61. Filmfestspiele Cannes 2008
Die Gesellschaft der Blinden |
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Der Blick noch ganz vernebelt: Blindness, Festivalauftakt |
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(Foto: Studiocanal) |
Julianne Moore und Gael Garcia Bernal – die beiden Weltstars waren die ersten, die 2008 über den Roten Teppich von Cannes schritten. Zunächst noch durch den Hintereingang, wo sie gestern Vormittag bei der Eröffnungspressekonferenz der 61. Filmfestspiele ein Plädoyer fürs engagierte Autorenkino hielten: »Cannes macht Hollywood vor, was Kino sein kann«, sagte Moore, »Unterhaltung ist schön und gut, aber echte Unterhaltung ist auch etwas für den Kopf, nicht nur für die tiefer liegenden Körperregionen.« Am Abend standen Moore und Bernal dann im Zentrum der großen Eröffnungsgala, die mit Fernando Meirelles Blindness eröffnet wurde, in dem sie zwei Hauptrollen spielen.
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»Blindheit« – was für ein Titel ausgerechnet für den Eröffnungsfilm eines Filmfestivals! Und was für eine Metapher für das, was wir Festivalbesucher hier treiben.
Der dritte Film des Brasilianers nach City of God und The Constant Gardener ist die ziemlich
texttreue Verfilmung eines utopischen Romans des Portugiesen José Saramágo. Überraschend zeitbezogen wirkt die Handlung, die sich in die neue Konjunktur des Apokalyptischen fügt, die seit dem 11.9.2001 im Kino – etwa Children of Men von Cuaron, Boyles 28 Days Later, oder I Am Legend – und in der Literatur – Frank Schätzings »Der Schwarm«, »Die Straße« von Cormac McCarthy – grassiert. In einer nicht näher bezeichneten kosmopolitischen Metropole in naher Zukunft erblindet plötzlich ein Mann. Schnell kommt es zu weiteren Fällen, und es scheint klar, dass es sich um eine Massenepidemie handeln muss. Die Gesellschaft schlägt zurück, und interniert die
Erkrankten in einer Art Lager, wo sie weitgehend sich selbst überlassen sind. Julianne Moore spielt die einzige Sehende in dieser Gesellschaft der Blinden, sie hatte sich aus Solidarität mit ihrem Mann blind gestellt.
Blindness ist vor allem eine soziale Metapher, die in grellen Farben ausmalt, wie unter den sich selbst überlassenen Ausgeschlossenen die zivilisatorischen
Schranken zusammenbrechen, Sitte und Anstand vor die Hunde gehen. Ein – u.a. durch eine Massenvergewaltigung – schockierender, ungewöhnlicher Eröffnungsfilm, der am Ende eine plötzliche Kurve ins sentimentale Happy End nimmt – davor aber auf der Klaviatur verschiedenster Gefühle spielt.
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Meirelles' Film steht am Anfang eines Wettbewerbs, dessen Kontur und Qualität noch vergleichsweise unklar scheint. Nach dem überragenden Jubiläumsfestival der großen Namen im vergangenen Jahr, bietet Cannes 2008 mit Filmen der Dardenne-Brüder, Wenders und Clint Eastwoods zwar auch bekannte Altmeister, und mit Soderbergh, Jia Zhang-ke, Lucrezia Martel und Deplechin Filmemacher, die zum Interessantesten des Gegenwartskinos zählen, daneben aber auch viele Werke von Regisseuren, die zunächst einem breiten Publikum unbekannt sind. Neues von Woody Allen, Steven Spielberg und Wong Kar-wai läuft außer Konkurrenz, während die Nebensektionen in diesem Jahr von der Papierform her sich als Geheimtipp entpuppen könnten, stärker wirken, als im Vorjahr.
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Über die Goldenen Palmen entscheidet dann Ende kommender Woche eine hochkarätige Jury, die angeführt von Sean Penn vor allem durch Intelligenz und Frauenpower imponiert: Die dänische Dogma-Regisseurin Susanne Bier, die zuletzt noch der Berlinale abgesagt hatte, ist ebenso dabei wie Natalie Portman, die Iranerin Marjanne Satrapi und aus Deutschland Alexandra Maria Lara. »Ich bin geschmeichelt, und will ein apolitischer Präsident sein«, verkündete der eigentlich für sein politisches Engagement bekannte Penn gestern zum Auftakt. Taktische Zurückhaltung oder Überzeugung? Mal sehen, ob er sich damit gegen seine Co-Juroren durchsetzen kann, und als wie blind sich die Jury am 25. Mai erweist.
Rüdiger Suchsland