65. Berlinale 2015
Die Berlinale als Startrampe, das war einmal |
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Großartiges Kino im »Panorama«: Stina Werenfels' Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern | ||
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
Beginnen wir mit Grundsätzlichem: Diese Berlinale war im Wettbewerbsprogramm qualitativ besser als die vorherigen. Diese Aussage bezieht sich auf den Durchschnitt der Filme. Der Wettbewerb war zugleich aber auch langweiliger. Alles war erwartbar, es gab keine echten Überraschungen. Die Filme waren »anständig« und »gut gemacht«, was eines der blödesten Dinge ist, die man zu einem Wettbewerb dieses (theoretischen) Niveaus sagen kann. Klar gab es ein paar Filme, die waren
weniger gut, auch weniger gut gemacht. Aber es gab nichts Albernes, keine Katastrophen, sieht man einmal von dem Herzog-Film ab, bei dem die Fallhöhe (jedenfalls die vermeintliche) so gigantisch war.
Weil alles so durchschnittlich war, wurde Victoria, Sebastian Schippers zweifellos schöner, zweifellos nicht fehlerfreier Film, in der Wahrnehmung zu einem Höhepunkt. In Cannes oder
Venedig wäre Victoria – ohne hier jemandem zu nahe treten zu wollen – ein anständiger, aber nicht herausragender Beitrag gewesen, in Cannes wäre er aber wahrscheinlich nur in eine Nebensektion gekommen.
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Der mit Abstand beste Film des Wettbewerbs wurde nicht als solcher wahrgenommen – was nichts über den Film erzählt, aber alles über Berlin und jenen Teil des professionellen Publikums, der noch hierher kommt. Knight of Cups hat es schwer, ist angreifbar, vor allem weil ein gewisser, wichtiger Teil unter den weiblichen Kritikern, sich mittlerweile entschlossen hat, Malick nicht
mehr ernstzunehmen, und ihm Frauenfeindlichkeit vorzuwerfen.
Knight of Cups ist meiner Ansicht nach ein großartiger Film. Der wahrscheinlich beste Berliner Wettbewerbsfilm seit sehr vielen Jahren. Man muss ihn trotzdem nicht gut finden. So wie dies für mich genau das ist, was ich (unter anderem) am Kino liebe und vom Kino erwarte, und Knight of Cups daher so ein Ereignis von der Art ist, weswegen sich trotz allem Nervigen der Berlinale der Besuch noch lohnt und das im Meer all der letztendlich langweiligen, sich wiederholenden Filme, die man als Filmkritiker so wegguckt, einen jener zwanzig, dreißig Glücksmomente pro Jahr bedeutet (und sogar unter jenen einen Höhepunkt), so geht es anderen anders. Da ist der Streit interessant,
produktiv, wichtig, weil es ein Streit ist darüber, welches Kino man will. Aber eine Kritik, die sich im Ernst darüber aufregt, dass Frauen da leichtbekleidet rumlaufen, mehr als einmal am Strand gefilmt werden und auch noch gut aussehen, die ist mir zu dämlich.
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Cannes, Venedig, pillepalle? Wer Dieter Kosslick glaubt, dass ihn die Festivalkonkurrenz nicht interessiert, der ist naiv. Sie ist Kosslick nur derart weit enteilt, dass er sich dem direkten Vergleich gar nicht mehr stellen will. Aber er zeigt Wirkung: Seine blöden Witze über Cannes-Chef Thierry Frémaux bei der Abschlußgala sprechen Bände. Wäre er souverän, würde er gar nicht drüber reden. Und dass er in Interviews selbst sagt, die Berlinale wäre nur an dritter Stelle, ist ein Armutszeugnis, keine weise Einsicht.
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Dieter Kosslick ist unfähig, wie vor wenigen Jahren noch die interessanten US-amerikanischen Premieren nach Berlin zu holen. Nehmen wir ein paar Beispiele: Inherent Vice von Paul Thomas Anderson startet in der Berlinale-Woche. Anderson hat immerhin schon mal einen Goldenen Bär gewonnen und war noch 2007 hier mit There Will Be Blood – zugegeben: Ich finde Inherent Vice eindeutig schlechter als diese beiden Filme. Der Berlinale hätten sie trotzdem gut angestanden, mindestens außer Konkurrenz. Oder Clint Eastwoods American Sniper. Oder Michael Manns Blackhat. Oder selbst Jupiter Ascending von den Wachowskis. Alles starbesetztes US-Kino auf oft höherem, mindestens zeigbarem Niveau, das in den Wochen der Berlinale startet oder wie Eastwood direkt danach.
Nichts davon in Berlin – die Berlinale als Startrampe, das war
einmal.
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Wettbewerb, Wettbewerb, Wettbewerb – das ist doch nicht alles, oder? Nein, ist es nicht. Nur ist der Wettbewerb am Ende des Tages das – und zwar das Einzige – an dem so ein Festival gemessen wird. Das Gerede vom »Publikumsfestival« glauben zwar selbst noch die armen Menschen, die nach fünf Stunden Schlage stehen keine Karte mehr bekommen haben – wahr wird es dadurch nicht.
Die Nebensektionen der Berlinale sind alles zugleich: Grabbelkiste des
Publikums, Ausweichorte um sich von der politischen Korrektheit, dem beflissenen Abhaken deutsch-mitfinanzierter Weltproduktionen mit seinen ganzen so großen wie selten erfüllten Behauptungen zu erholen. Sie sind Nischen, in denen man zeigt, was man zeigen muss, Bereiche abdeckt, und vor allem Gründe Karten zu verkaufen.
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Rund 380 Filme laufen in den insgesamt vierzehn Neben- und Untersektionen jenseits des Wettbewerbs, also mehr Filme, als in Cannes und Venedig zusammen – insgesamt ein nicht zu rechtfertigender Overkill, ein überfüllter, eng zugestellter Kino-Supermarkt. Der einzelne Film sollte unter diesem Urteil aber nicht leiden, denn natürlich findet man hier interessantes, großartiges Kino.
Die mit Abstand beste Berlinale-Sektion ist das »Panorama«. Die einzige Sektion, die ein
klar erkennbares Profil hat. An dem man sich natürlich reiben kann, reiben soll. Eben Profil. Man weiß, was man bekommt, und die Zeiten, als das Panorama die Abfallkiste des Wettbewerbs war, sind lange vorbei.
Dort lief der sehr sehenswerte Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern, eine deutsch-schweizer Produktion von Stina Werenfels: Lars Eidinger und Jenny Schily spielen die
Hauptrollen in dem Film, der von einer achtzehnjährigen geistig Behinderten erzählt, die nach dem Absetzen der Psychopharmaka aus ihrem sexuellen Dornröschenschlaf erwacht. Aber kann eine Behinderte überhaupt frei entscheiden? Kennt sie ihre Wünsche und Gelüste? Oder lässt sie sich missbrauchen? Dora... hat das Zeug zum echten Skandal, vor allem weil es an unsere kulturellen Tabus
rührt.
Atemberaubend und einer der besten Filme überhaupt auf der diesjährigen Berlinale war Iraqi Odyssey. Der aus Bagdad stammende Schweizer Samir erzählt zwar scheinbar nur sehr liebevoll von seiner Familie, doch dabei erzählt er auch vom sehr besonderen irakischen 20. Jahrhundert, von der Liebe: zum Kommunismus, zur Freiheit. Und vom Bösen: der Tyrannei der Kolonialmächte, der
Religion, der Diktatur und des Geldes, die den Irak in den letzten 50 Jahren ins Mittelalter zurückgebombt haben.
Dieser trotz aller Schicksalshärte fröhliche Film zeigt einen Irak von Außen, vom Exil aus zusammengesetzt aus Erinnerungen, Bildern, Fragmenten der Diaspora unter der Hand eine sehr orientalisches Mosaik, nostalgiesatt etwa durch die alte Musik.
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Das Forum ist dagegen nur noch ein Schatten seiner selbst. Ein Schatten des Wettbewerbs im Übrigen auch. Keine echte Differenz, keine erkennbare kuratorische Handschrift. Langeweile, auch unter denen, die hier immer noch alles gucken. Mit einem viel zu vorhersehbaren, nicht mehr wie früher herausfordernden Programm rutscht das Forum in den letzten Jahren in eine Krise.
Mit den Mitternachtsvorstellungen hat man hier ein Stück Kinokultur ohne Not gekillt –
ausgerechnet als »Kiezkino« versucht Kosslick diese Idee wiederzubeleben. Alles Genrekino hat man hier auch schon längst verbannt, mit dem »Forum Expanded«, das weit entfernt vom Berlinale-Zentrum und den Forumskinos stattfindet, ist alles radikale Kunstkino aus der Berlinale ausgelagert. Nicht »Forum Expanded« sollte die Sektion heißen, sondern »Forum in Exile«.
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Und spricht es nicht Bände, dass das Ehepaar Erika und Ulrich Gregor, die Gründer des Forums, sich dort kaum noch blicken lassen, aber dafür bei der Berlinale-unabhängigen »Woche der Kritik« auf einem Debattenpodium saßen?