67. Filmfestspiele Cannes 2014
Naomi Kawase und das Leben nach dem Tod in Japan |
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Naomi Kawases sinnlicher Film Futatsume no mado | ||
(Foto: Film Kino Text Jürgen Lütz / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
»Ihr jungen Leute solltet nie feige sein! Wenn ihr was sagen wollt, sagt es. Wenn ihr was tun wollt, tut es. Wenn ihr weinen wollt, weint!«
Ein alter Fischer in Futatsume no mado von Naomi Kawase
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Wellen, Meer. Vielleicht eine Minute lang. Das erste Bild. Schnitt. Das zweite: Ein alter Mann schächtet eine Ziege. Die Kamera streift dann über Hügel, Schilf, wieder Meer. Der Wind ist zu hören. Man versteht, dass wir es hier mit einem kleinen Küstendorf zu tun haben, später begreifen wir: Es ist eine Insel. Es handelt sich um das abgelegene Amami, die größte der Amami-Inselgruppe, weit im Süden der japanischen Insel. Hier ist das Leben stehengeblieben und die Moderne fern.
Nachts wird eine Männerleiche gefunden. Am nächsten Morgen sehen wir unter den Schaulustigen auch Kaito und Kyoko. Ein Dialog der Blicke. »Yesterday, i was waiting for you« sagt sie, er schweigt. Mit wenigem macht der Film alles klar: Beide sind vierzehn, wir wissen, das beide eng befreundet sind. Eine Jugendliebe, erfüllt von Vertrautheit. Sie hat ihn gewählt, ist stärker, reifer. Und dann hebt der Film zum ersten Mal ab...
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Sie taucht minutenlang in Schuluniform. Schwimmt im Wasser auf ein Korallenriff zu. Schwerelos. Genuss des Augenblicks; im Wasser ist sie wie ein Teil der See. Eine Nixe, Meerjungfrau. Dort findet er sie. Sie fahren Fahrrad, er strampelt, sie steht hinter ihm. Wind, Fahrtwind, Tempo. Grün und Blau und Weiß und Schwarz, später dann Apricot und Blau. Danach gibt es Nudeln mit Tintenfisch. Kyokos Vater, ein ehemaliger Surfer, ist Fischer. Er gibt Kaito eine große Portion für Zuhause mit. Auch das ist Dorfgemeinschaft auf Insel.
Kaitos Mutter ist alleinerziehend, Kyokos Mutter todkrank und wird bald sterben. »Why is it that people are born and die?« – »I do not know« – »For no reason.«. Er redet gar nicht, sie redet wenig.
Es gibt Gespräche über den Tod: »I am trying but I cannot stand my mother suffering.« Ihr Körper wird verschwinden. »Wo ist ihre Wärme?« – »Sie bleibt in Dir.«
Auch mit der Mutter selbst. Die sagt: »In the mainland, people want to live as long as
possible.« Und lacht. Wir lachen mit, ohne wirklich zu verstehen.
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Ein Sommer. Das Wetter ist wechselhaft, mal Wind, mal Regen, schnell Sonne, immer wieder ein Taifun.
Es gibt auch Gespräche über unsere Verbundenheit mit der Natur. Kaito sagt »The sea is scary. The sea is alive.« Sie: »Wenn man surft, dann ist das wie eins werden mit der See, mit der Natur.« Es sei wie Sex und wir ahnen, dass beide nicht kennen, wovon sie spricht. Sie aber weiß es trotzdem.
Im Gartenhaus wird für Kyokos Mutter das Sterbebett aufgestellt. Es steht so,
dass sie auf einen uralten, 400, oder 500 Jahre alten Baum blicken kann. Die Sterbeszene, in denen die Mutter von vielen Frauen und Männern aus der Insel umgeben ist, zählt zu den Höhepunkten des Films: Sie singen »The song of the morning glory«, Tanzen am Sterbebett – ein glücklicher Tod.
Derweil hat Kaiko seinen Vater besucht, der in Tokio lebt. Kawase macht hier en pasant auch das Stadt-Land-thema auf, und dies nicht auf Kosten der Stadt. Der Vater erzählt dem Sohn
seine Sicht Tokios: »There is energy here, which you only find in Tokio. Warmth...« Es gebe zwar Müdigkeit und Stress, aber auch den Wunsch sich selbst auszudrücken.
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Dies ist en überaus sinnlicher Film, voll schlichter und zugleich über sich hinausweisender Schönheit, erfüllt von der Ausstrahlung dieser subtropischen Insel mit ihren Korallenriffen und einem Sensorium für den Kreislauf der Natur, von Leben und Tod. Es gibt auch eine autobiographische Dimension: Kawases Familie stammt selbst aus Amami,
»Futatsume no mado« bedeutet wörtlich »Das zweite Fenster« – es ist in erster Linie ein zurückgenommenes, ruhiges Portrait zweier Schüler, des Erwachsenwerdens. Kawase zeigt das Glück der Losgelöstheit im Augenblick, die Brüchigkeit des Familiären und den Schmerz des Erwachsenwerdens – Abschiede von der Kindheit.
Es ist ein sehr berührender Film, voller Poesi, zugleich über universale menschliche Grundsatzerfahrungen.
Der Film hat alle Tugenden des japanischen Kinos: Er erzählt visuell und musikalisch, in wenigen Worten, und ähnelt eher einem Poem, als einem Theaterdrama. Eine leicht bewegte Kamera beobachtet den Wind, die Wellen, das Licht der Sonne, das durch die Bäume scheint und begleitet seine Figuren schwebend, zitternd, subjektiv durch ihr Leben. Kawase erzählt total stringent und zugleich vollkommen leichtfüßig, unaufdringlich.
Ein Meisterwerk auf Augenhöhe mit Ingmar Bergman,
Roberto Rosselini und François Truffaut.
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Natürlich wird alles gut ausgehen. Auch das Sterben ist in diesem Film ja kein Grund Angst zu haben. Aus dem Mund des alte Fischers hören die beiden irgendwann ein paar grundsätzliche Lebensregeln: »Ihr jungen Leute solltet nie feige sein! Wenn ihr was sagen wollt, sagt es. Wenn ihr was tun wollt, tut es. Wenn ihr weinen wollt, weint!«
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»Sur mes cahiers d’écolier/ Sur mon pupitre et les arbres/ Sur le sable sur la neige/ J’écris ton nom«
(»On my notebooks from school/ On my desk and the trees/ On the sand on the snow/ I write your name«)
Paul Eluard
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Leben und Sterben in Hollywood: Ein alter Bekannter an der Croisette ist David Cronenberg: Zum neunten Mal ist er in Cannes, mehrere Palmen hat er gewonnen, aber noch nie die goldene. Ob ihm das jetzt mit Maps to the Stars gelingt?
Immerhin hält er hier der Filmindustrie und damit auch ihrem Mekka namens Cannes den Spiegel vor. Das Ergebnis ist ein abgründiges Bild, eine Mischung
aus Sozialsatire und klassisch-griechischer Tragödie. Man begegnet einer Handvoll Menschen aus dem Hollywood der Gegenwart; es sind so schrille wie schräge Typen, die alle leider wahren Klischees über das Leben in Hollywood versammeln: Julianne Moore als Schauspielerin von Gestern, die von den Geistern ihrer toten Mutter verfolgt wird, ein medikamentenabhängiges, verwöhntes nervliches Wrack; John Cusack als korrupter zynischer Startherapeut, Robert Pattinson als Chauffeur,
der vom Filmruhm träumt; daneben ein Kinderstar, eine vertriebene Tochter und eine Familientragödie, deren Hintergründe langsam freigelegt werden. Mia Wasikowska spielt eine junge Frau, die aus Florida gerade erst in Hollywood auftaucht. Sie wirkt ebenso verwundbar, wie gefährlich, neugierig wie krank, sie ist witzig, aber scheint eine Last mit sich herumzutragen.
Die Dialoge sind großartig: »How did you find me?« – »Please! No film-noir-questions.« Oder: »Juliette Lewis?« – »Die ist bei Scientology…« – »Ich hab auch schon überlegt, zu konvertieren, das wäre gut für meine Karriere.«
Das Gedicht »Liberté« von Paul Eluard spielt auch eine wichtige Rolle, und das Inzest-Tabu.
Maps to the Stars ist nicht nur einer der
interessantesten Wettbewerbsfilme bislang – dies ist eine sehr sehr witzige Abrechnung mit der Unterhaltungsindustrie, und ein erfrischend direktes, überhitztes Dekadenzportrait aus der Mitte unseres Zeitalters.
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»Et par le pouvoir d’un mot/ Je recommence ma vie/ Je suis né pour te connaître/ Pour te nommer Liberté.«
»By the power of the word/ I regain my life/ I was born to know you/ And to name you – LIBERTY«
(Paul Eluard: »Liberté« (in: Paul Éluard, »Poésie et Vérité«, Paris, Éditions de la main à la plume, 1942. Reprint: Paul Éluard: »Au rendez-vous allemand«, Paris, Éditions de Minuit, 1945))
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Der Woody Allen von Chile ist Filmkritiker. Er heißt Ernesto und arbeitet für eine der größten Zeitungen seines Landes, ein konservatives, d.h. in Chile reaktionär-postfaschistisches Blatt, unter dessen politischer Agenda er genauso leidet, wie unter der Ausbeutung, der er unterworfen ist. Ernesto kenne ich seit knapp zehn Jahren. Immer in Cannes treffen wir uns, nach Berlin oder Venedig kommt er nicht, schon weil es zu teuer ist, und auch weil er die Festivals im Vergleich nicht gut findet. zwei- dreimal während des Festivals verabreden wir uns und sprechen über die Filme und das Leben.
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»Have you seen the film ' The Critic'? fragt Ernesto. Glücklicherweise kenne ich Hernán Gerschuny diesen wirklich lustigen und guten Film aus Argentinien sogar. Letztes Jahr lief er auf ein paar Festivals – voller Sprachwitz (z.B. wenn die Hauptfigur nachdenkt, oder einen inneren Monolog führt, dann geschieht dies auf Französisch, der Sprache des Autorenkinos) mokiert
er sich über unser aller Dasein als Filmkritiker, und beschreibt die Welt der Cinephilie.
So beginnt ein Gespräch darüber, wie wir uns in Cannes fühlen. Es wird vor allem ein Monolog von Ernesto.«
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»When I die I want my ashes brought to Cannes, to be buried here« sagt er, »I already took precautions. After twenty years of slavery as a critic, the Cannes festival is the only relief.« Er habe nicht genug Geld um für seine Rente sparen, er habe nichts, was er seiner Frau und seinem KJind vererben könne, er arbeite wie ein Hund in einem System, das seine Arbeit nicht schätze. Dass sich nicht für die Filme und das Kino interessiere, sondern für dumme Hollywood-Stars oder
Telenovela-Helden.
»It’s the only time, when I feel it’s me. Cannes is a way of living, here I am at my best, here I am all my potential and my possibilities; here I am, what I can be.«
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Zugleich weiß Ernesto bei aller Begeisterung natürlich auch, dass Cannes eine Welt des Scheins ist noch mehr als jede andere Welt. Natürlich praktizieren auch wir – wie die Filmemacher, die PR-Leute, die Händler, die Redakteure, nicht zuletzt das Festival selbst – gegenüber den anderen mitunter den Grundsatz »Mehr scheinen, als sein.« Wir verkaufen uns selbst, und gerade, wenn wir gut verkauft haben, ist nichts mehr übrig.
Dies ist ein absolut unehrlicher,
unaufrichtiger Ort. Aber darin sehr ehrlich.
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»I am like Woody Allen« sagt er, »I lie, I pretend, I am not happy with it, but in the same moment I love it. I am not a good writer, I know all my faults, but I know, that the others think I am good, that they envie me for beeing here, and they think I party all night and so on. And I let them believe...« »It’s pretention: I go to press people. I smile and talk nice. They think, I am a hard worker. And in a way I am. But do they really know, what my work means?« Vielleicht muss man noch dazu erwähnen, dass Ernesto ein »White Bagde« hat, die von alle begehrte, und von viele beneidete höchste Akkreditierungsstufe des Festivals, die zum Beispiel auch die Kollegen der »Süddeutschen« oder des »Spiegel« nicht bekommen.
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Wie gesagt: Vor allem ein Monolog von Ernesto. Aber ich kann das alles unterschreiben. Es gilt für viele Kollegen, und für mich selbst nur um individuelle Nuancen anders.
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Später reden wir dann noch über Scorsese’s The Wolf of Wall Street, den wir beide natürlich toll finden, für dessen Schwächen Ernesto aber die tolle Formulierung findet »A film with plastic surgery.« Scorsese möchte hier schöner, besser, vor allem jünger und hipper scheinen als er ist. Bei Goodfellas wusste er wovon er redet, hier weiß er absolut gar nichts, sondern zeigt nur, was er sich vorstellt.
Die Filme, auf die sich Ernesto im diesjährigen Festival am meisten freut, sind (in dieser Reihenfolge) Cronenbergs Maps to the Stars, die Filme von Ken Loach, Mike Leigh, Ryan Gosling und Asia Argento.
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Einen Tag später sitze ich mit Ugo, den ich auch in Venedig und Locarno immer wieder treffe und den man analog den Woody Allen Veronas nennen könnte. Für Ugo sind Essen und Trinken genauso wichtig wie das Kino. Er ist ganz anders als Ernesto, aber nicht minder ein Original und nicht minder ein feinsinniger Beobachter und kluger Analyst der Filmwelt. Überdies sehr witzig, halb bewusst und mit Absicht, halb wegen seiner sehr eigenwilligen Sprache, eines Gemischs aus französischen,
englischen und italienischen Idiomen. Ugos exquisiten, unkompromittierbaren Geschmack zeigt schon seine Antwort auf meine Frage, auf was er sich hier am meisten freue: »First Godard. Secondo Kawase and then Takahata.« Er tippt aber auf eine dritte goldene Palme für die Dardennes. »No way« sage ich weil ich nicht glaube, dass irgendwer, nicht Jane Campion, nicht das Festival, ein Interesse daran hat, den Dardennes noch eine Palme zu geben.
Später wirft er noch die Frage auf, ob wohl
die Tatsache der Europa-Wahlen die Jury beeinflusst. Und wie?
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Dann kommt ein spanischer Freund von Ugo dazu, der einen interessanten Tip für die Goldene Palme hat: »Xavier Dolan«. »A title like mummy speaks to Jane Campion.« Wir lachen. Dann aber die gar nicht doofe eigentliche Begründung: Cannes will Regisseure entdecken. Campion auch. Sie wollen nicht alte Säcke – pardon my french – nochmal auszeichnen, sondern neue Genies machen.
Ich finde den Gedanken so logisch wie verführerisch. Ugo dagegen schüttelt den Kopf:
»Xavier Dolan – good idea, but no practicabile.«
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Es gibt online sogar Wetten auf den Cannes-Sieger. Bereits vor Beginn des Festivals waren sie eindeutig: Nuri Bilge Ceylan knapp vor Naomi Kawase.