23.05.2013
Kinos in München – Theatiner Filmkunst

Theatiner Filmkunst

Kinoeingang in der Theatiner-Passage
Im Original erhalten und heute denkmalgeschützt:
Die Theatiner Filmkunst, Baujahr 1956
(Foto: artechock)

Das Zelluloid-Kino in der Theatiner-Passage

Von Dunja Bialas

Das ohren­be­täu­bende Knattern der Projek­toren im Unter­ge­schoss des Theatiner-Kinos: bald wird es nicht mehr zu hören sein. Film­vor­führer Bernd Brehmer steht am Gerät, das die Filme zurück­spult und achtet darauf, dass er nicht das Ende des Zellu­loids verpasst. Denn wäre der Film zurück­ge­spult und würde er die Rolle nicht anhalten, dann würde der Film durch den Raum peitschen und sich selbst zerstören. Im über­tra­genen Sinne aber ist das Ende des Zellu­loids schon da: es sind die letzten Tage der 35mm-Vorfüh­rungen im Theatiner. Danach beginnt auch für das Kino aus den 50er Jahren das digitale Zeitalter. Die Umrüstung bedeutet für die Theatiner Filmkunst, wie das Theatiner korrekt heißt, weit mehr als nur die Digi­ta­li­sie­rung der Projek­tion. Sie markiert das Ende einer Ära.

Filmkunst

1957, als der Göttinger Walter Kirchner das erst ein Jahr alte Kino in der Thea­ti­ner­pas­sage übernahm, hieß es noch Film-Cabinett und spielte für die Nach­kriegs­deut­schen Farb- und Cine­ma­scope-Schinken aus der Traum­fa­brik Hollywood. Kirchner betrieb zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren den Film­ver­leih Neue Filmkunst. Er brachte Filme in Deutsch­land heraus, die im Dritten Reich verboten gewesen waren und füllte die weit klaf­fenden Lücken der Kino­ge­schichte. In seinem Reper­toire gab es den sowje­ti­schen Film der 20er Jahre wie Panzer­kreuzer Potemkin von Sergej Eisen­stein, Filme der Weimarer Zeit und frühe Avant­garde-Filme wie Ein anda­lu­si­scher Hund der Surrea­lit­sten Dalí und Bunuel. In den Folge­jahren wurde die Theatiner Filmkunst gleich­be­deu­tend für den europäi­schen Autoren­film und machte Gene­ra­tionen von Kino­gän­gern zu leiden­schaft­li­chen Cineasten. Hier waren die Filme der italie­ni­schen Neo-Realisten und der fran­zö­si­schen Nouvelle Vague zu sehen, die Kirchner in Pionier­leis­tung dem deutschen Publikum bekannt machte, meist im Original mit Unter­ti­teln. Kirchner hat als Film­ver­leiher Geschichte gemacht: In einer Zeit, in der vor allem Heimat­filme und Komödien die Kinosäle füllten, ließ er das deutsche Kino­pu­blikum vom Geist der neuen Kino­be­we­gungen in Italien, Frank­reich oder Spanien anstecken.

Film­vor­führer Bernd Brehmer am Umspuler

Um jetzt das Theatiner mit der digitalen Umrüstung nicht ganz von der Filmkunst abzu­schneiden, wurde dafür gesorgt, dass die zwei großen Kinoton-FP-35-Projek­toren aus den 60er Jahren im engen Vorführ­raum verbleiben können, erzählt Bernd. Man kann von Glück sagen, dass Marlies Kirchner, die seit 1975 das Theatiner alleine führt, so lange mit der Digi­ta­li­sie­rung gewartet hat. Heute sind die 2K-Projek­toren weitaus kleiner als noch vor einigen Jahren, als sie wie riesige Raum­schiffe in den Vorführ­räumen landeten und die Film-Projek­toren verdrängten. Das neue digitale Gerät findet gerade noch Platz zwischen den Analog-Projek­toren. Einiges im Vorführ­raum wird dennoch in einen von der tech­ni­schen Entwick­lung herbei­ge­führten Dorn­rö­schen­schlaf fallen: der schon erwähnte Umspuler, die aufrecht stehenden Kopi­en­kästen aus Holz, die Klebe­pressen, der Film­vor­führer.

Vorführ­kunst

Auf meine Frage hin, was er denn dann als Film­vor­führer machen würde, sagt Bernd so auch ganz spontan: »Schlafen!« Und fügt hinzu: »Was einst ein Beruf war, verschwindet komplett.« Er als Vorführer mit dem Wissen, wie man eine Vorstel­lung gut durch­führt durch exaktes Scharf­stellen und unmerk­bare Über­blen­dung, der auch fähig ist, einen geris­senen Film in Windes­eile wieder lauffähig zu machen und sich auskennt, wenn es um den Zustand und die Restau­rie­rung von Kopien geht, habe künftig nichts mehr zu tun. »Es geht dann nur noch darum, den Film auf den Server einzu­speisen. Aber auch das geht auto­ma­tisch, über Nacht.«

Bislang wurden mittwochs die Kopien für die kommende Filmwoche herge­richtet, vor der Vorstel­lung drei Akte umfas­sende Film­rollen auf die Projek­toren gewuchtet und während der Vorfüh­rung einmal auf den zweiten Projektor über­blendet. Nach der Vorstel­lung wurde dann noch der Film auf Anfang gespult, wie gerade jetzt. In Zukunft werde man sich in das tech­ni­sche Fein­tu­ning des Digi­tal­geräts einar­beiten und sich schon mal auf kompli­zierte Fehler­be­he­bungen gefasst machen müssen. »Klar wird auch das Personal im Kino weniger werden, dann werden die Vorführer zu Süßig­kei­ten­ver­käu­fern und Karten­ab­reißern«, ätzt Bernd und fügt hinzu: »Das ist alles wahn­sinnig traurig.«

Während wir über das Verschwinden eines Berufs sinnieren, der vor 100 Jahren sogar noch ein echter Ausbil­dungs­beruf war, und dabei Abschied nehmen vom Zelluloid, sehe ich durch die offen­ste­henden Fens­ter­luken die Beine der Passanten, die bei dem nass­kalten Mai-Wetter durch die Thea­ti­ner­pas­sage eilen. Ein Ausblick wie in Vivement dimanche, als Fanny Ardent für den im Unter­ge­schoss einge­sperrten Jean-Louis Trin­tignant vor dem Keller­fenster auf- und abgeht und dabei ihre Beine zeigt. Eine der schönsten Szenen des fran­zö­si­schen Autoren­kinos und die bezau­berndste in François Truffauts letztem Film. Solche Erin­ne­rungen an die zu Klas­si­kern gewor­denen Filme Frank­reichs drängen sich hier geradezu auf, an dem Ort, wo ihre Kopien abge­spielt wurden. Über eine steile Treppe verlasse ich den Vorführ­raum.

Plakat­kunst

Vor dem Kino steht Klaus Fuchs­berger und erneuert die Aushänge: Film­stills, Kritiken, Anfangs­zeiten, alles wechselt wöchent­lich. Über dem Eingang des Kinos prangt in leuch­tendem Neongelb der in Schreib­schrift gehaltene Schriftzug des Kinos: »Theatiner Filmkunst«. Drinnen im Eingangs­foyer befindet sich ein Kassen­häu­schen. Wie an den Bahnhöfen früher ist es durch ein kleines Geländer abge­schirmt, das bei großem Gedränge die Massen abhält. Hinter der Sprech­klappe, die sich im Fenster öffnet, sitzt heute die Chefin persön­lich und verkauft die Eintritts­karten von der Rolle. Grün für die mittleren Plätze, weiß für die billigen Plätze der Reihen 1-9. Marlies Kirchner, über 80, strömt Intel­li­genz und Eleganz aus und ist dabei ganz agil. Früher fuhr sie noch auf die Film­fest­spiele in Cannes, die gerade statt­finden, heute ist ihr das zu turbulent. In Cannes aber hat für sie einst alles ange­fangen, zunächst als Über­set­zerin, dann als Film­ein­käu­ferin für ihren Mann. Die Filme aus dem fran­zö­si­schen, italie­ni­schen und spanisch­spra­chigen Arthouse, die sie heute spielt, bekommt sie aus dem Verlei­h­an­gebot, wobei viele Filme allein deshalb einen deutschen Verleih finden, weil es Abspielstätten wie das Theatiner in München gibt. Aktuell läuft bei Frau Kirchner Eine Dame aus Paris, ein Film mit der inzwi­schen 85-jährigen Jeanne Moreau.

Das Eingangs­foyer ist ringsum mit Film­pla­katen aus dem Verleih Neue Filmkunst beklebt. Noch etwas, mit dem Walter Kirchner Geschichte geschrieben hat: Er ließ von Isolde Baumgart und Hans Hillmann zu jedem Film, den er in Deutsch­land heraus­brachte, graphi­sche Plakate entwerfen. Heute gibt es zahl­reiche Ausstel­lungen über die Plakat­kunst Hillmanns, noch bis September ist eine Auswahl seiner Plakate im Museum Folkwang in Essen zu sehen. Die Ankün­di­gungen von Letztes Jahr in Marienbad, Sansho Dayu oder Mouchette lassen ohne Umschweife nost­al­gisch werden. Marlies Kirchner selbst steckt nicht in der Nostalgie-Falle. Seit fast vierzig Jahren hat sie ihr Leben dem Kino verschrieben, hat Filme kommen und gehen sehen, gute und schlechte Kinojahre erlebt, Filme gespielt, die sie liebte und solche, die Geld in die Kassen spülte. Wie Ziemlich beste Freunde, der letztes Jahr fast 100 Spieltage lang für ein volles Kino gesorgt hat.

Lebens­kunst

Über eine groß­zü­gige Treppe gelangt man in den eigent­li­chen Foyer­be­reich im Unter­ge­schoss. Hier gibt es wie im oberen Eingangs­be­reich an den Wänden ausla­dende Spiegel, vor denen in den 50er Jahren der korrekte Sitz von Teller- und Blei­stift­rock und Anzug und Krawatte überprüft wurde, während man auf den Einlass in den Kinosaal wartete. Eine kleine Theke hält Süßig­keiten, Getränke und selbst­ge­brühten Filter­kaffee bereit. Das Foyer hat einen ganz eigenen Geruch, eine Mischung aus Linoleum und Holz­ver­tä­fe­lung. Durch eine Flügeltür und einen schweren Samt­vor­hang gelangt man in den Kinosaal mit seinen Sesseln aus hellem Ahornholz und dunklen Samt­pols­tern. Seitlich gibt es eine kleine Galerie, wo man leicht erhöht sitzt, was eine gewisse Exklu­si­vität ausströmt, auch wenn man von hier aus gar nicht so gut auf die Leinwand sieht. Im Saal gibt es etwas mehr als 160 Plätze, auf denen man aufrecht sitzen sollte, wie in den 60er Jahren. Lümmeln und wie überhaupt allzu lässiges Benehmen erscheint im Theatiner irgendwie nicht ange­bracht. Die Atmo­sphäre, die einem mit dem Betreten des Film­thea­ters umfängt, lässt einen aber ohnehin die Welt von draußen vergessen: Das denk­mal­ge­schützte Kino ist wie ein archi­tek­to­ni­scher und cine­as­ti­scher Gruß aus einer goldenen Zeit.

Die Digi­ta­li­sie­rung, so erzählt Frau Kirchner, stand für sie plötzlich fest und wurde ganz schnell durch­ge­führt. Dabei zeigt sie auf ein Plakat. Es ist die Ankün­di­gung von Après mai, auf deutsch Die wilde Zeit von Olivier Assayas. »Dieser Film war nur noch digital erhält­lich. Und einen Assayas nicht spielen können, das geht doch nicht!« Ihr hatten die Verleiher sogar angeboten, eigens eine 35mm-Kopie für das Theatiner zu ziehen, aber was hätte sie mit all den anderen Filmen machen sollen, die sie außerdem spielen will? Dann wurden dem Theatiner wiederum die guten Eintritts­zahlen zum Verhängnis: es ist zu gut besucht, um FFA-Förder­gelder für die digitale Umrüstung zu beziehen. »Ich mag digital nicht«, gibt Frau Kirchner unum­wunden zu. Sie wird immer Film­ma­te­rial vorführen, soweit das möglich ist. So freut sie sich schon auf den nächsten Zelluloid-Film, der angeboten wird, Laurence Anyways von Xavier Dolan. »Das ist ein toller Film!« Sie blickt freudig auf die Besucher im Foyer, die sich jetzt die Vorstel­lung von Madame de... ausge­sucht haben, ein Film aus dem Neue-Filmkunst-Reper­toire. Sie selbst könne nicht in ihr eigenes Kino gehen, da würde sie viel zu sehr darauf achten, dass alles perfekt ist, für die Zuschauer. Manchmal aber lässt sie sich einen Film einlegen, wenn gerade keine Vorstel­lung ist.

Wie wird es mit dem Theatiner weiter­gehen? Und wie sieht es mit einer Nachfolge aus? Die hellwache Frau Kirchner so etwas zu fragen, deren Augen hinter der runden Brille aufblitzen und die immer wieder erstrahlt, wenn sie von ihrem Kino spricht, verbietet sich. Bernd Brehmer, der seit Jahren für Frau Kirchner arbeitet und sie wohl am besten kennt, meint, jetzt wieder ganz launig: »Ach, sie würde bestimmt sagen: Das machen die schon!«

Filme werden fürs Kino gemacht, hieß es mal in einer Kampagne. Weil dies im Zeitalter von DVD und erhöhten Kino­mieten mehr denn je keine Selbst­ver­s­tänd­lich­keit mehr ist, stellen wir hier besondere Kinos in München vor, die unbedingt einen Besuch wert sind.

Literatur zur Geschichte der Münchner Kinos:

  • »Für ein Zehnerl ins Paradies – Münchner Kino­ge­schichte 1896 bis 1945«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 247 Seiten, € 59
  • »Neue Paradiese für Kinosüch­tige – Münchner Kino­ge­schichte 1945 bis 2007«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 368 Seiten, € 42
  • »Das Münchner Film- und Kinobuch – Die Biogra­phie der Filmstadt München«, hg. v. Eberhard Hauff, Edition Acht­ein­halb, 1988, 303 Seiten, anti­qua­risch
  • »Hollywood in Neuhausen«, Band 1: Glanz und Nieder­gang der Kinos im Münchner Westen, hg. Geschichts­werk­statt Neuhausen, anti­qua­risch
  • »Hollywood in Neuhausen«, Band 2: Die Stumm­film­zeit aus der Sicht eines Münchner Stadt­teils, hg. Geschichts­werk­statt Neuhausen, anti­qua­risch
  • »Nie bedeutend ...aber immer noch da – Das Arena – 100 Jahre Kino in der Hans-Sachs-Straße 7«, von Winfried Sembdner, hg. v. Arena Film­theater Betrieb­sGmbH, jezza! Verlag, 96 Seiten, € 10
  • »Wir feiern 100 Jahre Film­theater Send­linger Tor – Eine Kino­ge­schichte. Die Chronik zu 100 Jahrn Film­theater Send­linger Tor«, von Gabriele Jofer, Hrsg. Film­theater Send­linger Tor GmbH. Erhält­lich an der Kinokasse

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Ausstel­lung zur Plakat­kunst von Hans Hillmann für die Neue Filmkunst Walter Kirchner: »Der Titel wird im Bild fort­ge­setzt«, Museum Folkwang, Essen, noch bis 1. September 2013

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Mit freund­li­cher Unter­s­tüt­zung durch das Kultur­re­ferat München