27.03.2025
Cinema Moralia – Émilie Dequenne

Erinnerung an Émilie Dequenne

Rosetta
(Foto: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne)

Außerdem: WDR, Nepotismus und die Zerschlagung von Gruner und Jahr. Ein Streifzug – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 347. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Es war eine der denk­wür­digsten Preis­ver­lei­hungen, die das Film­fes­tival von Cannes je gesehen hatte, die aller­letzte des 20. Jahr­hun­derts: Bis zum zweiten Freitag des Festivals hatte man im Mai 1999 ziemlich fest damit gerechnet, dass die Goldene Palme entweder an den Spanier Pedro Almodóvar für Alles über meine Mutter gehen würde, oder an den Kanadier Atom Egoyan für Felicia, mein Engel. Außen­sei­ter­chancen hatte man noch Bruno Dumont gegeben, der seinem zweiten Spielfilm L’Humanité präsen­tierte oder dem schon damals jenseits seines künst­le­ri­schen Zenits sattsam bekannten Jim Jarmusch.
Und dann lief da am aller­letzten Tag noch der Film von zwei bis dahin weit­ge­hend unbe­kannten belgische Brüdern, und der warf alle Speku­la­tionen um und rollte das Feld von hinten auf – die Jury unter dem Vorsitz des Präsi­denten David Cronen­berg gab die Goldene Palme an Rosetta von den Brüdern Dardennes. Es war der Beginn einer überaus großen Karriere für das Brüder­paar, das noch einmal eine weitere goldene Palme gewann – 2005 – und seitdem mit fast jedem ihrer Filme für einen Preis an der Croisette gut waren.
Aber der Sieg in Cannes war eigent­lich ihr Verdienst: Émilie Dequenne war in diesem Mai noch keine 18 Jahre alt, beim Drehen noch keine 17, aber sie war Rosetta, und dieser Film war sie.

Dequenne wurde nach der Premiere von der Kritik als »Natur­ge­walt« gefeiert, und von der Jury bei den Film­fest­spielen in Cannes auch noch zur »Besten Darstel­lerin« gekürt: Das Porträt der »Rosetta« wirkt tief nach. Die Kamera hetzt der Jugend­li­chen im Film stetig hinterher, verfolgt sie von hinten in einer ikonisch gewor­denen Einstel­lung auf ihrer verzwei­felten Suche nach einem Job durch die Peri­pherie und Vororte der belgi­schen Stadt Seraing.

Dieser Film war ihr Debüt und der Beginn ihrer Karriere.

Am vergan­genen Sonntag verstarb Émilie Dequenne, aber ihre Energie in Rosetta bleibt für immer.

Noch bis zum 27. April 2025 sind die Filme der Dardennes im Film­mu­seum Düssel­dorf zu sehen, in der Reihe »Gesichter des Kapi­ta­lismus: Die Dardenne-Perspek­tive«.

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Morgen wird wieder die Diagonale in Graz eröffnet. Aber es gibt noch mehr in Öster­reich: Die Duis­burger Filmwoche ist kommende Woche zu Gast im Öster­rei­chi­schen Film­mu­seum. Dort laufen relevante Beiträge aus der Duis­burger Programm­ge­schichte.

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»Neue Besen kehren gut« ist ein Sprich­wort, das in der Praxis gar nicht so oft zutrifft, wie man glauben möchte. »Im Gegenteil« schreibt uns ein WDR-Mitar­beiter über die immer noch neue Inten­dantin des WDR Katrin Vernau. Nach bislang vier Jour­na­listen an der Spitze des WDR ist die jetzige Chefin eine Wirt­schafts­wis­sen­schaft­lerin. Wir zitieren: »Von Jour­na­lismus völlig unbeleckt. Sie scheint weder ein Gespür dafür zu haben, dass die Kern­auf­gabe des WDR die Bericht­erstat­tung sein soll. Noch scheint sie zu regis­trieren, dass dazu Jour­na­listen benötigt werden.«
Inten­dantin Vernau, die bereits mit der Forderung aufge­fallen ist, dass die Posi­tionen der AfD in den Programmen des WDR »abge­bildet« werden müssten, setzt altge­diente Jour­na­listen vor die Funk­haustür, wenn sie die Pensi­ons­grenze erreicht haben. Für manche eine Chance für die Jugend, ist für andere Alters­dis­kri­mi­nie­rung. Oder einfach ein Arbeits­verbot? In jedem Fall scheint die Inten­dantin zu verkennen, dass freie Mitar­beiter keines­wegs ausrei­chende Pensi­ons­an­sprüche haben, wie ihre gut abge­si­cherten Kollegen, die ange­stellten und pensi­ons­be­rech­tigten Redak­teu­rinnen und Redak­teure.
Frühere Inten­danten wie Friedrich Nowottny oder Fritz Pleitgen wussten als Jour­na­listen die Arbeit dieser »Freien« zu schätzen.

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Einen Schritt weiter ist »Gruner und Jahr«. Mit dem Verkauf weiterer tradi­ti­ons­rei­cher Medien ist vom einstigen Flagg­schiff der bundes­re­pu­bli­ka­ni­schen Medi­en­land­schaft nichts mehr übrig. Kollegen sprechen von »Zerschla­gung«.

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Nepo­tismus, also die Begüns­ti­gung von Fami­li­en­an­gehö­rigen und Anver­wandten, ist kein Kava­liers­de­likt. Vor zwei Jahren musste der Staats­se­kretär im Bundes­wirt­schafts­mi­nis­te­rium zurück­treten, weil der entspre­chende Verdacht aufkam und er diesen nicht restlos ausräumen konnte.
Nun ist ein Film­fes­tival kein Bundes­mi­nis­te­rium – welche von beiden Insti­tu­tionen wichtiger ist, kann jeder Leser für sich entscheiden.

Unge­achtet solcher Bedeu­tungs­rang­folgen sollte aller­dings für jede Insti­tu­tion, in die öffent­liche Gelder fließen, auch wenn es sich um Privat­ver­an­stal­tungen und einge­tra­gene Vereine handelt, die weitaus intrans­pa­renter agieren dürfen als staat­liche Insti­tu­tionen, gelten, dass die Grund­sätze guter Verwal­tung und best­mög­li­cher Trans­pa­renz zu beher­zigen sind. Dies gilt erst recht in jenen Fällen, in denen sich die betei­ligten Personen oder Insti­tu­tionen ungefragt soge­nannte »Ethik­re­geln« aufer­legen. Ich werde persön­lich schon skeptisch, wenn diese sich ohne Not des neoli­be­ralen Jargons inter­na­tio­naler Konzerne bedienen und von »Code of Ethics« sprechen – was mein persön­li­ches Problem sein mag – und halte auch sonst von solchen Ethik­codes recht wenig. Und der Fall, um den es hier geht scheint genau die Befürch­tung zu bestä­tigen, dass dieje­nigen, die am liebsten von solchen Regeln öffent­lich sprechen, die ersten sind, die sie verletzen.
Gerade aus diesem Grund, dem Verdacht der Doppel­moral und der Skepsis gegenüber öffent­lich zur Schau getra­gener mora­li­scher Über­le­gen­heit, gegenüber dem soge­nannten »Virtue Signaling« kommen­tiere ich hier regel­mäßig das Gebaren der Amts­träger der deutschen Filmszene.

Nicht immer sind juris­tisch-legale Entschei­dungen auch notwendig moralisch-legitime. Aber wo die juris­ti­schen Verfahren unein­deutig und klan­destin sind, oder schnöde miss­achtet werden, hilft die mora­li­sche Ebene zur Orien­tie­rung.
Umgekehrt liegt die größte Gefahr solcher Ethik­re­geln nicht nur darin, dass sie folgenlos bleiben, sondern in ihrer Verbie­gung von Fall zu Fall, in ihrer immer neuen Umde­fi­ni­tion nach dem Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht.
Am Ende geht es dann nur darum, den Betei­ligten, den Funk­ti­onären einen Frei­fahrts­schein für das eigene Tun zu geben. Wenn Selbst­ver­pflich­tungen und dazu Ethik­re­geln dazu verkommen, sollte man es besser gleich ganz lassen.