19.02.2015
65. Berlinale 2015

Die Berlinale als Start­rampe, das war einmal

Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern
Großartiges Kino im »Panorama«: Stina Werenfels' Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Berlinale grundsätzlich: Zur ersten Bilanz, die wir spontan am Sonntag in Folge 15 gezogen haben, gibt es noch einiges zu ergänzen – Rüdiger Suchsland Berlinale-Tagebuch (17)

Von Rüdiger Suchsland

Beginnen wir mit Grund­sätz­li­chem: Diese Berlinale war im Wett­be­werbs­pro­gramm quali­tativ besser als die vorhe­rigen. Diese Aussage bezieht sich auf den Durch­schnitt der Filme. Der Wett­be­werb war zugleich aber auch lang­wei­liger. Alles war erwartbar, es gab keine echten Über­ra­schungen. Die Filme waren »anständig« und »gut gemacht«, was eines der blödesten Dinge ist, die man zu einem Wett­be­werb dieses (theo­re­ti­schen) Niveaus sagen kann. Klar gab es ein paar Filme, die waren weniger gut, auch weniger gut gemacht. Aber es gab nichts Albernes, keine Kata­stro­phen, sieht man einmal von dem Herzog-Film ab, bei dem die Fallhöhe (jeden­falls die vermeint­liche) so gigan­tisch war.
Weil alles so durch­schnitt­lich war, wurde Victoria, Sebastian Schippers zwei­fellos schöner, zwei­fellos nicht fehler­freier Film, in der Wahr­neh­mung zu einem Höhepunkt. In Cannes oder Venedig wäre Victoria – ohne hier jemandem zu nahe treten zu wollen – ein anstän­diger, aber nicht heraus­ra­gender Beitrag gewesen, in Cannes wäre er aber wahr­schein­lich nur in eine Nebensek­tion gekommen.

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Der mit Abstand beste Film des Wett­be­werbs wurde nicht als solcher wahr­ge­nommen – was nichts über den Film erzählt, aber alles über Berlin und jenen Teil des profes­sio­nellen Publikums, der noch hierher kommt. Knight of Cups hat es schwer, ist angreifbar, vor allem weil ein gewisser, wichtiger Teil unter den weib­li­chen Kritikern, sich mitt­ler­weile entschlossen hat, Malick nicht mehr ernst­zu­nehmen, und ihm Frau­en­feind­lich­keit vorzu­werfen.
Knight of Cups ist meiner Ansicht nach ein groß­ar­tiger Film. Der wahr­schein­lich beste Berliner Wett­be­werbs­film seit sehr vielen Jahren. Man muss ihn trotzdem nicht gut finden. So wie dies für mich genau das ist, was ich (unter anderem) am Kino liebe und vom Kino erwarte, und Knight of Cups daher so ein Ereignis von der Art ist, weswegen sich trotz allem Nervigen der Berlinale der Besuch noch lohnt und das im Meer all der letzt­end­lich lang­wei­ligen, sich wieder­ho­lenden Filme, die man als Film­kri­tiker so wegguckt, einen jener zwanzig, dreißig Glücks­mo­mente pro Jahr bedeutet (und sogar unter jenen einen Höhepunkt), so geht es anderen anders. Da ist der Streit inter­es­sant, produktiv, wichtig, weil es ein Streit ist darüber, welches Kino man will. Aber eine Kritik, die sich im Ernst darüber aufregt, dass Frauen da leicht­be­kleidet rumlaufen, mehr als einmal am Strand gefilmt werden und auch noch gut aussehen, die ist mir zu dämlich.

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Cannes, Venedig, pille­palle? Wer Dieter Kosslick glaubt, dass ihn die Festi­val­kon­kur­renz nicht inter­es­siert, der ist naiv. Sie ist Kosslick nur derart weit enteilt, dass er sich dem direkten Vergleich gar nicht mehr stellen will. Aber er zeigt Wirkung: Seine blöden Witze über Cannes-Chef Thierry Frémaux bei der Abschluß­gala sprechen Bände. Wäre er souverän, würde er gar nicht drüber reden. Und dass er in Inter­views selbst sagt, die Berlinale wäre nur an dritter Stelle, ist ein Armuts­zeugnis, keine weise Einsicht.

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Dieter Kosslick ist unfähig, wie vor wenigen Jahren noch die inter­es­santen US-ameri­ka­ni­schen Premieren nach Berlin zu holen. Nehmen wir ein paar Beispiele: Inherent Vice von Paul Thomas Anderson startet in der Berlinale-Woche. Anderson hat immerhin schon mal einen Goldenen Bär gewonnen und war noch 2007 hier mit There Will Be Blood – zugegeben: Ich finde Inherent Vice eindeutig schlechter als diese beiden Filme. Der Berlinale hätten sie trotzdem gut ange­standen, mindes­tens außer Konkur­renz. Oder Clint Eastwoods American Sniper. Oder Michael Manns Blackhat. Oder selbst Jupiter Ascending von den Wachow­skis. Alles star­be­setztes US-Kino auf oft höherem, mindes­tens zeigbarem Niveau, das in den Wochen der Berlinale startet oder wie Eastwood direkt danach.
Nichts davon in Berlin – die Berlinale als Start­rampe, das war einmal.

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Wett­be­werb, Wett­be­werb, Wett­be­werb – das ist doch nicht alles, oder? Nein, ist es nicht. Nur ist der Wett­be­werb am Ende des Tages das – und zwar das Einzige – an dem so ein Festival gemessen wird. Das Gerede vom »Publi­kums­fes­tival« glauben zwar selbst noch die armen Menschen, die nach fünf Stunden Schlage stehen keine Karte mehr bekommen haben – wahr wird es dadurch nicht.
Die Nebensek­tionen der Berlinale sind alles zugleich: Grab­bel­kiste des Publikums, Ausweich­orte um sich von der poli­ti­schen Korrekt­heit, dem beflis­senen Abhaken deutsch-mitfi­nan­zierter Welt­pro­duk­tionen mit seinen ganzen so großen wie selten erfüllten Behaup­tungen zu erholen. Sie sind Nischen, in denen man zeigt, was man zeigen muss, Bereiche abdeckt, und vor allem Gründe Karten zu verkaufen.

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Rund 380 Filme laufen in den insgesamt vierzehn Neben- und Unter­sek­tionen jenseits des Wett­be­werbs, also mehr Filme, als in Cannes und Venedig zusammen – insgesamt ein nicht zu recht­fer­ti­gender Overkill, ein über­füllter, eng zuge­stellter Kino-Super­markt. Der einzelne Film sollte unter diesem Urteil aber nicht leiden, denn natürlich findet man hier inter­es­santes, groß­ar­tiges Kino.
Die mit Abstand beste Berlinale-Sektion ist das »Panorama«. Die einzige Sektion, die ein klar erkenn­bares Profil hat. An dem man sich natürlich reiben kann, reiben soll. Eben Profil. Man weiß, was man bekommt, und die Zeiten, als das Panorama die Abfall­kiste des Wett­be­werbs war, sind lange vorbei.
Dort lief der sehr sehens­werte Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern, eine deutsch-schweizer Produk­tion von Stina Werenfels: Lars Eidinger und Jenny Schily spielen die Haupt­rollen in dem Film, der von einer acht­zehn­jäh­rigen geistig Behin­derten erzählt, die nach dem Absetzen der Psycho­phar­maka aus ihrem sexuellen Dorn­rö­schen­schlaf erwacht. Aber kann eine Behin­derte überhaupt frei entscheiden? Kennt sie ihre Wünsche und Gelüste? Oder lässt sie sich miss­brau­chen? Dora... hat das Zeug zum echten Skandal, vor allem weil es an unsere kultu­rellen Tabus rührt.
Atem­be­rau­bend und einer der besten Filme überhaupt auf der dies­jäh­rigen Berlinale war Iraqi Odyssey. Der aus Bagdad stammende Schweizer Samir erzählt zwar scheinbar nur sehr liebevoll von seiner Familie, doch dabei erzählt er auch vom sehr beson­deren iraki­schen 20. Jahr­hun­dert, von der Liebe: zum Kommu­nismus, zur Freiheit. Und vom Bösen: der Tyrannei der Kolo­ni­al­mächte, der Religion, der Diktatur und des Geldes, die den Irak in den letzten 50 Jahren ins Mittel­alter zurück­ge­bombt haben.
Dieser trotz aller Schick­sals­härte fröhliche Film zeigt einen Irak von Außen, vom Exil aus zusam­men­ge­setzt aus Erin­ne­rungen, Bildern, Frag­menten der Diaspora unter der Hand eine sehr orien­ta­li­sches Mosaik, nost­al­gie­satt etwa durch die alte Musik.

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Das Forum ist dagegen nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein Schatten des Wett­be­werbs im Übrigen auch. Keine echte Differenz, keine erkenn­bare kura­to­ri­sche Hand­schrift. Lange­weile, auch unter denen, die hier immer noch alles gucken. Mit einem viel zu vorher­seh­baren, nicht mehr wie früher heraus­for­dernden Programm rutscht das Forum in den letzten Jahren in eine Krise.
Mit den Mitter­nachts­vor­stel­lungen hat man hier ein Stück Kino­kultur ohne Not gekillt – ausge­rechnet als »Kiezkino« versucht Kosslick diese Idee wieder­zu­be­leben. Alles Genrekino hat man hier auch schon längst verbannt, mit dem »Forum Expanded«, das weit entfernt vom Berlinale-Zentrum und den Forums­kinos statt­findet, ist alles radikale Kunstkino aus der Berlinale ausge­la­gert. Nicht »Forum Expanded« sollte die Sektion heißen, sondern »Forum in Exile«.

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Und spricht es nicht Bände, dass das Ehepaar Erika und Ulrich Gregor, die Gründer des Forums, sich dort kaum noch blicken lassen, aber dafür bei der Berlinale-unab­hän­gigen »Woche der Kritik« auf einem Debat­ten­po­dium saßen?