67. Filmfestspiele Cannes 2014
Formen der Wildheit |
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Gestrandet in der Wüste | ||
(Foto: Arsenal Filmverleih GmbH) |
Von Dieter Wieczorek
Entgegen der üblichen Tendenz des weltweit einflussreichsten Festivals Cannes, etwas schleichend zu beginnen, markierten dieses Jahr gleich zwei starke Beiträge seinen Anfang. Aus Mauretanien kam das Werk Timbuktu von Abderrahmane Sissako. Die fortschreitende Fundamentalisierung selbst in entlegenen Gegenden Malis wird hier in suggestive Bilder gekleidet. In eine überwältigend schöne Landschaft, dargeboten in einer sensuell wirkenden Farbpalette, dringt der Geist der Verbote. Tanz und Musikspiel werden zu Tabus, Frauen zur Verschleierung gezwungen, Zusammenkünfte zwischen Männern und Frauen selbst in privaten Räumen mit Folter gestraft. Dagegen wird Zwangsheirat zur Regel, Todesstrafe zur Banalität und Steinigung zur üblichen Exekutionstechnik. Acht Jahre nach seinem Vorgängerfilm Bamako, der bereits den Konsequenzen der Globalisierung in Mali nachging, zeigt Sissako nun den vergeblichen Widerstand gegen den neuen Geist der Entsagung. Ein moderater islamischer Geistlicher versucht noch, gegen die Machtübernahme theologisch zu argumentieren. Vorwiegend aber sind es Frauen, die sich zur Wehr setzen. Eine Jugendliche gibt selbst unter Folterschlägen ihren Gesang nicht auf. Eine schillernd gekleidete Aussenseiterin, die allein dem Versuch der Auslöschung jeder Lebenslust noch ihr Lachen entgegen setzt, ist die Einzige, die ihr Leben riskiert, um einer Frau die Chance zu geben, sich von ihrem den Vollzug seines Todesurteil erwartenden Gatten zu verabschieden. Sissako parallelisiert diese letzte freie Figur mit Bildern einer in der Steppe gejagten Gazelle. Er kontrastiert Naturschönheit, als letztlich machtlose Gegenwelt, mit den öden Innenräumen, in denen Todesverdikte verhängt und Folterstrafen beschlossen werden. Die Verwilderung der Kultur feiert ihren Triumph.
Mike Leigh (Grossbritannien) schafft in Mr. Turner ein fesselndes Porträt des seiner Zeit vorauseilenden, exzentrischen Malers J. M. W. Turner (1775-1851), für dessen fast schmerzlich krude Darstellung der an Leukämie erkrankte Timothy Spall den Schauspieler-Hauptpreis erhielt. Turner bewegt sich wie ein unter Hochdruck stehendes, geschlagenes, wild gebliebenes Tier durch die Szenarien, knurrt und lästert, fällt zuweilen sexuell über seine Haushälterin her und zeigt trotz der großer Anfeindungen von fast allen Seiten keine Sekunde lang Zweifel an seiner Bedeutung. Ein Kaufangebot aller seiner Werke lehnt Turner schlicht ab, obwohl es seinem eingeschränkten Lebensstil ein Ende bereiten könnte. Er zieht es vor, seine die turbulentesten Energien bannenden Bildfelder unmittelbar der britischen Nation zu hinterlassen. Sein Schaffen weist bereits in die Richtung der gegenstandslosen Kunst des folgenden Jahrhunderts. Neben der harten Schale Turners fängt Leigh jedoch gleichfalls die Momente der Heiterkeit und des Schmerzes ein, wie beispielsweise in der bewegenden Todesszene seines Vaters. Er zeigt Tuner als eine kreatürliche Figur, die sich verzerrt in ihrer Passion, platziert in einer perfekt rekonstruierten Kulisse der unkonfortablen Lebens- und Arbeitsbedingungen des 18. Jahrhundert, wo Krankheit und Schmerz an der Tagesordnung sind. Leigh lässt dem Zuschauer mit seinem zweieinhalb stündigen Film Zeit, sich auf diese historische Rekonfiguration einzulassen.
Das neue Werk Deux jours, une nuit (Two Days, One Night) der Belgier Jean-Piere und Luc Dardenne überrascht nicht, überzeugt aber durch ihr hier erneut unter Beweis gestelltes Talent, soziale Konflikte und deren psychodramatischen Folgen eindringlich nachzuzeichnen. Sandra wird kurzfristig ihre Entlassung aus einem mittelgrossen Betrieb angekündigt. Nur mit einem schwachen Selbstbewusstsein ausgestattet, macht sich die Vierzigjährige auf den schweren Weg, ihre Arbeitskollegen um den Verzicht eines Bonus-Gehaltes zu bitten, um angestellt bleiben zu können. Jede ihrer Kolleginnen und jeder Kollegen wird anders reagieren, jede Reaktion wird die labile Frau erneut in einen anderen psychischen Zustand versetzen, der zwischen Glückserfahrung und Selbstmordversuch pendeln kann. Die Dardenne-Brüder schaffen ein genau beobachtendes Werk über eine noch mögliche Solidarität in der gegenwärtigen, sich verwildernden Arbeitswelt, einen Film, der in jeden Schulunterricht gehört. Einer der wichtigsten Einsichten hier ist, wie entscheidend der Kampf um Rechte und Solidarität ist, ganz unabhängig von seinem Ausgang. Nur durch die Auflehnung kann sich Selbstwertgefühl und Identität regenerieren. Auf diese Weise werden aus bloßen Opfer erneut Akteure im sozialen Raum. Die von den christlichen Filmorganisationen Signis und Interfilm getragene ökumenische Jury zeichnete dieses Jahr in Cannes die Dardennes mit einem Spezialpreis für ihr Gesamtschaffen aus.
Der Argentinier Damián Szifrón bringt mit Relatos salvajes (Wild Tales) in der Tat ein wildes und gleichzeitig unterhaltsam exzessives Werk nach Cannes, in dem alltägliche soziale Spannungssituationen in sechs Episoden ins Extrem getrieben werden bis hin zu explosiven Entladungen. Die Situationen reichen von der Entdeckung der Untreue des Ehemannes während des Hochzeitsfestes über das mörderische Hochschaukeln der üblichen Aggressionen zwischen Autofahrern hin zur exquisiten Einladung aller Feinde in ein Flugzeug, dessen Pilot hier seine finale Abrechnung feiert. Die Episoden haben nur eines gemeinsam, den emotionalen Dschungel hinter dem schönen Schein der Zivilisation fühlbar zu machen. Das Aufbrechen latenter anarchischer und mörderischer Energien verdichten sich in Relatos salvajes zu einem Potpourri von Eskalationen ohne Notbremse. Einen heiterer Film über ein nicht so heiteres Thema zu gestalten ist keine geringe Leistung. Szifrón zeigt Kontrollverlust als lustvoller Akt, der eine brüchige Moral ins Leere treiben lässt. Er gestaltet Situationen zwischen Wunscherfüllungen und Angstvisionen jenseits üblicher Tabugrenzen und inszeniert das Einbrechen einer verdrängten Begehrens in die zivilisierte Welt.
Wildheit ist Thema auch in Xavier Dolan in komplexen, Fragen aufwerfenden Film Mommy. Hier ist es ein schwer erziehbarer Jugendlicher, der mit Elan und Phantasie gegen die verödete und genormte kanadischen Mittelstandsgesellschaft rebelliert. Zu seiner Mutter, eine ebenfalls kaum als zahm zu bezeichnende Frau, lebensfroh und trinkfreudig, unterhält er ein ambivalentes Verhältnis zwischen Auflehnung und Bewunderung. Langweilig wird es der aufbrausenden Mutter mit ihrem Sohn nie. Stößt er nicht sofort auf Ablehnung und Aggression, kann der Unbändige auf seine Umgebung auch eine befreiende Wirkung ausüben, besonders auf seine stotternde und scheue Nachbarin, die ihm erst in einer Extremsituation ihm ihr eigenes explosives Potenzial zu erkennen gibt. Dolan führt den Zuschauer durch eine Reihe lustvoll inszenierter Tabubrüche zur Feier sensueller und unkontrollierter Energien. Die Schattenseiten der provokanten Aktionen, etwa die schweren Verbrennungen eines Mitschülers, werden angedeutet, nicht aber ins Bild gebracht. Auch die Rolle der bleibt ambivalent. Einerseits erkennt sie in ihrem Sohn ihre eigene Wildheit wieder, andererseits ängstigen sie deren Konsequenzen, die auch inzestuösen Formen annehmen können. Mutter und Sohn gemeinsam ist die Verachtung des sie umgebenden Unlebens, diese bürgerliche Welt der Egoismen und Sicherheitsbedürfnisse, die jeden Ausbruch der Lebenslust verdammen, sobald er den üblichen Gang der Dinge stören könnten. Mommy wurde in Cannes mit dem Jurypreis gekürt.
Die soziale Verwilderung der aktuellen russischen Realität ist Thema in Andrey Zvyagintsevs gleichfalls im Wettbewerb laufenden Films Leviathan. Sein im Norden Russlands situiertes Erstlingswerk beschreibt den letztlich zum Scheitern verdammten Versuch eines Land- und Hausbesitzers, gegen die mafiöse Allianz von Polizei, Administration und einem dominanten Geschäftsmann Widerstand leisten zu können. Der beängstigende Zerfall jedes funktionierenden Rechtsschutzes wird von Zvyagintsev in ein weiter gefasstes Situationspanorama eingebettet. Eifersucht unter Freunden, Ehedramen und ungehemmte Trinkfreudigkeit auf allen Seiten, aber auch Situationskomik kennzeichnen seinen Film. Den Grundton jedoch geben Nihilismus und Perspektivlosigkeit an. Das freudlose Dasein verlangt nach viel Alkohol. In einer ersten Drehbuchversion war die Geschichte in den Vereinigten Staaten lokalisiert. Die Verlagerung der Story an die Peripherie Russlands veränderte jedoch erheblich den Ausgang des Filmes.
Einen weiteren Blick auf die soziale Verwilderung der russischen Realität liefert der Franzose Michel Hazanavicius in The Search. Hier steht der Tschetschenienkrieg im Zentrum. Die bekannten Mechanismen der Verrohung auch zunächst sensibler Soldaten innerhalb kürzester Zeit werden hier erneut in Szene gesetzt. Weitere Erzählebenen sind die Odyssee eines tschetschenischen 12-Jährigen, dessen Eltern hingerichtet wurden, und die Erfahrungen einer naiven Vertreterin einer UN-Menschenrechtskommission, die einsehen muss, wie wirkungslos ihre Interventionen sind. Ihre Weltorganisation zeigt sich nicht einmal zur verbalen Anerkenntnis des Genozides einer Zivilbevölkerung bereit, der unter dem Vorwand der Terroristenverfolgung vorangetrieben wird. In diesem Sinne wurden Tschetschenen nicht nur gemordet, sondern auch weltpolitisch isoliert und schliesslich vergessen. Hazanavicius Film lässt sich als Versuch lesen, dem bereits erfolgten Vergessen eines Krieges entgegen zu arbeiten. Seine Situationsdiagnose kommt zu dem ernüchternden Schluss, dass angesichts des Versagens der Weltpolitik die einzig mögliche Hilfe die unmittelbar vor Ort sich engagierende ist, die Schaffung von Auffanglager für Verwaiste und Obdachlose, Wiederaufbau und Therapieangebote mit dem Ziel, die Erinnerung an den Horror zu mildern. Die Wirklichkeit der Opfer contrapunktiert Hazanavicius mit den Formen der Selbstinszenierung der russischen Armee, die gefällig ihre Mordakte in privaten Videos in Szene setzen, untermalt von Underground-Musik. Hingegen werden die Selbstmörder unter den russischen Soldaten zu Kriegsopfer stilisiert, auch in den eigenen Reihen übliche Foltertechniken ignoriert und über Praktiken wie das Ausrauben von Kadavern, Vergewaltigungen und barbarische Hinrichtungen hinweggesehen.
Der in Form und Inhalt wildeste Film brachte Altmeister Jean-Luc Godard nach Cannes. In Adieu au langage (Goodbye to Language) arbeitet Godard wiederum mit Zitattiraden. Er strukturiert seine Ideen um Oppositionen wie Unendlichkeit und Null, Tod und Sex, Bewusstsein und Wirklichkeit. Godards Kulturkritik nimmt hier eine noch radikalere Form an und bezieht Sprache, Denken und Bewusstsein als solche mit ein. Als alternatives Lebensmodell wird eine animalische, gegenwartsorientierte, unmittelbare Wahrnehmung der Welt empfohlen. Die aphoristischen Reflexionen im Off und in den Dialogen werden begleitet von disparaten, assoziativen, nie repräsentativen Bildfolgen, die durchaus auch wohlgefällig sein können. Fäkalien und Nacktheit spielen in Adieu au langage eine wichtige Rolle. Denken wird mit Scheiße identifiziert, kokett, wie es sich nur ein Großmeister der Reflexion erlauben kann. Gleichzeitig ist die Gleichsetzung von Bewusstheit und Blindheit nicht neu. Nicht zufällig erklingen Rilkeverse. Godards Intention ließe sich eher als Vorsicht und Absage an alle Stereotype verstehen. Man muss zum Interpreten seiner eigenen Worte werden, heißt es einmal, mit anderen Worten, skeptisch bleiben gegenüber vorgegebenen Sprachangeboten und einschränkender Grammatik, stets bereit, die Wahrheit hinter und zwischen den Worten zu suchen. Godards Werk wirkt wie ein geflickter Assoziationsteppich mit den nur hier möglichen Reflexionspotenzialen, die Sinn indizieren, ohne ihn je auszuformulieren. Sätze wie »der Mensch ist das einzige Tier, das nicht weiß, was es ist« wurden während der Uraufführung mit Applaus begleitet. Godard stellt nicht nur eine diskursive Realitätserfassung in Frage, sondern auch jede Möglichkeit einer visuellen einsinnigen Abbildung. Das unhintergehbar Unsichtbare, hier auch durch Zitate Claude Monets beschworen, ist für Godard essenziell. Viele seiner Bildsequenzen sind farbverfremdet, erinnern an Traumbilder oder delirierende Stadien. Mit der zum ersten Mal von Godard benutzten 3D-Technologie kann eine weitere Reflexionsebene in den Film implementiert werden, als eine unter anderen, ohne höheren Stellenwert, schlicht als ein zusätzlicher Einfall der fragwürdigen Macht der Wörter sowie der Vervielfältigung der Bilder. Godards wilde, scheinbar vagabundierende audiovisuelle Sprache wirkte in Cannes befreiend und wurde mit stürmischem Applaus bestätigt.
In denkbar größten Kontrast hierzu stand der gleichfalls im Wettbewerb laufende metaphysisch-philosophische Bestimmungsversuch menschlicher Existenz durch Naomis Kawase. In Futatsume no mado (Still the Water) wagt die Japanerin eine Rückkehr zum Konzept der Seele, die der Tiere eingeschlossen. Sie veranschaulicht gar den Seelenaustritt aus dem Körper eines Lammes mit einem Schwenk der Kamera in Himmelsrichtung. Nun ist Kawase angesichts ihrer filmischen Werks, das sich schmerzhaft realistisch mit dem Tode und den degressiven Prozessen des Körperzerfalls auseinandersetzt, gefeit gegen den Vorwurf eines naiven Idealismus. Auch in ihrem aktuellen Werk sind der Todesschnitt in das weiße Fell eines Lammes und das Sterben einer alten Frau in Nahansicht Schlüsselszenen, die ihre Suche nach metaphysischer Entlastung verständlich machen. Kawase evoziert Mythen und vergessenes kulturelles Wissen, das sie der eindimensionalen Egozentrik der globalisierten Konsumwelt entgegen hält. Anerkenntnis der eigenen Unbedeutsamkeit angesichts der großen Rhythmen der Natur, aber auch die Möglichkeit einer heiteren Einkehr in diese übergeordnete Realität sind Schlüsselmomente ihre Arbeit. In ihrer eigenen Kultur findet sie hierfür hinreichend Indikatoren. Sie folgt vornehmlich der Sicht von Kindern und Jugendlichen auf die tragischen Existenzmomente. Tod und Sex werden nicht als Opposition, sondern als gegenseitige Bestätigung und Verstärker verstanden. Vergänglichkeit verleiht dem Augenblick nur intensivere Bedeutung, der sexuelle Augenblick ist Anerkenntnis einer die eigenen Existenz weit überschreitenden Kontinuität.
Die Goldene Palme 2014 ging an eine fast intimistische Arbeit, Nuri Bilge Ceylans über mehr drei Stunden sich erstreckendes, vor allem durch Dialoge geprägtes Werk Winter Sleep. Der türkische Film ließ sich von Anton Tschechow inspirieren. Ausgetragen werden neben sozialen Spannungen vor allem Beziehungs- und Identitätskonflikte, die im Zusammenleben eines Ehepaares mit der kürzlich geschiedenen Schwester des Gatten zu Tage treten. In einer abgeschiedenen verschneiten Landschaft in Anatolien gibt es für die eingeschlossenen Protagonisten weder Ablenkung von noch Fluchtmöglichkeiten vor den aufbrechenden Konflikten. Der Ehemann, der sein Schauspielberuf aufgab, gewahrt die Veränderungen seiner eigenen Person, an denen seine Beziehung zu zerbrechen droht. In Ceylan Werk formuliert sich gleichfalls ein neues, feminines Selbstbewusstsein, das sich in der immer noch patriarchen Gesellschaft mehr und mehr zu behaupten beginnt. Das Drehbuch entstand in enger Zusammenarbeit Ceylans mit seiner Ehefrau Ebru. In der Pressekonferenz gestand er jedoch, dass in Streitfällen er es war, der entschied. Gewiss erinnert sein Film auch an die in Ingmar Bergmans Werk ausgetragenen Konflikte. In einem Interview in Cannes zögerte Ceylan nicht, seinen 2002 entstandener Film Uzak als den zu nennen, der ihm letztlich näher stehe als alle weitere Filme, den aktuellen eingeschlossen. Doch die von der Neuseeländerin Jane Campion geleitete Jury zögerte offensichtlich nicht, in seine hermetische Dialoglandschaft einzutauchen und ließ sich von den sich verästellenden Dialogen faszinieren. Ceylans Film bietet sich einer Theateradaptation nachhaltig an.