Kinos in München – Theatiner Filmkunst
Theatiner Filmkunst |
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Im Original erhalten und heute denkmalgeschützt: Die Theatiner Filmkunst, Baujahr 1956 |
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(Foto: artechock) |
Von Dunja Bialas
Das ohrenbetäubende Knattern der Projektoren im Untergeschoss des Theatiner-Kinos: bald wird es nicht mehr zu hören sein. Filmvorführer Bernd Brehmer steht am Gerät, das die Filme zurückspult und achtet darauf, dass er nicht das Ende des Zelluloids verpasst. Denn wäre der Film zurückgespult und würde er die Rolle nicht anhalten, dann würde der Film durch den Raum peitschen und sich selbst zerstören. Im übertragenen Sinne aber ist das Ende des Zelluloids schon da: es sind die letzten Tage der 35mm-Vorführungen im Theatiner. Danach beginnt auch für das Kino aus den 50er Jahren das digitale Zeitalter. Die Umrüstung bedeutet für die Theatiner Filmkunst, wie das Theatiner korrekt heißt, weit mehr als nur die Digitalisierung der Projektion. Sie markiert das Ende einer Ära.
1957, als der Göttinger Walter Kirchner das erst ein Jahr alte Kino in der Theatinerpassage übernahm, hieß es noch Film-Cabinett und spielte für die Nachkriegsdeutschen Farb- und Cinemascope-Schinken aus der Traumfabrik Hollywood. Kirchner betrieb zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren den Filmverleih Neue Filmkunst. Er brachte Filme in Deutschland heraus, die im Dritten Reich verboten gewesen waren und füllte die weit klaffenden Lücken der Kinogeschichte. In seinem Repertoire gab es den sowjetischen Film der 20er Jahre wie Panzerkreuzer Potemkin von Sergej Eisenstein, Filme der Weimarer Zeit und frühe Avantgarde-Filme wie Ein andalusischer Hund der Surrealitsten Dalí und Bunuel. In den Folgejahren wurde die Theatiner Filmkunst gleichbedeutend für den europäischen Autorenfilm und machte Generationen von Kinogängern zu leidenschaftlichen Cineasten. Hier waren die Filme der italienischen Neo-Realisten und der französischen Nouvelle Vague zu sehen, die Kirchner in Pionierleistung dem deutschen Publikum bekannt machte, meist im Original mit Untertiteln. Kirchner hat als Filmverleiher Geschichte gemacht: In einer Zeit, in der vor allem Heimatfilme und Komödien die Kinosäle füllten, ließ er das deutsche Kinopublikum vom Geist der neuen Kinobewegungen in Italien, Frankreich oder Spanien anstecken.
Filmvorführer Bernd Brehmer am Umspuler
Um jetzt das Theatiner mit der digitalen Umrüstung nicht ganz von der Filmkunst abzuschneiden, wurde dafür gesorgt, dass die zwei großen Kinoton-FP-35-Projektoren aus den 60er Jahren im engen Vorführraum verbleiben können, erzählt Bernd. Man kann von Glück sagen, dass Marlies Kirchner, die seit 1975 das Theatiner alleine führt, so lange mit der Digitalisierung gewartet hat. Heute sind die 2K-Projektoren weitaus kleiner als noch vor einigen Jahren, als sie wie riesige Raumschiffe in den Vorführräumen landeten und die Film-Projektoren verdrängten. Das neue digitale Gerät findet gerade noch Platz zwischen den Analog-Projektoren. Einiges im Vorführraum wird dennoch in einen von der technischen Entwicklung herbeigeführten Dornröschenschlaf fallen: der schon erwähnte Umspuler, die aufrecht stehenden Kopienkästen aus Holz, die Klebepressen, der Filmvorführer.
Auf meine Frage hin, was er denn dann als Filmvorführer machen würde, sagt Bernd so auch ganz spontan: »Schlafen!« Und fügt hinzu: »Was einst ein Beruf war, verschwindet komplett.« Er als Vorführer mit dem Wissen, wie man eine Vorstellung gut durchführt durch exaktes Scharfstellen und unmerkbare Überblendung, der auch fähig ist, einen gerissenen Film in Windeseile wieder lauffähig zu machen und sich auskennt, wenn es um den Zustand und die Restaurierung von Kopien geht, habe
künftig nichts mehr zu tun. »Es geht dann nur noch darum, den Film auf den Server einzuspeisen. Aber auch das geht automatisch, über Nacht.«
Bislang wurden mittwochs die Kopien für die kommende Filmwoche hergerichtet, vor der Vorstellung drei Akte umfassende Filmrollen auf die Projektoren gewuchtet und während der Vorführung einmal auf den zweiten Projektor überblendet. Nach der Vorstellung wurde dann noch der Film auf Anfang gespult, wie gerade jetzt. In Zukunft werde man
sich in das technische Feintuning des Digitalgeräts einarbeiten und sich schon mal auf komplizierte Fehlerbehebungen gefasst machen müssen. »Klar wird auch das Personal im Kino weniger werden, dann werden die Vorführer zu Süßigkeitenverkäufern und Kartenabreißern«, ätzt Bernd und fügt hinzu: »Das ist alles wahnsinnig traurig.«
Während wir über das Verschwinden eines Berufs sinnieren, der vor 100 Jahren sogar noch ein echter Ausbildungsberuf war, und dabei Abschied nehmen vom Zelluloid, sehe ich durch die offenstehenden Fensterluken die Beine der Passanten, die bei dem nasskalten Mai-Wetter durch die Theatinerpassage eilen. Ein Ausblick wie in Vivement dimanche, als Fanny Ardent für den im Untergeschoss eingesperrten Jean-Louis Trintignant vor dem Kellerfenster auf- und abgeht und dabei ihre Beine zeigt. Eine der schönsten Szenen des französischen Autorenkinos und die bezauberndste in François Truffauts letztem Film. Solche Erinnerungen an die zu Klassikern gewordenen Filme Frankreichs drängen sich hier geradezu auf, an dem Ort, wo ihre Kopien abgespielt wurden. Über eine steile Treppe verlasse ich den Vorführraum.
Vor dem Kino steht Klaus Fuchsberger und erneuert die Aushänge: Filmstills, Kritiken, Anfangszeiten, alles wechselt wöchentlich. Über dem Eingang des Kinos prangt in leuchtendem Neongelb der in Schreibschrift gehaltene Schriftzug des Kinos: »Theatiner Filmkunst«. Drinnen im Eingangsfoyer befindet sich ein Kassenhäuschen. Wie an den Bahnhöfen früher ist es durch ein kleines Geländer abgeschirmt, das bei großem Gedränge die Massen abhält. Hinter der Sprechklappe, die sich im Fenster öffnet, sitzt heute die Chefin persönlich und verkauft die Eintrittskarten von der Rolle. Grün für die mittleren Plätze, weiß für die billigen Plätze der Reihen 1-9. Marlies Kirchner, über 80, strömt Intelligenz und Eleganz aus und ist dabei ganz agil. Früher fuhr sie noch auf die Filmfestspiele in Cannes, die gerade stattfinden, heute ist ihr das zu turbulent. In Cannes aber hat für sie einst alles angefangen, zunächst als Übersetzerin, dann als Filmeinkäuferin für ihren Mann. Die Filme aus dem französischen, italienischen und spanischsprachigen Arthouse, die sie heute spielt, bekommt sie aus dem Verleihangebot, wobei viele Filme allein deshalb einen deutschen Verleih finden, weil es Abspielstätten wie das Theatiner in München gibt. Aktuell läuft bei Frau Kirchner Eine Dame aus Paris, ein Film mit der inzwischen 85-jährigen Jeanne Moreau.
Das Eingangsfoyer ist ringsum mit Filmplakaten aus dem Verleih Neue Filmkunst beklebt. Noch etwas, mit dem Walter Kirchner Geschichte geschrieben hat: Er ließ von Isolde Baumgart und Hans Hillmann zu jedem Film, den er in Deutschland herausbrachte, graphische Plakate entwerfen. Heute gibt es zahlreiche Ausstellungen über die Plakatkunst Hillmanns, noch bis September ist eine Auswahl seiner Plakate im Museum Folkwang in Essen zu sehen. Die Ankündigungen von Letztes Jahr in Marienbad, Sansho Dayu oder Mouchette lassen ohne Umschweife nostalgisch werden. Marlies Kirchner selbst steckt nicht in der Nostalgie-Falle. Seit fast vierzig Jahren hat sie ihr Leben dem Kino verschrieben, hat Filme kommen und gehen sehen, gute und schlechte Kinojahre erlebt, Filme gespielt, die sie liebte und solche, die Geld in die Kassen spülte. Wie Ziemlich beste Freunde, der letztes Jahr fast 100 Spieltage lang für ein volles Kino gesorgt hat.
Über eine großzügige Treppe gelangt man in den eigentlichen Foyerbereich im Untergeschoss. Hier gibt es wie im oberen Eingangsbereich an den Wänden ausladende Spiegel, vor denen in den 50er Jahren der korrekte Sitz von Teller- und Bleistiftrock und Anzug und Krawatte überprüft wurde, während man auf den Einlass in den Kinosaal wartete. Eine kleine Theke hält Süßigkeiten, Getränke und selbstgebrühten Filterkaffee bereit. Das Foyer hat einen ganz eigenen Geruch, eine Mischung aus Linoleum und Holzvertäfelung. Durch eine Flügeltür und einen schweren Samtvorhang gelangt man in den Kinosaal mit seinen Sesseln aus hellem Ahornholz und dunklen Samtpolstern. Seitlich gibt es eine kleine Galerie, wo man leicht erhöht sitzt, was eine gewisse Exklusivität ausströmt, auch wenn man von hier aus gar nicht so gut auf die Leinwand sieht. Im Saal gibt es etwas mehr als 160 Plätze, auf denen man aufrecht sitzen sollte, wie in den 60er Jahren. Lümmeln und wie überhaupt allzu lässiges Benehmen erscheint im Theatiner irgendwie nicht angebracht. Die Atmosphäre, die einem mit dem Betreten des Filmtheaters umfängt, lässt einen aber ohnehin die Welt von draußen vergessen: Das denkmalgeschützte Kino ist wie ein architektonischer und cineastischer Gruß aus einer goldenen Zeit.
Die Digitalisierung, so erzählt Frau Kirchner, stand für sie plötzlich fest und wurde ganz schnell durchgeführt. Dabei zeigt sie auf ein Plakat. Es ist die Ankündigung von Après mai, auf deutsch Die wilde Zeit von Olivier Assayas. »Dieser Film war nur noch digital erhältlich. Und einen Assayas nicht spielen können, das geht doch nicht!« Ihr hatten die Verleiher sogar angeboten, eigens eine 35mm-Kopie für das Theatiner zu ziehen, aber was hätte sie mit all den anderen Filmen machen sollen, die sie außerdem spielen will? Dann wurden dem Theatiner wiederum die guten Eintrittszahlen zum Verhängnis: es ist zu gut besucht, um FFA-Fördergelder für die digitale Umrüstung zu beziehen. »Ich mag digital nicht«, gibt Frau Kirchner unumwunden zu. Sie wird immer Filmmaterial vorführen, soweit das möglich ist. So freut sie sich schon auf den nächsten Zelluloid-Film, der angeboten wird, Laurence Anyways von Xavier Dolan. »Das ist ein toller Film!« Sie blickt freudig auf die Besucher im Foyer, die sich jetzt die Vorstellung von Madame de... ausgesucht haben, ein Film aus dem Neue-Filmkunst-Repertoire. Sie selbst könne nicht in ihr eigenes Kino gehen, da würde sie viel zu sehr darauf achten, dass alles perfekt ist, für die Zuschauer. Manchmal aber lässt sie sich einen Film einlegen, wenn gerade keine Vorstellung ist.
Wie wird es mit dem Theatiner weitergehen? Und wie sieht es mit einer Nachfolge aus? Die hellwache Frau Kirchner so etwas zu fragen, deren Augen hinter der runden Brille aufblitzen und die immer wieder erstrahlt, wenn sie von ihrem Kino spricht, verbietet sich. Bernd Brehmer, der seit Jahren für Frau Kirchner arbeitet und sie wohl am besten kennt, meint, jetzt wieder ganz launig: »Ach, sie würde bestimmt sagen: Das machen die schon!«
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Ausstellung zur Plakatkunst von Hans Hillmann für die Neue Filmkunst Walter Kirchner: »Der Titel wird im Bild fortgesetzt«, Museum Folkwang, Essen, noch bis 1. September 2013
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Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturreferat München