Norwegen 2023 · 92 min. · FSK: ab 6 Regie: Aurora Gossé Drehbuch: Silje Holtet Kamera: Åsmund Hasli Darsteller: Liv Elvira Kippersund Larsson, Cengiz Al, Viljar Knutsen Bjaadal, Anne Marit Jacob u.a. |
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Mit viel Fingerspitzengefühl inszeniert... | ||
(Foto: Der Filmverleih) |
»Du bist eine kleine schüchterne Musterschülerin, die aus ihrem Schneckenhaus ausbrechen will«, sagt die lebenskluge Großmutter zu ihrer Enkelin Mina, die ratsuchend zu ihr gekommen ist. Denn die etwas pummelige Zwölfjährige (Liv Elvira Kippersund Larsson) mit der großen Brille hat es erwischt. Am ersten Tag nach den Ferien hat sich die nerdige Mathe-Königin auf den ersten Blick in den coolen neuen Mitschüler Edwin (Viljar Knutsen Bjaadal) verknallt, der unter dem Künstlernamen E. D. Win zu einem der erfolgreichsten Hip Hop-Tänzer Norwegens aufgestiegen ist und gerade aus Oslo in die Kleinstadt Hammer gezogen ist.
Auf Instagram hat der attraktive Jüngling schon 165.000 Follower. Nun will er an einem bekannten Tanzwettbewerb teilnehmen und ruft zu einem Casting für die neue Viking Dance Crew auf. Mina ist total fasziniert, doch ihr bester Schulfreund Markus (Sturla Harbitz) erinnert sie daran, dass sie gar nicht tanzen kann. Als die Großmutter (Anne Marit Jabobsen) sie jedoch ermuntert, meldet sich Mina für das Casting an. Zu ihrer großen Überraschung wählt der erfahrene Tanztrainer Sean sie sogar aus und lässt sie im Zweier-Team mit Edwin trainieren.
Mina nimmt Unterricht bei ihrer Oma, einer einstigen Profi-Tänzerin, vernachlässigt darüber aber die Freundschaft zum stets hilfsbereiten Markus, der heimlich in die Siebtklässlerin verliebt ist. Weil sie so viel trainiert, werden ihre Schulnoten schlechter, was ihre Eltern (Andrea Bræin Hovig und Anders Baasmo) beunruhigt. Auf der Suche nach Respekt und Zugehörigkeit zur angesagten Clique muss Mina viele Rückschläge und Niederlagen einstecken, etwa wenn ihr E. D. Win ins Gesicht sagt: »Wie viel wiegst du eigentlich?« Doch dank zuverlässiger Helferinnen und Helfer wächst das Mädchen über sich hinaus und findet über Umwege zu sich selbst.
Auf den ersten Blick wirkt das Spielfilmdebüt der norwegischen Regisseurin Aurora Gossé wie ein gängiges und weitgehend vorhersehbares Feel Good Movie für das junge Publikum über eine nerdige Außenseiterin, die sich in ein großes Abenteuer stürzt. Doch Gossé und ihre Drehbuchautorin Silje Holtet haben die amüsante Romantik- und Tanzkomödie mit weiteren Themen wie Schlankheitswahn, Gruppendruck im Social-Media-Zeitalter und innerfamiliären Generationskonflikten angereichert, so dass bei dem Coming-of-Age-Film nicht nur Teenager, sondern auch Erwachsene auf ihre Kosten kommen. Der Film hat sich als internationaler Festivalhit erwiesen und hat bereits 16 Preise gewonnen, darunter den Children’s Jury Award auf dem Festival Cinekid in Amsterdam und auf den Nordischen Filmtagen in Lübeck.
Mit viel Fingerspitzengefühl beschreibt Gossé, die 2015 ihre Regie-Ausbildung an der Norwegischen Filmschule absolvierte und seitdem vor allem Serien und TV-Filme realisiert hat, wie die ersten Schmetterlinge in Minas Bauch flattern, als sie Edwin entdeckt. Noch mitreißender ist jene Szene, in der das etwas unbeholfene Mädchen nach dem Casting-Aufruf allein zu Hause erste Dance Moves ausprobiert, Gefallen daran findet und schließlich wild auf dem Tisch tanzt, bis ihre Großmutter hereinplatzt. Oh, wie peinlich, denkt sich Mina vermutlich und stottert etwas über eine Aufgabe für den Schulsport zusammen.
Diese schräge Oma, die viele Jahre als Tänzerin in einem Club namens Chat noir gearbeitet hat, erweist sich nach und nach als wichtigste Bezugsperson für Mina. Während Minas Mutter Anne Berit der Tochter mit ihrer übertriebenen Fürsorge oft auf die Nerven geht, ahnt oder erkennt die Oma dank ihrer reichen Lebenserfahrung die Probleme des Mädchens sofort und weiß fast immer Rat – natürlich auch in romantischen Fragen. Ihr gehören auch die pointiertesten Dialogsätze des Films
bis hin zu dem augenzwinkernden Statement: »Ich weiß alles über die Liebe.«
Gossés abwechslungsreiche Inszenierung punktet mit clever choreographierten Tanzszenen, einer rhythmischen Montage und schwungvoller Musik, die von Popklassikern wie »Push it« von Salt-N-Pepper über Hip Hop-Tracks bis zum titelgebenden Abba-Evergreen »Dancing Queen« reicht, der im Original allerdings erst zu den finalen Credits erklingt.
Eher beiläufig, aber nachdrücklich setzt sich der Film auch mit problematischen Körperwahrnehmungen und Leitbildern auseinander, die in Sozialen Medien kolportiert werden und gerade bei Pubertierenden viel Unheil anrichten können. So reagiert die unsichere Mina auf Edwins schamlose Bemerkung über ihr Gewicht mit schmerzhaften Selbstzweifeln, einem harten Trainingsprogramm und isst zu wenig. Als sie bei einer Tanzprobe zusammenbricht, wird sie ins Krankenhaus gebracht.
Vor allem aber besticht der Film durch seine jungen Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller, allen voran Liv Elvira Kippersund Larsson als Mina. Sie verkörpert das bescheidene Mauerblümchen, das zum Casting mit einem unvorteilhaften quergestreiften Pullover erscheint, ebenso glaubhaft wie die coole Teenagerin mit blau gefärbten Haarsträhnen und modischem Hoodie, die ihr Ziel mit unglaublicher Energie verfolgt. Aber auch Sturla Harbitz als langmütiger Kamerad Markus, der einige Zumutungen einstecken muss, und Viljar Knutsen Bjaadal als Edwin, der mit seinem übergroßen Ehrgeiz beachtlichen Schaden anrichtet, liefern hier hervorragende Leistungen. Dass die filmische Heldinnenreise gelegentlich etwas zu schematisch ausfällt und gegen Ende etwas zu oft ins Sentimentale abdriftet, lässt sich angesichts der Stärken des Films verschmerzen.