15.05.2008
61. Filmfestspiele Cannes 2008

Die Gesellschaft der Blinden

Blindness
Der Blick noch ganz vernebelt:
Blindness, Festivalauftakt
(Foto: Studiocanal)

Sichtprobleme im Kino und außerhalb, ein apolitischer Präsident, eine Massenvergewaltigung zur Eröffnung und Frauenpower in der Jury

Von Rüdiger Suchsland

Julianne Moore und Gael Garcia Bernal – die beiden Weltstars waren die ersten, die 2008 über den Roten Teppich von Cannes schritten. Zunächst noch durch den Hinter­ein­gang, wo sie gestern Vormittag bei der Eröff­nungs­pres­se­kon­fe­renz der 61. Film­fest­spiele ein Plädoyer fürs enga­gierte Autoren­kino hielten: »Cannes macht Hollywood vor, was Kino sein kann«, sagte Moore, »Unter­hal­tung ist schön und gut, aber echte Unter­hal­tung ist auch etwas für den Kopf, nicht nur für die tiefer liegenden Körper­re­gionen.« Am Abend standen Moore und Bernal dann im Zentrum der großen Eröff­nungs­gala, die mit Fernando Meirelles Blindness eröffnet wurde, in dem sie zwei Haupt­rollen spielen.

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»Blindheit« – was für ein Titel ausge­rechnet für den Eröff­nungs­film eines Film­fes­ti­vals! Und was für eine Metapher für das, was wir Festi­val­be­su­cher hier treiben.
Der dritte Film des Brasi­lia­ners nach City of God und The Constant Gardener ist die ziemlich texttreue Verfil­mung eines utopi­schen Romans des Portu­giesen José Saramágo. Über­ra­schend zeit­be­zogen wirkt die Handlung, die sich in die neue Konjunktur des Apoka­lyp­ti­schen fügt, die seit dem 11.9.2001 im Kino – etwa Children of Men von Cuaron, Boyles 28 Days Later, oder I Am Legend – und in der Literatur – Frank Schät­zings »Der Schwarm«, »Die Straße« von Cormac McCarthy – grassiert. In einer nicht näher bezeich­neten kosmo­po­li­ti­schen Metropole in naher Zukunft erblindet plötzlich ein Mann. Schnell kommt es zu weiteren Fällen, und es scheint klar, dass es sich um eine Massen­epi­demie handeln muss. Die Gesell­schaft schlägt zurück, und inter­niert die Erkrankten in einer Art Lager, wo sie weit­ge­hend sich selbst über­lassen sind. Julianne Moore spielt die einzige Sehende in dieser Gesell­schaft der Blinden, sie hatte sich aus Soli­da­rität mit ihrem Mann blind gestellt.
Blindness ist vor allem eine soziale Metapher, die in grellen Farben ausmalt, wie unter den sich selbst über­las­senen Ausge­schlos­senen die zivi­li­sa­to­ri­schen Schranken zusam­men­bre­chen, Sitte und Anstand vor die Hunde gehen. Ein – u.a. durch eine Massen­ver­ge­wal­ti­gung – scho­ckie­render, unge­wöhn­li­cher Eröff­nungs­film, der am Ende eine plötz­liche Kurve ins senti­men­tale Happy End nimmt – davor aber auf der Klaviatur verschie­denster Gefühle spielt.

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Meirelles' Film steht am Anfang eines Wett­be­werbs, dessen Kontur und Qualität noch vergleichs­weise unklar scheint. Nach dem über­ra­genden Jubiläums­fes­tival der großen Namen im vergan­genen Jahr, bietet Cannes 2008 mit Filmen der Dardenne-Brüder, Wenders und Clint Eastwoods zwar auch bekannte Altmeister, und mit Soder­bergh, Jia Zhang-ke, Lucrezia Martel und Deplechin Filme­ma­cher, die zum Inter­es­san­testen des Gegen­warts­kinos zählen, daneben aber auch viele Werke von Regis­seuren, die zunächst einem breiten Publikum unbekannt sind. Neues von Woody Allen, Steven Spielberg und Wong Kar-wai läuft außer Konkur­renz, während die Nebensek­tionen in diesem Jahr von der Papier­form her sich als Geheim­tipp entpuppen könnten, stärker wirken, als im Vorjahr.

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Über die Goldenen Palmen entscheidet dann Ende kommender Woche eine hoch­karä­tige Jury, die angeführt von Sean Penn vor allem durch Intel­li­genz und Frau­en­power imponiert: Die dänische Dogma-Regis­seurin Susanne Bier, die zuletzt noch der Berlinale abgesagt hatte, ist ebenso dabei wie Natalie Portman, die Iranerin Marjanne Satrapi und aus Deutsch­land Alexandra Maria Lara. »Ich bin geschmei­chelt, und will ein apoli­ti­scher Präsident sein«, verkün­dete der eigent­lich für sein poli­ti­sches Enga­ge­ment bekannte Penn gestern zum Auftakt. Taktische Zurück­hal­tung oder Über­zeu­gung? Mal sehen, ob er sich damit gegen seine Co-Juroren durch­setzen kann, und als wie blind sich die Jury am 25. Mai erweist.

Rüdiger Suchsland