20.03.2025
Cinema Moralia – Folge 346

Wo bleibt das Sondervermögen für das deutsche Kino?

September 5
Face the Facts: Einziger Lichtblick ist Tim Fehlbaums September 5
(Foto: Constantin Film)

Schluss mit der Schuldenbremse für die Kunst. Zur finanziellen Lage der Filmemacher und zur ästhetischen Botschaft der Nominierungen zum deutschen Filmpreis – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 346. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Sieben, sechs und drei Kultur­po­li­tiker von SPD, CDU und CSU verhan­deln gerade in Berlin seit einer knappen Woche in einer »Arbeits­gruppe« über die neue Kultur­po­litik. Und man muss hoffen und an alle Betei­ligten appel­lieren, dass es eine der ersten Maßnahmen der neuen Regierung sein wird, die Deutschen Film­preise wieder zu dotieren, und sowieso das ganze neue Film­för­der­ge­setz, das am 21. Dezember 2024 noch durch den Bundestag gepeitscht wurde, wieder rück­gängig zu machen.

Das deutsche Kino muss – muss! – auf allen seinen Ebenen finan­ziell besser ausge­stattet werden. Denn ästhe­ti­sche Fragen sind ökono­mi­sche Fragen.

+ + +

Was im deutschen Film mehr als alles andere fehlt, das ist Über­schuss! Das ist das Über­flüs­sige, das, was gute Filme haben, bevor sie durch den Förder­fleisch­wolf des deutschen Films gedreht werden. Das, was Hollywood – also gutes Studio­kino und ameri­ka­ni­scher Autoren­film – von europäi­schem Kino unter­scheidet: Unnötige Szenen, eine Balance aus Humor und Ernst und erleich­ternde Humor­an­teile in ernsten Geschichten und die Tiefe in Komödien.
In Deutsch­land geschieht es gerade jedem zweiten Film, dass er nachdem (!) er »durch­fi­nan­ziert« ist, doch immer noch zu wenig Geld hat und deswegen Dreh­bücher, die viel­leicht sogar preis­ge­krönt sind, um fünf Drehtage und zehn Szenen zurecht­ge­stutzt werden müssen. Denn man muss Drehtage einsparen, man muss hier und da und dort einsparen und die Produ­zenten bekommen auch noch das zu wenige Geld, was sie irgend­wann bekommen werden, zunächst einmal nicht. Sondern sie müssen es zwischen­fi­nan­zieren zu horrenden Zinsen bei irgend­wel­chen obskuren Förder­banken oder bei noch viel obsku­reren privaten Geld­ge­bern. Das ist die Realität im deutschen Film.
Und dann, nachdem die Drehtage gekürzt sind und die Szenen weggekürzt sind und noch mal zwei, drei weitere Tage gekürzt werden und zwei wich­ti­gere Neben­rollen und noch einmal ein paar Szenen und keiner mehr weiß, wie das überhaupt gehen soll, dann bleibt etwas übrig, was man nur als Film-Zombie bezeichnen kann, als Abklatsch des ursprüng­lich Geplanten, ein Gerüst, das irgendwie noch funk­tio­niert, dem aber alles fehlt, was Filme inter­es­sant macht: das Fett, der Über­schuss, das Bigger than Life.

+ + +

Wo bleibt das Sonder­ver­mögen für das deutsche Kino? Ein solches wäre dringend nötig. Wenn sich der deutsche Film endlich aus seiner grund­sätz­li­chen ästhe­ti­schen Armse­lig­keit und Selbst­be­schrän­kung und Normie­rung lösen will, der seine letzten Jahre bestimmt hat, wenn die ästhe­ti­sche Erstar­rung aufhören soll, die sich wie Mehltau über das Land und seine Künstler gelegt hat, wenn deutsche Kinofilme langsam wieder inter­es­sant für andere Länder werden sollen, dann ist nichts weniger nötig als eine 180-Grad-Wende im Handeln und Denken.
Was nötig ist, ist, dass viel Geld, sehr viel auf einmal in die Hand genommen wird, dass geklotzt und nicht mehr gekle­ckert wird, dass die dümmste Rede aus dem Peter-Dinges-Stehsatz ein für allemal gelöscht wird, in der der Refrain lautet, dass wir weniger deutsche Filme brauchen.

Das Gegenteil ist der Fall: Wir brauchen mehr deutsche Filme, verbunden mit mehr wirt­schaft­li­cher Eigen­ver­ant­wor­tung und mehr Risiko, aber eben auch echten Gewinn­mög­lich­keiten für deutsche Produ­zenten. Verbunden mit so wenig wie möglich Büro­kra­ti­sie­rung und der ersatz­losen Strei­chung aller kunst­fremden Verpflich­tungen der Kunst: Verzicht also auf alle (nicht-ästhe­ti­schen) Diver­si­täts­re­geln, alle Green-Shooting-Pflichten – frei­wil­liges Green-Shooting wäre ja cool, man könnte dafür dann nach getaner Produk­tion sogar tolle grüne Siegel und meinet­halben auch Geld­preise und Vergüns­ti­gungen vergeben, aber halt die Prozesse umkehren: Unter­nehmer machen, was sie wollen, die Behörden belohnen, aber sie bestrafen und sekkieren nicht –; Verzicht auch auf das Verbot oder die Einschrän­kung von Selbst­aus­beu­tung und Rück­stel­lung: Ich möchte, dass mir erlaubt wird, für meine Freunde für umsonst zu arbeiten, ohne dass ich dafür belügen und betrügen muss. Tun werde ich es sowieso.

+ + +

Um überhaupt mit jenen Ländern irgend­wann wieder mithalten zu können, die schon ganz lange bessere Filme machen, weil sie längst viel Geld in die Hand genommen haben, Ländern wie Frank­reich und Groß­bri­tan­nien, wie Öster­reich und Dänemark, darum muss auch in Deutsch­land gelten: Einfach mehr Geld! Mehr Infra­struktur. Mehr Freiheit. Es muss gelten, dass die Büro­kra­ti­sie­rung des deutschen Films abge­schafft wird, der Förder­tou­rismus, die eisernen Zwangs­kor­sette, in die die Produ­zenten ökono­misch fest­ge­schraubt werden und in die die Film­re­gis­seure ästhe­tisch fest­ge­schraubt werden.
Es braucht klare Hier­ar­chien, also Schluss mit der Gleich­ma­cherei von allem und jedem, Schluss damit, dass unter dem Mantel des Empower­ment und der Diver­sität, der Aner­ken­nungs-Rhetorik und dem Acht­sam­keits­ge­fasel die Masken­bild­nerin plötzlich genauso viel wert sein soll wie der Regisseur.

Also Kassen auf und Köpfe frei!

+ + +

Die Nomi­nie­rungen für die Deutschen Film­preise sind in diesem Jahr schon besonders merk­würdig, noch merk­wür­diger als sonst. Viel­leicht hat es auch damit was zu tun, dass die Deutschen Film­preise zum ersten Mal in ihrer Geschichte nicht mehr dotiert sind. Das hat man der vom deutschen Film wider besseres Wissen lange vertei­digten soge­nannten Kultur­po­li­ti­kerin Claudia Roth zu verdanken, die sich in der Praxis vor allem als Kultur­ab­schaf­ferin und Kultur­ver­hin­derin betätigt hat.
Damit ist ja jetzt Schluss und ich kenne niemanden, auch nicht bei den Grünen, der sich darüber nicht freut.

+ + +

Ich hatte in diesem Jahr etwas, was ich sonst nicht habe, nämlich Zugang zur »Kiste«, also der Mediathek der Film­aka­demie, in der man sich einige Filme anschauen oder nochmal sehen konnte. Erste Beob­ach­tung: es ruckelt gewaltig, jeden­falls in Berlin.
Die Stream-Qualität lässt zu wünschen übrig und Filme bleiben immer wieder mal kurz stehen, vor allem abends, und sie sind, wenn man sie auf der großen Leinwand sieht, auch nicht wirklich auf der Höhe ihrer Bild­mög­lich­keiten. Es ist sowieso schlecht, dass man Filme im Stream sieht anstatt im Kino, aber Filme auf diese Weise zu sehen, geht gar nicht.

+ + +

Da kommt dann bei raus, was bei raus kommt: Die Nomi­nie­rungen sind größ­ten­teils erwart­bares, spießiges Mittelmaß, außer September 5 keine guten Filme. Alles, was etwas extrem ist, ist weg. Sogar das extrem Schlechte wie Tom Tykwer, dessen Nicht­no­mi­nie­rung dann auch wieder im Gesamt­zu­sam­men­hang falsch ist.

Nicht nominiert wurden Nicolette Krebitz und Lars Eidinger für Das Licht, Lilith Stan­gen­berg für Haltlos. Nicht der Film Kein Tier. So wild, nicht Spirit in the Blood, nicht Klan­destin, nicht Die Ermitt­lung – Leute habt ihr sie eigent­lich noch alle?!

Diese Nicht­no­mi­nie­rungen allein sind ein Plädoyer für die Abschaf­fung des Abstim­mungs­ver­fah­rens und die Rückkehr zum Jury­prinzip. Es wird eines Tages passieren. Das garan­tiere ich den Betei­ligten. Aber da die Film­aka­demie sich auch hier wie überall als unfähig zur Selbst­re­form erweist, wird sie wieder, wie im letzten FFG-Herbst, einer von außen erzwun­genen Reform ausge­setzt werden. Und wenn es für sie schlecht läuft, und weil sie diese Reform nicht selbst­be­stimmt in die Wege geleitet hat, wird diese Film­aka­demie als ganze – die keinen anderen Selbst­zweck hat, als die Verlei­hung des Deutschen Film­preises und dessen Orga­ni­sa­tion – diese weitere von außen erzwun­gene Reform nicht mehr überleben. Eine Film­aka­demie, die ihren Namen verdient und die eine eigene Würde hat, würde mutig sein, würde nicht refor­mieren, sondern revo­lu­tio­nieren, würde neugierig sein, würde expe­ri­men­tieren. Die real exis­tie­rende deutsche Film­aka­demie ist das Gegenteil von all dem.

+ + +

Zweite Beob­ach­tung: Hier das Gedächt­nis­pro­to­koll kombi­niert mit Tonaus­schnitten aus einem Gespräch von über drei deutschen Filme­ma­chern und Akade­mie­mit­glie­dern, nicht nur aus Berlin, manche Träger von Film­preisen:

»Im letzten Jahr wurde die Wahl zum Deutschen Filmpreis geändert. Es gibt keine soge­nannte Vorauswahl mehr, in der eine Gruppe von Mitglie­dern der Film­aka­demie alle einge­reichten Filme sichtete und daraus eine Auswahl der Mehrheit der Akademie dann für die Nomi­nie­rungen vorlegte. So ist es auch in diesem Jahr, aber für alle Mitglieder. Man müsste also eine nicht zu schaf­fende Anzahl an Kino­filmen sichten, um alle einge­reichten Filme zu sehen. Nicht schaffbar, nicht sinnvoll. Um sicher­zu­stellen, dass auch jeder Film wenigs­tens von einigen Mitglie­dern geschaut wird, wurde Folgendes einge­richtet. Jedes Mitglied muss etwa 10 zugeloste Filme ansehen, um überhaupt wählen zu dürfen. Unter diesen Filmen findet sich natürlich auch der totale Schund, bei dem man sich fragt, warum die Produ­zenten so etwas überhaupt wagen einzu­rei­chen.
Was heißt sehen? Es heißt den Rechner laufen zu lassen, während man in der Küche Essen zube­reitet oder die Kinder ins Bett bringt…«

Natürlich darf man auch die anderen vielen Filme gucken, um zu wählen, aber wie viele schaut man da dann wirklich und zu welchen Filmen »greift« man von selbst?

Neu ist auch seit dem letzten Jahr, dass alle Mitglieder auch in der Nomi­nie­rungs­phase die Filme für den Besten Film nomi­nieren dürfen. Das durften früher nur die Sektionen Regie, Produk­tion und Buch. Und natürlich darf jede Sektion die eigene Gruppe nomi­nieren: Also Schau­spieler Schau­spieler, Kamera Kamera etc pp. Da nun alle abstimmen, wer der 'Beste Film' ist, sind wir nun endlich beim 'Publi­kums­preis der sich als Profis Ausge­benden' ange­kommen.
Und darü­ber­hinaus muss man sich nicht nicht einmal entscheiden, was man wirklich richtig preis­würdig hält, sondern man hat unendlich viele Stimmen. Absur­der­weise dürfen alle Mitglieder alle Filme mit jeweils einer Stimme für die Nomi­nie­rung wählen. Keine Begren­zung auf 3 oder 6 Filme... Das bedeutet in der Realität: Ich muss durch die 10 zuge­losten Filme durch, danach gucke ich viel­leicht noch 5 bis 6 Filme, die ich mir gern mit meiner Familie anschaue und für die ich bei der Berlinale keine Karten mehr bekommen habe oder die eben beim Oscar liefen.

Und welche Filme ich nett finde oder wo ich die Gewerke ganz toll fand oder ich mich abgeholt fühlte, die wähle ich einfach. So kommt dieses himmel­schrei­ende Mittel­maß­film-Publi­kums­preis-Deutscher-Film­aka­demie-Durch­schnitts­level zustande. Das eigent­lich nur die Antwort auf die Frage abbildet, 'welche Filme wollte ich im Wohn­zimmer mit meinen Hund im Februar/März 2025 gucken...'. Und genau diese 6 Filme sind es geworden: Hilde von Dresen findet zwar so gut wie niemand gut, aber Liv Lisa Fries und die Gewerke schon und man will natürlich gern ein Kreuz abgeben für 'Sex unterm Haken­kreuz ohne Politik' (Und der Film war auch noch auf der Berlinale!).

Oder für Köln 75: Feelgood, gerade Kinostart und ein leichter Berlinale-Hype im Neben­pro­gramm, bestens gesetzt für den Filmpreis. Die Saat des heiligen Feigen­baums hat die Oscar-Nomi­nie­rung und die poli­ti­sche Moral auf seiner Seite und man ist damit auch 'gegen Rechts', aber es ist schön weit weg und es gibt keine Juden, bloß gut.
September 5 hat den Oscar-Hype und das Geld der Constantin im Rücken.
Vena ist das femi­nis­ti­sche Feigen­blatt, ein netter und mutiger Debütfilm und hat den Hype durch den der Akademie eigenen First-Steps-Award als Gewin­ner­film.
Islands kam als letztes durch, die Berlinale im Rücken und sieht nett aus, kann man nett gucken und sich als Film­lieb­haber fühlen.

Aber bitte bitte keine Filme, die irgendwie anstrengen mit ihrer Länge, mit ihrer Form, ihrer Ästhetik oder dem Inhalt oder dem Gezeigten.
In den letzten Jahren hat die Constantin immer gestän­kert über die Auswahl, was auch zu den Ände­rungen führte: Dieses Mal sind sie aber happy mit September 5 und den unglaub­li­chen Nomi­nie­rungen für Hagen.

Eigent­lich müssten sich jetzt die zusam­mentun, die eigent­lich nichts gemeinsam haben: Die echten und auch auf ihre Art guten Main­streamer mit echten Zuschau­er­zahlen, Verhoe­vens Weißer Mann, Herfurths Wunder­schöner, Dagtekins Chantal mit den Film­künst­lern, Kahls Die Ermitt­lung, mit Thomas Arslan, Irene von Alberti, etc pp., mit dem, was besser ist als dieses Akade­mie­quatsch­kino, um gemeinsam aus der Film­aka­demie auszu­treten und bei dem neuen Kultur­staats­e­kretär durch­zu­setzen, dass die Film­aka­demie den Filmpreis wieder wegge­nommen bekommt und eine echte Jury sich die Arbeit macht.
Die Deutsche Film­aka­demie hat versagt.
Es gibt in diesem Jahr zwar keine Film­preis­gelder mehr, aber dafür sagt die Nomi­nie­rung nun: Wir können nur eine Art 'Publi­kums­preis ohne die Filme zu gucken' vergeben.

Besser noch: Die Film­aka­demie löst sich auf, aus Einsicht, denn im so wichtigen Film­dis­kurs und dem Fordern von besseren Rahmen­be­din­gungen für einen besseren deutschen Film hat die Akademie in zwanzig Jahren aber auch gar nichts zustande gebracht.

Auflösen und ggf. neu gründen, aber erst einmal ohne Filmpreis. Die größte Demü­ti­gung war es: Tom Tykwers Machwerk Das Licht damit zu erledigen, ihn in den unwich­tigsten Kate­go­rien zu nomi­nieren, und die Möglich­keit, Krebitz und Eidinger als Darsteller zu würdigen, links liegen zu lassen.

Zusam­men­fas­send: Berlinale, Oscar und First Step Award machen Nomi­nie­rungen. Geguckt wird, wenn der Film nicht zu lang ist, nicht zu lustig, nicht zu dämlich und zu Diskus­sionen mit den Schwie­ger­el­tern tauglich ist. Genau die sechs Filme, die das erfüllen, wurden nominiert. Auch in den jewei­ligen Gewerken natürlich, wir sind ja so tolle Profis, und können diffe­ren­zieren.

+ + +

Der Gipfel von allem ist aber der iranische Film und deutsche Oscar­kan­didat: Die Saat des heiligen Feigen­baums.
Natürlich wird der Film den Oscar, den er zu Recht nicht bekommen hat, und die Goldene Palme, die er zu Recht nicht bekommen hat, jetzt doch noch gewinnen in Form vieler deutscher Film­preise.

Aber wir sollten uns fragen: Ist nicht das, was hier passiert, genau das, was ansonsten vieler­orts beklagt wird: Nämlich ein Para­de­bei­spiel von »kultu­reller Aneignung«? Das deutsche Kino eignet sich das an, was es selber so gar nicht hat: Wider­stands­geist und ästhe­ti­sche Radi­ka­lität und Genrekino. Es tut dies, indem es diesen irani­schen Film ungefragt adoptiert. Was für eine Feigheit, was für ein Zynismus, was für ein erbärm­li­cher Akt!