zu nostalgisch & zu wenig politisch. |
Paris, frühe siebziger Jahre: Eine aufgeladene Zeit, junge Männer unter haarigen Tollen und lässige Frauen unter geraden Ponys zwischen Liebe, Politik, Malerei und Film.
Assayas, immer schon ein leicht melancholischer Typ, beschreibt die Zeit seiner Jugend und rüttelt damit etwas wütend an der heutigen, für ihn offenbar wenig engagierten, unpolitischen Generation. Er versucht ihr ein paar Ohrfeigen zu geben, bleibt dabei aber so distanziert, dass er wohl kaum etwas bewirken wird. Thematisiert wird die Krux der Nach-68er, ihr Gefühl etwas radikal umsetzen zu müssen, was zuvor nur rosa-idealistisch angedacht worden war und ihr Scheitern am eigenen Anspruch. Die Schlaghosen-Siebziger also, die nach den Hippies nach etwas mehr Realität verlangten und dabei etwas mehr Aggression, Draufgängertum und strategisches Geschick mitbrachten. Es ist nun der persönlichere, vielleicht auch intimere Film nach Carlos – Der Schakal, der vor zwei Jahren in den Kinos lief und das Leben des Terroristen Ramírez Sánchez erzählt, der bis heute in Frankreich für seinen „Traum“ eines radikalen Gesellschaftswandels, den man nur mit Waffen umsetzen kann, im Gefängnis sitzt. Der sich nur teilweise an Fakten haltende Film zeigt, was geschieht, wenn Idealismus in Größenwahn umschlägt und Selbstverherrlichung in Realitätsverweigerung. Carlos scheitert im großen Stil und driftet von revolutionärer Romantik zu einer Aggression, die ihre Ziele aus den Augen verliert. Carlos und die Die wilde Zeit beschreiben einen Moment und ein Lebensgefühl. Die Jungen in Die wilde Zeit machen erste verzagte Versuche in die Öffentlichkeit zu treten. Carlos ist schon einen Schritt weiter und hat diesen vorsichtigen Ansatz in einen wirklich über Leichen gehenden Wahn verwandelt.
Gilles, die Hauptfigur, Schüler in Paris, etwas verträumt, etwas verloren und doch ziemlich selbstbewusst und ganz offensichtlich das Alter Ego von Olivier Assayas, laviert sich durch sein junges Erwachsenenleben.
Man sieht dabei zu, wie sich jene formieren, die glauben, dass man etwas ändern kann. Die sanftere Variante der deutschen RAF oder eben von Carlos. Es sind Gilles und seine
Freunde, langhaarige, langbeinige Gestalten, die einen Tick zu cool sind um mal zu lachen, einen Tick zu ernsthaft um wirklich kreativ zu sein und etwas zu idealistisch um wirklich richtig lebendig zu werden.
Was sie verbindet, ist der Drang etwas zu tun und etwas zu verändern: Flugblätter drucken und verteilen, in den Rauchwolken der Straßendemos toben, in denen Polizisten auf Motorrädern wie Cowboys auf Vieh, mit Schlagstöcken auf Demonstranten einschlagen.
Und dann das Feuer. Sie waren jung und bereit das Feuer zu entzünden – eine platte Metapher, die es aber wagt, sich durch den gesamten Film zu ziehen. Immer wieder taucht sie auf, in einem Gedichtband von Gregory Corso, Wurfbrandsätzen, Drogenvisionen und Autos, die in die Luft gesprengt werden. Vive la révolution! Und neben dem Willen, die Gesellschaft ändern zu wollen, neben dem politischen Menschen steht gleichermaßen das Herumwälzen der Jugendlichen in ihren eigenen Gefühlen, zwischen verschiedenen Frauen und Lebensentwürfen, der Frage Künstler zu werden oder politisch aktiv zu sein oder beides. Oder gar Alighiero Boetti und sein Hotelprojekt in Kabul zu unterstützen. Filme zum und für das Vergnügen drehen oder zur Aufklärung? Wir machen Agitationsfilme, keine Fiktion. Was tun?
Assayas wählt das Kino und den Film. Das Kino lässt die Toten zum Leben erwachen: Der erste Kuss im Halbdunkel des Kinosaals. Die eine Frau führt Gilles dann zur Malerei, die andere zum Film. Und das ist wohl auch das, wofür dieser Film steht: Für das Kino, den Film, das Filmemachen und was es für Assayas bedeutet und was es bewirken kann – ein Zwischenraum gut durchorganisierter Sprayer-Flugblatt-Aktionen und Anarchie, Jagden durch die Straßen und der Ruhe im Bett einer anderen, zwischen Kunst und Politik, vom Abstrakten zum Realen, vom fiktionalen zum agitatorischen Film.
Assayas hat seinen Auftrag erfüllt, in revolutionären Zeiten kein Unterhaltungskino machen zu wollen und in nicht-revolutionären Zeiten erst recht nicht. Also macht er eben einen politischen Unterhaltungsfilm. Das ist cool und reißt mit, könnte aber politischer und etwas weniger nostalgisch sein.
Der Film macht keine Umstände, sondern springt einfach mitten hinein: Eine Schulklasse, 16-, 17-Jährige, Philosophie-Unterricht – so etwas gibt es in Frankreich –, und während ein Schüler ein »A« in den Tisch ritzt und einen Kreis darum, zitiert der Lehrer Blaise Pascal: »Entre nous & le ciel, l’enfer, ou le neant il n'y a donc que la vie qui est la chose du monde la plus fragile; & le ciel n'estant pas certainement pour ceux qui doutent si leur ame est immortelle, ils n'ont à attendre que l’enfer ou le neant.« – Das Leben sei zerbrechlich, und doch das einzige, was wir haben, jenseits des Himmels. Und dieses Himmelreich bleibe denen verschlossen, die nicht an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Anarchismus und jansenistische Philosophie – das ist schon eine gute Kombination für den Anfang.
Dann ein harter Schnitt – eine Demonstration beginnt. »Wir überwachen die Polizei« glauben die Schüler, brüllen »CRS – SS« gegen die Polizei, die diese Rufe gleich als Aufforderung nimmt, und tatsächlich die Schüler zusammenprügelt, als gäbe es kein Morgen. Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen und will es kaum glauben, doch alles hier ist belegt. Man muss eben, um einen Aufstand zu verstehen, auch verstehen, gegen wen er gerichtet ist.
Dieser Aufstand, das ist der revolutionäre Mai 1968, in dem die europäische Studentenrevolte in Frankreich auch die Fabriken erreichte und auf bürgerliche Kreise überschwappte: Die Arbeiter gingen, angeführt von der kommunistischen Gewerkschaft CGT auf Straße, Charles de Gaulle wurde aus dem Elysee-Palast vertrieben, und für einen Augenblick stand alles auf der Kippe, schien alles möglich. William Klein, heute vor allem als Fotograf berühmt, hat diesen Moment zu einer unvergesslichen, vierstündigen Dokumentation verarbeitet: »Grands soirs et petites matins«. Danach verpufften die Hoffnungen auf eine so rasche wie grundsätzliche Veränderung der Gesellschaft schnell. Die Utopien und das Unbehagen in der westlichen Kultur aber blieben, und hiervon, von dieser Generation, die knapp zu spät kam für die Revolte, erzählt Olivier Assayas.
»Die Alten hatten abgewirtschaftet. Es gärte, vor allem unter den Jungen, zugleich war da viel Chaos und Widersprüchlichkeit. Man glaubte wirklich, das die Revolution unmittelbar bevorstünde, dass alles möglich ist. Das ist faszinierend, und macht einem doch auch Angst. Denn da ist viel Gewalt in der Luft. In Paris brannten die Autos, und wenn man gerade am falschen Ort war, konnte es einem passieren, dass man zusammengeschlagen wurde. Das ist glaube ich das, was heute am
schwersten vorstellbar ist: Diese Gewalt. Und sie machte einen auch skeptisch. Es war jedem klar: Alles ist möglich, aber das ist auch gefährlich.
Dieser Film ist also in seiner Mischung aus Hoffnung und Bedrohung, aus Begeisterung, Aufbruch und Enttäuschung, genau die Geschichte meiner eigenen Jugend. Aber damit eben die einer ganzen Generation.«
Olivier Assayas im Gespräch mit dem Autor, September 2012, San Sebastián
Assayas weist auf die Herkunft seiner Mutter hin. Die ist Ungarin, und emigrierte erst nach dem gescheiterten Ungarnaufstand nach Paris: Insofern habe er auch die Erfahrung des Scheitern früh verinnerlicht, ebenso wie die Skepsis gegenüber den kommunistischen Hoffnungen jener Jahre. Dies sei ein kleiner Unterschied zu manchen seiner Altersgenossen.
Après mai, der auf Deutsch bieder Die wilde Zeit heißt, setzt 1971 ein und portraitiert eine Gruppe junger Schüler aus gutem Haus. Sie wollen für die Weltrevolution kämpfen, ihre Freiheit in jeder Hinsicht auskosten und sie wollen Künstler werden. Im Zentrum steht Gilles. eine Art alter Ego des Regisseurs, der 1955 geboren, die Ereignisse als 16-Jähriger miterlebte. Wie der Vater von Assayas ist Gilles' Vater Drehbuchautor, und auch
Gilles geht am Ende zum Film. Davor wird er und wir mit ihm Augenzeuge der vielen Facetten der Bewegung, die auf den überschäumenden Pariser Mai folgten. Das Politische differenzierte sich aus, individualisierte sich, und in der bis heute beliebten Formel von der Politisierung des Privaten (»das Private ist politisch«) steckt die Privatisierung des Politischen: Durch »Bewusstseinserweiterung« auf Drogentrips und Indienreisen, durch sexuelle Revolution und
Feminismus, durch Musik und Kino als Medien der erwarteten Befreiung.
»Für mich war die Musik dieser Jahre eigentlich wichtiger, als das Kino. Das Kino war mit meinem Vater und seinem Beruf verbunden; Musik aber war wirklich etwas völlig Neues.«
Assayas, s.o.
Gilles hört »Booker T & the M.G.'s« und »Captain Beefheart«, »Dr. Strangely Strange« und »Tangerine Dream«, er begegnet Frauen mit brauen, etwas zu langen, etwas zu vollen Haaren und großen Rehaugen, elfenhafte Wesen – ein Schönheitsideal der Epoche. Gilles liest auch Simon Leys »Mao’s neue Kleider«, eine enttäuschte Abrechnung mit der chinesischen Kulturrevolution – was eine schöne Lüge ist, denn erst 1980 wurde dieses Buch bekannt, oder auch eine fragwürdige politische Anbiederung beim heutigen Publikum, gegenüber dem man wie den Pariser Mai auch die Kulturrevolution heute eher retten muss, als beides weiter zu diskreditieren. Vielleicht aber wird man irgendwann beginnen, wieder anders gegenwärtig, auf die Kulturrevolution zu blicken. Gewisse Sentimentalitäten, die die Hauptfigur zu gut aussehen lassen, hätte sich Assayas jedenfalls besser geschenkt.
»Eine Revolution ist keine Dinnerparty«, sagte Mao, und Assayas zeigt, dass der Große Vorsitzende hier zumindest recht hat. Der untergründige rote Faden ist die Gewalt, die vielleicht mit Schuld trägt am Scheitern größerer Träume. Er zeigt, wie ein harmloses Sprayen von Graffitis in eine Gewaltspirale mündet: Molotowcocktails werden geworfen, Sicherheitsleute prügeln mit Eisenstangen und am Ende liegt ein Mensch im Koma.
Auch darin, in diesem schleichenden Übergang von zwischen den Ebenen, zwischen legitimem Widerstand und illegitimem Terror, erinnert der Film an Assayas' letzte Zeitreise in seine eigene Vergangenheit der 60er und 70er Jahre, das Terrordrama Carlos. Der Film schlägt sich nicht überdeutlich auf irgendeine Seite, nimmt keine Schuldzuweisungen vor. Es ist auch eher Ansichtssache der Figuren, was man eigentlich ganz genau für eine Revolution hält, und ob man etwas von ihr hält, natürlich auch. Manche Figuren sind gegen die UdSSR, aber für Lenin. Eine der Differenzen, die hier eher verhandelt wird, ist die zwischen Subjektivität und Individualität. Diese Jugendlichen, dargestellt von einem ganzen Dutzend bezaubernder, unbekannter Jungschauspieler, sind subjektiv, aber nie individualistisch. Das heißt: Sie kapseln sich nicht ab von Gesellschaft, sondern finden in sich das Allgemeine.
Manchmal wirkt das wie ein Film von Phillippe Garrel, demjenigen unter den französischen Regisseuren, denen man die Liebe zur Jugend und die Post-68er-Melancholie am meisten anmerkt. Assayas erzählt fragmentarisch, reiht Momentaufnahmen aneinander. Erst in der letzten halben Stunde erinnert alles mehr an Truffaut, weil Assayas dann doch die Figuren noch etwas von Plotpoint zu Plotpoint zusammenführt. Da denkt Assayas offenkundig, er müsse jetzt doch noch etwas plotpointmäßig erzählen, dann leiert sein Film etwas aus. Aber nur etwas. Aber man kann sagen: Der Film wirkt zunächst wie ein Godard, dann ein Truffaut.
Grundsätzlich ist Assayas Auffassung von gutem Kino auch eher musikalisch: »Kino ist für mich kein Mittel der Information, noch nicht mal der Kommunikation, es ist eine Form der Kunst und seine Wirkung ist daher dialektisch… Ich will den Blick des Zuschauers nicht lenken.« Einmal bekommt Gilles von einem Genossen klargemacht, dass sein Dasein als Künstler ihn zum Außenseiter stempelt: »Kunst, das ist Einsamkeit. Du bist außerhalb des Kampfes.«
Après mai ist ein ungemein berührender, packender und zugleich luftig und charmant inszenierter Film, der davon erzählt, wie Idealismus in Melancholie münden kann, wie die Träume der Jugend verblassen. Gilles macht die Erfahrung, allein zu sein, den am Ende gehen alle ihre Weges.
Diese Kinder von Marx und Coca-Cola glauben nicht an Gott, auch nicht wenigstens wie Pascal, aber sie glauben an Bildung, an das Kino und an die Freiheit. In ihrem Pathos des Lesens, des Lernens liegt einer der größten Unterschiede zu heute: Welcher Schüler kauft sich schon am Morgen fünf Zeitungen?
Hier liegt die besondere Stärke und gegenwärtige Bedeutung des Films: Assayas ruft uns eine Epoche und eine Lebensform ins Gedächtnis, in der die Menschen kein Internet und kein Smartphone hatten, dafür viel Zeit, nicht nur zum Lesen. Man experimentierte mit sich selbst: mit Sex, Drogen, man rauchte, keiner trägt hier Helme, weder beim Fahrrad- noch beim Mopedfahren – Sicherheitsdenken welcher Art auch immer galt als reaktionär, spießig oder als einfach dumm. Auch die Eltern spielen für diese Jugend einfach keine herausragende Rolle, waren kein Punkt der Orientierung. Sie hatte sich von ihnen emanzipiert. Man war nicht fixiert auf das »Realistische«, auf die Karriere, darauf, es irgendwem rechtzumachen. Großartig!
Es gibt also doch ein richtiges Leben im falschen. Es heißt: Abschied von Mittelmäßigkeit, von Spießigkeit, von Sicherheitsdenken. Es heißt: Riskier etwas. Gib auf, was Du hast, das Leben gibt Dir noch genug. Es heißt: Neugier, Suchbewegung, Fragen statt Antworten. Das gilt auch fürs Filmemachen. Wo Hollywoodfilme und ihre deutschen Epigonen immer nur Antworten haben, und immer schon alles wissen, da zeigt der französische Regisseur, wie man auch von Vergangenheit erzählen kann.
Vielleicht ist ja etwas dran an der Überlegung, dass wir etwas von dieser Generation lernen können. Nicht nur, aber auch, dass Sicherheitsdenken und Dummheit zusammengehören. Denn – siehe Pascal – nichts ist sicher, außer der Tod. Und so erzählt Assayas nicht nur indirekt, was uns heute fehlt, weil wir es vergessen haben, er zeigt uns auch, dass nichts so sein muss, wie es heute ist, sondern dass alles anders sein kann und irgendwann wird.
Assayas, Olivier: »Post-May Adolescence« (Austrian Film Museum Books), Wien 2012, 14 Euro
Jones, Kent: »Olivier Assayas« (Filmmuseumsynemapublikationen), Wien, 22 Euro
Letzten Mai erst hatte ich Assayas in München interviewt, als er zur Retro ins Filmmuseum kam, im Anschluss habe ich ihn noch, zusammen mit Bernd Brehmer, ins Münchner Werkstattkino entführt. Assayas' Augen haben geleuchtet, als er das Kino sah, in dem fast alle seine Filme gezeigt wurden, in dem Kino mit dem Underground-Charme, mit den wild plakatierten Wände im Eingangsbereich des Kinos, mit den Graffiti beim Hintereingang, mit dem kreativen Chaos im Vorführraum: handgeklebte Programm-Flugblätter, die sich in einer Box stapeln, aufgetürmte Filmkopien, softpornografische/kannibalistische/zombiemäßige Film-Stills an den zugeklebten Wänden. Als Après mai dann beginnt, ist mir schlagartig klar, warum Assayas so ausgeflippt ist, als er das Werkstattkino sah: Es muss ihm wie das Kondensat eines Lebensgefühls seiner frühen Erwachsenenjahre vorgekommen sein, das von einem diffusen Zusammenkommen von Idealismus, politischen Idealen, Erotik und dem unbedingten Willen, etwas anders zu machen als so viele andere um ihn herum, geprägt war, nimmt man seinen Film wörtlich.
Es schreit einem entgegen, in den ersten Szenen von Après mai. Schaut her: so wild haben wir gelebt, seht: so wild haben wir uns gefühlt. Die Szenen sind schnell geschnitten, es wird gerannt, vor den Bullen davongerannt, nach einer nicht angemeldeten Demo sich ins nächste Haus geflüchtet bis unters Dach. Assayas erzählt nach dem Film, dass sie das tatsächlich alles gemacht haben, damals, Anfang der 70er Jahre: die Fensterläden der Schule mit politischen Parolen besprüht und den Hof mit Flugblättern bedeckt, auf Demos der Polizei davongelaufen, die Mädchen entdeckt, die Drogen. Dann irgendwann die Abkehr vom explizit Politischen, weil Assayas eine eigene ästhetische Form finden wollte für seine Kunst, die sich mit dem vordergründig Politischen nicht mehr vertrug.
Später dann, als er bereits bildende Kunst studierte, hatte er einen Job am Set eines B-Movies. Man sieht im Film, wie sein Alter ego Gilles nach der Arbeit ins Kino geht, wo Experimentalfilme gezeigt werden. Im Programm: ein Film mit seiner Jugendliebe, die im Feuer umgekommen ist. Nach der Vorstellung muss Assayas diese Episode erklären: »Gilles will Filme machen und kommt von dieser absurden Arbeit am Filmset ins Kino, wo er einen Film sieht, der endlich zu ihm spricht!«
Der Film sollte pures Gefühl sein, doch ist er in vielem auch einfach nur viel illustrierte Handlung. Endlich kann Assayas – nach dem Erfolg, den er mit Carlos hatte – Filme realisieren, die ihm vorher nicht möglich waren, mit einem für Frankreich mittleren Budget, wie er sagt (4 Mio. Euro), und mit einem ausgefeilten Bühnen- und Kostümbild. Carlos gab es in zwei Versionen, die von Assayas bevorzugte mäandert und erlaubt Längen, Längen in denen sich Emotion ausbreitet, wo der atemlose Plot Verschnaufpause bekommt. Vielleicht hätte Après mai auch länger werden sollen, vielleicht kommt Assayas jetzt in die Zwänge des Erzählkinos. Um es kurz zu machen: Sein Film ist eine Wucht, aber auch reiner Plot. Zuviel Biopic, zuviel Künstler-Hermeneutik. Die Darsteller sind allesamt Laien und umwerfend, der Soundtrack ist wiedermal der Soundtrack von Assayas' Leben. Den Film prägt eine umwerfende autobiographische Verfasstheit und eine zur Perfektion durchgestylte Reminiszenz an die 70er Jahre. Unterm Strich jedoch ist da zu viel Plot, zu wenig Atemholen, eine aufgeregte Ereignishaftigkeit wie bei einer Vergangenheitsrekonstruktion, die uns mit vier Ausrufezeichen sagt: So! aufregend! war! das!
Auch wenn ich mit dem »neuen« Assayas (nach Carlos) nicht so ganz mitgehen kann und Einwände gegen die Atemlosigkeit habe: Der Film ist in der Aussage kraftvoll wie ein Flugblatt und schön anzusehen wie ein Graffiti an der Wand. Und: der Film hat mir klargemacht, warum er damals so ausgeflippte, als er es sah, das Werkstattkino. Und: Der Film wird – immerhin am Ende – zur reinen Leinwand, wenn das zu Kunst geronnene, geliebte Mädchen als Sehnsuchtsmoment an die binnendiegetische Projektionsfläche eines Kinos gezaubert wird. Ähnlich wie vor ihr hatte schon Maggie Cheung die Kinoleinwand erklettert, und ist in den anderen Zustand der Realität übergegangen.