Deutschland 2009 · 90 min. · FSK: ab 12 Regie: Christian Becker, Oliver Schwabe Drehbuch: Christian Becker, Oliver Schwabe Kamera: Oliver Schwabe Darsteller: Robert Stadlober, Sylvester Groth, Maja Schöne, Corinna Kirchhoff, Gerda Böken u.a. |
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Liebe und Freiheit – die alte Frage |
Parasiten haben einen schlechten Ruf. Dabei sind sie, wie man nicht erst seit Michel Serres' Untersuchungen zum Thema weiß, außerordentlich nützliche Wesen. Ohne Parasiten gäbe es kein Leben und ohne parasitäres Verhalten keinen Fortschritt, sie sind diejenigen, die den Übergang von einer Lebensform zur anderen meistern, und am Ende noch jede Katastrophe überleben. Andererseits könnten sie alleine gar nicht überleben, sondern sie nähren sich immer von anderen. Man darf annehmen, dass Christian Becker und Oliver Schwabe, die beiden Regisseure dieses Films, all das mitbedacht haben, als sie ihren zweiten gemeinsamen Spielfilm konzipierten. Zuvor hatten die beiden Absolventen der Kölner Filmhochschule KHM bereits mit dem filmischen Videotagebuch Egoshooter gemeinsam debütiert. Beide Filme gehören zusammen, ergänzen sich gewissermaßen zum Kino-Projekt einer Untersuchung von persönlicher wie kultureller Identität in unserer Gegenwart. Ging es seinerzeit in »Egoshooter« um einen Einzelnen, der noch im Schüleralter sich selbst erst finden muss, um Unsicherheit, so wird nun der Rahmen erweitert, indem mehrere patchworkartige Familien- und Freundschaftsverhältnisse im Zentrum stehen. Es geht also um die Zerbrechlichkeit und Unklarheit von Beziehungen.
Überaus unklar ist schon das Verhältnis von Jakob und Manu. Gemeinsam leben sie in einem selbst errichteten Lager im Wald, obdachlos nicht primär aus Not, sondern aus Wahl. Sie wollen frei sein, wie der Wind, aber schon ihre Beziehung zueinander befindet sich überaus unfrei schwebend im Niemandsland zwischen reiner Interessengemeinschaft, geschwisterlicher Nähe und Liebe. Ihren Lebensunterhalt bestreiten sie mit ungewöhnlichen Dienstleistungen: Manu vertreibt einer alten Frau die Zeit und macht für sie kleine Besorgungen. Aber gemeinsam mit Jakob entspricht sie auch ungewöhnlicheren Wünschen, wie dem, noch einmal einem Paar beim Sex zuzusehen. Jakob sucht gerade einem neuen »Kunden«. Durch Zufall lernt er ein älteres Paar kennen, deren Sohn kürzlich gestorben ist. Instinktiv spürt er, dass er die Eltern stark an diesen erinnert und stellt sich ihnen gegen Kost, Logis und kleine Geldsummen, als Stellvertreter für den verlorenen Sohn zur Verfügung. Bei ihren »Wirten« finden diese zarten Parasiten immer auch ganz parasitenhaft temporären Unterschlupf; beide ernähren sich von der – auch emotionalen – Teilhabe am Leben der anderen, aber sie wollen nur reinschauen und ihre Freiheit, ihre Souveränität nicht aufgeben. Und auch den anderen ist das ganz recht; im Film wie in der Natur sind die Parasiten auch gut für die anderen, sie dienen auch ihren Wirten.
Auch sonst sind es große Themen, die dieser Film anschneidet: Gefühle als Konsumgut und (ab-)bestellbare Ware, die Familie als Wahlverwandschaft, die aus individuellen Sehnsüchten konstruiert wird. Wahrhaftige Gefühle als Schrecken und Utopie zugleich – man fühlt sich manchmal an die Topoi des Werkes von Atom Egoyan erinnert, in dieser ungewöhnlichen Geschichte mit vielen Wendungen, über zwei Menschen, die die Schwachstellen der Gesellschaft erkennen, und sich ihrer bedienen. Am Grunde des Films liegt auch eine Gesellschaftsanalyse: Hochstapelei, lautet sie, Lüge, Täuschungen sind auch im Gefühlsbereich mitunter nötig, die Wahrheit kann nicht weniger verletzen und Wahrhaftigkeitszwang hat immer etwas Unmenschliches. Hinzu kommt: In der kapitalistischen Konsum-Gesellschaft hat alles seinen Preis, auch hier handelt es sich immer um Tauschverhältnisse, auch Gefühle, auch Liebe, werden konsumiert. Haben Liebesbeziehungen denn nicht immer etwas Parasitäres? Nun gehört zwar der Verzicht auf derartige Fragen und der schöne Schein der Verklärung essentiell zum Geschehen auf diesem Liebeshandelsplatz. Moral, so legt der Film nahe, bestünde aber vor allem darin, die Realitäten nicht völlig zu verdrängen, die Dinge entspannter zu sehen und den Umgang mit Gefühlen nicht zu moralisieren, wenigstens nicht so schnell. So können sich die Gefühlshändler Manu und Jakob mit gutem Grund als Wohltäter verstehen, liefern sie doch preiswert fehlende Güter wie Zuneigung und Wärme, und erfüllen im Prinzip vor allem die Projektionen ihrer Wirte.
Dass sich in Gefühlsdingen nicht alles kontrollieren lässt, merken auch Manu und Jacob, als die alte Frau Katz plötzlich stirbt, und das sorgsam kalkulierte Gleichgewicht des jungen Paares durcheinander gerät. Am Ende stellen sich aber die vertrauten Verhaltensmuster noch als die immer noch besten heraus.
Zarte Parasiten ist ein überaus origineller, schön photographierter, von Robert Stadlober, Maja Schöne und Sylvester Groth spannend gespielter, ruhiger Film über die Perspektivlosigkeit des Lebens und den schönen Charakter seiner aus allen gesellschaftlichen Bindungen gefallenen Figuren. Seine Geschichte entwickelt er zögernd, zurückhaltend, Stück für Stück. Es ist eine Stärke, dass er auf unnötige Psychologisierungen verzichtet. Manchmal ist alles sehr leichthändig, mitunter hätte aber doch etwas mehr Ironie, aber auch Härte und der kühle Blick auf die unangenehmen Seiten des parasitären Gewerbes seiner jungen Helden dem Film gut getan. Wer die Ausgangsidee dabei als zu konstruiert empfindet, muss aber wissen, dass der Auslöser für die Regisseure die Nachricht von einem jungen Pärchen war, das monatelang im Wald campiert hat. Vielleicht stehen uns allen die Parasiten doch näher, als wir glauben möchten.