Cinema Moralia – Folge 325
Es hat einen Vorfall gegeben |
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Sie war schon da pures Kino, egal ob sie jetzt in Filmen mitspielte oder nicht: Françoise Hardy (1969) | ||
(Foto: Von Joost Evers / Anefo – Nationaal Archief, CC BY-SA 3.0) |
»Gemäßigt ist das neue radikal.«
– Bernd Begemann»Sous aucun prétexte / Je ne veux
Devant toi surexposer mes yeux
Derrière un kleenex / Je saurais mieux«
– »Comment te dire adieu«, Françoise Hardy
Sie hätte Schauspielerin werden können. Aber dafür war sie zu gut und zu sehr sie selbst, vielleicht auch zu schüchtern, zu wenig bereit, sich zu öffnen und wegzuwerfen. Auch wenn man es ihr nicht ansah, war Françoise Hardy ihr Leben lang vom Lampenfieber verfolgt.
In ein paar Filmen hat sie trotzdem mitgespielt, und nicht den schlechtesten: In John Frankenheimers so wunderbarem wie unterschätztem »Grand Prix« (Hier komplett) ist sie unübersehbar. In Ein Schloss in Schweden von Roger Vadim; in Clive Donners Peter-Sellers-Groteske Was gibt’s Neues, Pussy? spielt sie eine kleine lustige Rolle neben Romy Schneider. Und in Godards Masculin – Feminin oder: Die Kinder von Marx und Coca Cola gleich sich selbst in einem Cameo: Ein Kind von Marx und Coca-Cola, eine Tochter des Nachkriegs, Generation YéYé, geboren 1944 noch im Paris der deutschen »Occupation«, und dann auch noch unehelich. Sie war aber schon gleich etwas Besonderes und teilte (s.u.) eine Amme mit dem späteren Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano. Es folgte, was typisch war für arme Bürgerkinder der nächsten Jahrzehnte: Katholische Mädchenschule, Bildung, US-Musik hören auf AFN, Schlager auf Radio Luxemburg, erste eigene Musik im Paris der Existentialisten, und dann Aufbruch, Ausbruch, Aufbegehren. Mit 18 der erste Fernsehauftritt, zwei richtige Hits, die Ohrwürmer Tous les garçons et les filles, und ein paar Jahre später dann Comment Te Dire Adieu, den Serge Gainsbourg für sie geschrieben hatte; daneben viele erfolgreiche Chancons.
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Als Typ passte Françoise Hardy, die jetzt im Alter von 80 Jahren gestorben ist, perfekt in die frühen Sechziger, in die Zeit der Nouvelle Vague – um das zu empfinden braucht man sich nur ihren leicht absurden ersten Fernsehauftritt anzusehen, und an »La Bande Apart« zu denken. Da ist sie in all der freundlichen Verklemmtheit ein Engel der Befreiung.
Wie die Welt aussah, die Hardy voller Contenance, Würde und Anmut in ihrer direkten, offenen Ehrlichkeit durchschritt, das zeigt ein unfassbar herrlicher Ausschnitt aus dem deutschen Fernsehen, in der eine – zwischendurch fließend französisch parlierende – Marianne Koch mit der fließend Deutsch sprechenden ehemaligen Germanistikstudentin Hardy (und einem jungen
Patrick Modiano!) Konversation macht, bevor Hardy dann die deutsche Version von »Comment Te Dire Adieu« singt (»Was mach’ ich ohne Dich«): »Nach zwei Cognacs ex bekamst du Mut/ Deine Abschiedstexte war'n gut/ Ratlos und perplex nur dachte ich/ Was mach ich ohne dich«!
(Herzlichen Dank nochmals für den Hinweis auf diesen Ausschnitt an den
österreichischen Filmemacher Paul Poet!)
Sie war schon da pures Kino, egal ob sie jetzt in Filmen mitspielte oder nicht. Eine Muse und Ikone der Sechziger und einer besseren, freieren, viel optimistischeren Zeit. Sinnlichkeit und Glamour, die Mischung aus Kühnheit und Kontrolle und ihre völlig ungekünstelte Ausstrahlung sind es, was von ihr bleiben wird.
Ansonsten war Hardy, das kann man jetzt hinlänglich nachlesen, bis zuletzt eine Kämpferin für selbstbestimmtes Sterben, und ein Mensch, der im Rückblick auf ihr eigenes Leben sagte, sie würde in ihrem Leben rückblickend nichts ändern: »All die Fehler, die ich gemacht habe, gehören zu meinem Leben. In der Jugend denkt man nicht vernünftig, und das ist auch gut so. Ich hatte ein tolles Leben.«
Hoffentlich können wir das dann auch mal sagen.
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Vor sechs Tagen und 80 Jahren begann, um hier zum ersten Mal Bernd Begemann zu zitieren, »die bewaffnete Zerschlagung der faschistischen Herrschaft in Europa. D-Day. Es hätte schief gehen können, es stand auf Messers Schneide, gut für uns alle, dass es gelang. Als gemischtethnisches Waisenkind wäre ich schon mal gar nicht geboren worden, hätten die Nazis triumphiert. Stattdessen brachte uns die Allianz mit den Westmächten 80 Jahre Frieden, beispiellosen Wohlstand und Rock‘n‘Roll. Die Amis und Kanadier hätten sehr wohl zuhause bleiben können, dann wären wir jetzt aber, salopp gesagt, Blockwarte oder Kolchosebauern. Die westalliierten Truppen bewahrten uns nämlich auch vor Stalins Durchmarsch über Hamburg nach Dänemark. Churchill erkannte die Stoßrichtung der roten Armee, eine kleine Einheit leicht bewaffneter kanadischer Fallschirmjäger marschierte Tag und Nacht und stoppte Stalins Panzer in Wismar. Im Mai 1945, im Rahmen von 'Operation Eclipse'. Finden eine Menge Leute vielleicht langweilig, ich sage 'Danke Kanada danke danke danke' aus der tiefsten Tiefe meines Herzens. Ich lerne daraus, dass Diktatoren konfrontiert werden müssen, auch wenn es lästig ist.«
Einer von denen, die aus dem entsetzlichen Schlachthaus namens »Omaha Beach« irgendwie herauskamen, und dann Hardy damals vor 80 Jahren befreit haben, war Samuel Fuller. 32 Jahre alt, ein früher Polizeireporter, der den Krieg nur überlebte, weil er Filmregisseur wurde. Ein Regisseur des Wahnsinns.
Michael Althen hat ihn 1989, vor genau 35 Jahren, getroffen, und aus dieser Begegnung einen selbst für malt-Verhältnisse besonders schönen Text gemacht. So geht er los:
»Vor den Fenstern der Pariser Filmstudios von Billancourt fließt friedlich die Seine vorbei, drinnen herrscht Krieg. Das Tischtuch ist die französische Kanalküste, der Salzstreuer ist ein deutscher Befestigungsbunker, die Baguettebrösel sind Landungsschiffe. Mit der Gabel wird der Atlantikwall gestürmt, Welle um Welle.«
...
»Hinterher kann man sagen, man sei dabei gewesen, denn der Mann ist D-Day himself. Fuller interviewt man nicht, hat es mal geheißen, sondern man
drückt auf einen Knopf, und der Autopilot schaltet sich ein. Verdammt wahr. Der Mann ist nicht zu bremsen. Nach seiner detaillierten Kriegsschilderung fühlt man sich, als wäre die gesamte US-Infanterie über einen hinweggerollt. Danach ist man reif für den Fronturlaub.«
Und dann noch dieser große Satz: »Was man erzählt, sagt er, ist nicht so wichtig. Hauptsache, es ist neu und auf den Punkt gebracht. Er sagt aber auch: 'Storys sind alles.' Irgendwo dazwischen liegt sein Kino.«
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Schon als sein Landungsboot sich dem Strand näherte, sah er blutige Körper im Wasser treiben. Einige waren noch am Leben und flehten um Hilfe. »It was horrible. Worse than Dante’s Inferno«, schrieb Fuller in seiner Autobiografie »A Third Face: My Tale of Writing, Fighting and Filmmaking.« »I swallowed a ton of salt water mixed with American blood.«
Die Erinnerungen an den 6. Juni 1944 veränderten Fullers Leben für immer. Und als er sich dem Filmemachen zuwandte, flossen Szenen von diesem Tag und aus seiner Zeit im Zweiten Weltkrieg in seine Geschichten und Bilder ein. Fuller war nicht nur bei der D-Day-Invasion dabei, sondern auch bei der alliierten Landung auf Sizilien und der Invasion in Nordafrika. Und vor allem befreite er das Konzentrationslager Falkenau. Über all das hat er sich Notizen gemacht. Die Szenen in seinen Filmen basieren auf den Momenten, die er während des Krieges erlebt hat.
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Leider schon vorbei ist die Filmreihe »Siegreiche Helden. Der D-Day und die Landung in der Normandie im Film« im DFF.
Etliche Filme über den D-Day und seine Vorgeschichte haben sich ikonografisch in die Erinnerungskultur eingebrannt. Das Kino des DFF zeigt, wie sich der Blick auf die Militäroperation im Laufe der Zeit verändert hat.
Es
liefen 13 Rue Madeleine; Saving Private Ryan; Paris Brûle-T-Il?; und Samuel Fullers The Big Red One, der 1980 noch vor Start vom Produzenten verstümmelt und erst 2004 wieder restauriert wurde.
Samuel Fuller verabscheute den Heroismus Hollywoods. Das war für ihn fake. »You never saw the genuine hardship of soldiers, not ours or the enemy’s, in movies. The confusion and brutality of war, not phony heroism, needed to be depicted«, schrieb er: »Heroes? No such damned thing! You moved your ass one way. And you didn’t get hit. You moved it another way, you were blown to bits.«
Wir dürfen diesen Menschen und ihren Opfern, auf denen solche Erfahrungen fußen, dankbar sein.
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Neulich fragte mal wieder einer, was denn Moralisierung sei? Ich finde die Antwort eigentlich ganz einfach: Die moralische Aufladung, Beurteilung und Aburteilung der Welt. Die Verwandlung von Moral, einem Selbstverhältnis in ein Moral-zur-Schau-tragen und ein Moral-predigen. Oft ist Moralisierung verbunden mit Selbstgerechtigkeit.
In seinem neuen Buch »Moralspektakel« beschreibt der Berliner Philosoph Philipp Hübl sehr treffend, wie die Moralisierung gerade die Öffentlichkeiten und ihre Debatten zu zerstören droht. Moral wird heute schnell zur Ware und zum Mittel der Selbstdarstellung und Machtausübung über Mitmenschen.
Hübl hat die wichtigsten Thesen seines Buchs kürzlich sehr gut und in einfacher Sprache auf 3sat erklärt.
Das Thema setzen wir fort.
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»Mit jener Eigenschaft der großen Puncher:
Schläge hinnehmen können
stehn.
...
Maulwurfshügel freigeben
wenn Zwerge sich vergrößern wollen,
allroundgetafelt bei sich selbst
unteilbar
und auch den Sieg verschenken können –
eine Hymne solchem Mann.«
– Gottfried Benn, Eine Hymne
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Man konnte die Folgen dieser Moralisierung und der ihr zugrundeliegenden Identitätspolitik auch in der Kunstszene und in Teilen auch in akademischen Kreisen seit den Pogromen vom 7. Oktober beobachten.
Einer, der sich hier wünschenswert klar positioniert hat und deshalb entsprechende Anfeindungen aushalten muss, ist Lars Henrik Gass, Leiter der Kurzfilmtage Oberhausen, dessen Position wir bekanntlich teilen und auch hier verteidigen.
Am vergangenen Samstag bekam Gass für sein Engagement in Bremen die Ernst-Cramer-Medaille der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
Es ist nicht selbstverständlich, dass der Perlentaucher [https://www.perlentaucher.de/essay/eine-laudatio-auf-lars-henrik-gass-von-wolfgang-kraushaar.html] jetzt die Laudatio auf Gass vom Hamburger Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar veröffentlicht hat.
Sie steht unter dem treffenden Titel »Gegen den intellektuellen Dammbruch«, denn genau darum, um Infamie und Solidaritätsverweigerung von Intellektuellen und anderen, darunter Filmemacher, Künstler, Kuratoren und Kritiker, handelt es sich.
In der Laudatio heißt es unter anderem:
»Nun, hierzulande wird häufiger demonstriert ... Aber nach dem 7. Oktober ist bei uns kaum etwas anderes als ein ›dröhnendes Schweigen‹ zu vernehmen gewesen. Zu sehr viel mehr als einem staatlich organisierten Umzug von einigen Tausend am 22. Oktober vor das Brandenburger Tor war es nicht gekommen. Das dürfte kein Zufall gewesen sein. Denn die Empathielosigkeit mit den Opfern der Hamas verfügt, wie noch auszuführen ist, über ein vergiftetes fundamentum in
re.
Stattdessen geschah eher das Gegenteil von Solidarität. Im Kulturbetrieb etwa kam es zu einer Boykottkampagne ausgerechnet jemandem gegenüber, der zu mehr Solidarität für die israelischen Opfer aufgerufen hatte. Das ist – mit Verlaub – eine Schande.«
Und weiter:
»Der Kulturbetrieb neigt offenbar dazu, zu kapitulieren. ... Dass dem so ist, dürfte ein kaum noch abzustreitendes Indiz für ein tieferliegendes Problem sein. Dafür, dass wir es mit einer regelrechten, sich seit Jahren, wenn nicht gar Jahrzehnten abspielenden und bis hin zur Besetzung von Lehrstühlen reichenden Neuformierung des Denkens zu tun haben, zu deren Resultaten eine höchst einseitige Haltung zum Nahostkonflikt zählt.
Diese Einstellung verrät sich bereits in
den Catchwords, den Schlagworten dessen, was nun unter dem Dach einer Identitätspolitik firmiert: – der Wokeness, – der Diversity, – der Critical Race Theory, – den Postcolonial Studies und – der Cancel-Culture als ihrer praktischen Konsequenz.
...
Lars Henrik Gass, meine sehr verehrten Damen und Herren, ist ein überzeugter Universalist. Er hat sich den Verleumdungen gegenüber zur Wehr gesetzt, in Dutzenden von Interviews und Artikeln, er ist
nicht eingeknickt vor den Israel-Hassern und hat die Oberhausener Filmfestspiele allen Anfeindungen zum Trotz weiter organisiert.
Wir alle sind aufgerufen, ihm den Rücken zu stärken und ihm unsere Solidarität zu erweisen. Es geht darum zu verhindern, dass der Antisemitismus erneut zu einem kulturellen Code werden und sich so weiter ausbreiten kann.«
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Ganz Praktisches tut sich auch: Obwohl NRW längst nicht mehr Schwarzgelb, sondern Schwarzgrün regiert wird, ist der Geist Christian Lindners und seiner neoliberalen Agenda jetzt offenbar bei der Filmstiftung NRW. Nach Antritt ihres neuen Leiters Walid Nakschbandi heißt es im Rheinland, bliebe dort »kein Stein auf dem anderen«.
Dieses Jahr müssten 5 Millionen eingespart werden, kommendes Jahr nochmal 3 Millionen. Wenn dieses Zahlen stimmen sollten, wäre das der doppelte
Wahnwitz!
Zum einen, weil 8 Millionen fast ein Viertel des Gesamtetats bedeuten. Mit anderen Worten: Nordrhein-Westfalen würde sich als Filmförderstandort aus der ersten Liga verabschieden, und dort hingehen, wo sich Fortuna Düsseldorf und der 1. FC Köln, die Fußball-Vereine des alten und des neuen Sitzes der Filmstiftung schon befinden: In der Zweitklassigkeit.
Zum zweiten, weil 8 Millionen für die Filmstiftung viel sind, für das Land NRW aber Peanuts. Man würde von einem Filmstiftungschef eigentlich erwarten, dass er sich zum Anwalt einer Etaterhöhung macht, nicht zum Erfüllungsgehilfen von Abwicklern und Controllern.
Deshalb kann und will ich diese Gerüchte nicht glauben. Optimisten berichten im Gegenteil gerade von der »steilen Lernkurve« des neuen Leiters, der spätestens in Cannes begriffen hat, dass er dort nicht mehr hinfahren wird, wenn er wie beabsichtigt die kulturelle Filmförderung (P 2) tatsächlich streichen wird.
Hoffen wir, dass die Lernkurve noch ein bisschen anhält und hier nicht einer alles kaputt macht, was drei Filmstiftungs-Chefs in 30 Jahren aufgebaut haben.
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»Zu diesem Zeitpunkt ist unklar/ wir rekonstruieren den Hergang/
Maßnahmen wurden ergriffen/ Vorhersagen sind abgewichen/
Ganz allgemein wurde klar: Zuschauer sind nicht in Sicherheit«
– Bernd Begemann & Die Befreiung, »Es Hat Einen Vorfall Gegeben«
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Zum Schluß was richtig Schönes: Die – zumindest für außenstehende Voyeure und Fans – wundervolle Debatte zur Hamburger Schule.
Bernd Begemann hat sie ausgelöst, weil er auf eine Dokumentation des NDR angemessen beleidigt, aber »mit jener Eigenschaft der großen Puncher« (G.B.) reagiert hat und dann nicht halb und halb auf den sozialen Netzwerken den Kampf gegen die Zwerge geführt hat.
Alles ist umfangreich dokumentiert, ich möchte hier nur Euch allen unbedingt empfehlen, nachzuschauen, nachzulesen und nachzuhören. Der ist nur Wahnsinn – ganz toll und nerdy...
Es ist ungemein lustig und zeigt alle herrlichen Niederungen unserer Öffentlichkeit – wie wir sie auch von Film und Filmkritik und sogenanntem »Medienjournalismus« her kennen.
»Nachhören« bezieht sich vor allem auf den Podcast von – auch wenn man ihn sonst nicht mag – Jan Böhmermann dazu. Der ist nur bis zum 15.06. online, also jetzt jetzt jetzt.
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Wenn mir jemand noch sagen kann, wie ich das runterlade – feel free!
(to be continued)