65. Berlinale 2015
Niemand zu sehen |
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Charlotte Rampling in einer Geistergeschichte: Andrew Haighs 45 Years | ||
(Foto: Piffl Medien GmbH) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Menschen in festlicher Trauerkleidung begeben sich in Positur – lassen die Hand auf der Lehne eines leeren Stuhls ruhen, setzen sich ohne Gegenüber mit sehnendem Blick an einen Tisch. Mit blendendem Blitz konserviert der Photoapparat den Moment, den sich die Hinterbliebenen mit der Leere teilen, die die Verstorbenen in ihrem Leben hinterlassen haben.
Wie von Geisterhand aber scheinen die Toten dann ins Reich des Sichtbaren zurückgerufen: Schemenhaft gesellt sich ihr Abbild zu den Trauernden in die für sie freigehaltenen Bildräume.
So beginnt Mitchell Lichtensteins Angelica: Seine Titelsequenz beschwört das zu Hochzeiten des viktorianischen Spiritismus populäre Phänomen der »Spirit Photography«, der Geisterphotographie. Inszenierungen, die mittels Doppelbelichtung die Sehnsucht nach einem letzten Zusammensein bedienten.
Der Film selbst bewegt sich dann – letztlich nicht ganz überzeugend – zwischen B-Picture und psychologischem Drama: Nach Komplikationen bei der Geburt ihrer Tochter wird der jungen Ehefrau Constance (Jena Malone) von ihren Ärzten jeder weitere sexuelle Kontakt mit ihrem Ehemann untersagt. Die Unterdrückung körperlichen Verlangens speist ihre latenten Angstphantasien, bis diese in Constances Wahrnehmung physische Gestalt annehmen. Dieses CGI-Monster freilich weckt eher Erinnerungen an übliche Genre-Kollegen und lässt die Grenzen des Budgets erahnen – obwohl an entscheidender Stelle, bei Kamera und Musik, nicht gespart wurde. Dick Pope malt mit einer großen Palette von Schwarz- und Schattentönen; Kieslowskis Stammkomponist Zbigniew Preisner zeichnet die Seelenzustände oft feinnerviger als das Drehbuch. Immerhin widersteht Angelica der Versuchung, tatsächlich übernatürliche Manifestationen als Erklärung zu bieten, sondern belässt es bei rein psychologischem Horror – und inszeniert nicht weibliche Sexualität an sich als monströs, sondern illustriert die Schrecken der Repression.
Die Anfangssequenz jedoch gibt ein schönes Sinnbild für ein Thema, das durch viele Filme dieser Berlinale geisterte. Im Zentrum der Geschichte standen bemerkenswert oft Abwesende, deren Fehlen den Protagonisten zum Antrieb diente.
An den ersten beiden Festivaltagen begegnete man bereits zwei Damen aus der viktorianischen Zeit, die sich, von einem Mann verlassen, auf Expedition in einsame, wüste Landschaften begeben.
Juliette Binoche lieferte den Startschuss für den Wettbewerb mit dem verzückten Ausruf: »Ich habe meinen ersten Bären!« Die erfolgreiche Eisbärenjagd in der Anfangssequenz war aber auch schon das Einzige, was Nobody Wants the Night als Eröffnungsfilm qualifizierte. Isabel Coixets Polarphantasie, basierend auf einer Episode aus dem Leben von Josephine Peary, blieb in jeder Hinsicht lauwarm, ließ weder wahrhaftige Emotionen aufflammen, noch den lebensbedrohlichen Eishauch ihres Schauplatzes spüren.
Kurz vor Hereinbrechen der Polarnacht eilt Mrs. Peary (Juliette Binoche) ihrem Mann entgegen, der sich seit Monaten auf einer Expedition zum Nordpol befindet. Doch sie wird von Schneestürmen und Dunkelheit eingeholt und findet letzten Unterschlupf im Iglu einer Inuit (gespielt von der Japanerin Rinko Kikuchi – weil: Hauptsache irgendwie ethnisch), wo die beiden Frauen bis zur Rückkehr der Sonne ums Überleben kämpfen. Dies wird auch zum zwischenmenschlichen Territorialkampf, als sich herausstellt, dass Allaka die Zweitfrau von Mr. Peary ist und sein Kind in ihrem Leib trägt.
Sehr naiv kolonialistisch erzählt der Film, wie sich die »weise Wilde« opfern darf, damit die weiße Amerikanerin ihre Sinnkrise bewältigen kann. Er ist damit letztlich nicht weiter als der älteste Film des Festivals: The Toll of the Sea von 1922, aus der »Technicolor«-Retrospektive – der seine Inspiration selbst schon von »Madame Butterfly« bezog. Auch hier gebiert eine »exotische« Geliebte einem fremdgehenden Amerikaner ein Kind – aber zumindest erlebt man das aus ihrem Blickwinkel und mit ihr als emotionaler Instanz. Und das Zweistreifen-Technicolor, die Stummfilm-Stilisierung heben das auf eine Ebene der bewussten Künstlichkeit, opernhafter Größe – während Coixet sich erfolglos an einem Naturalismus versucht, der aber gefangen bleibt in der Enge der zu erahnenden Wände und zerfließt in der Hitze des Studios auf Teneriffa.
Das ist das Eine, was Werner Herzogs ebenfalls – und aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – auf wenig Kritiker-Gegenliebe gestoßener Wettbewerbsbeitrag Queen of the Desert unbestreitbar voraus hatte: Wie immer, bleibt Herzog auch im Spielfilm im Grunde eine Dokumentarist. Wenn ein Film in der Wüste spielt, dann wird er in der tatsächlichen Weite der Wüste gedreht. Wenn während der Dreharbeiten am Straßenrand ein photogener Aasgeier Herzogs Aufmerksamkeit erregt, darf er kurz darauf untrainiert in einer Szene nach Nicole Kidman und James Franco picken. Der Film zeigt nicht Kulissen und Statisten, sondern Orte und Einheimische.
Und selbst wenn er von den hochproblematischen Machtspielen der Kolonialmächte im Nahen Osten um den Ersten Weltkrieg herum handelt, bemüht er sich dennoch um eine respektvolle Darstellung der Kultur der Region.
Die Heldin dieses Films ist die Abenteurerin, Autorin, politische Beraterin und Spionin Gertrude Bell (Nicole Kidman). Die große Schwäche des Films ist, dem soviel Raum zu geben, was sie in die Wüste treibt: Der Verlust zweier geliebter Männer. Selbst wenn Werner Herzog grundsätzlich ein Regisseur für Liebesszenen und zärtliche Momente wäre, ist es fraglich, ob er der selbstverliebten Teilnahmslosigkeit James Francos einen Funken Anziehungskraft hätte entlocken können. Doch auch der ungleich überzeugendere Damian Lewis als spätere große Liebe kann nichts daran ändern, dass Queen of the Desert deutlich interessanter wäre, läge sein Fokus mehr auf dem Wirken Gertrude Bells. Herzogs Drehbuch kapituliert vor der historischen Perspektive mit den bis heute reichenden Folgen der damaligen geopolitischen Schachzüge.
Vielleicht auch wegen der – in Verhältnis zu der Kraft der Motive – diesmal oft eher blassen Bilder von Peter Zeitlinger, spürt man aber auch generell wenig von Herzogs Wagnis und Nähe zum Wahnsinn. Es sind überraschenderweise eher kleine, häusliche Szenen, in denen etwas unverwechselbar Bizarres aufflackert: Die wohl herzogschsten Momente des Films sind ein familiäres Abendessen, bei dem der Vater den Tisch zur »no-cry zone« erklärt und gewagte Theorien über den menschlichen Flüssigkeitshaushalt äußert. (»If you would cry more, you'd have to pee less.«) Und eine rätselhafte Hirschkuh, die vor dem Gartenfenster im englischen Herrenhaus bravourös ihren Gastauftritt als Symbol absolviert.
Peary und Bell finden sich wieder in Landschaften, die als Spiegel dienen für die Extremzustände ihrer Psyche – die gleichsam Monumente sind der Absenz.
In drei anderen Wettbewerbsfilmen mussten die Protagonisten ebenfalls einen Weg finden, mit einem traumatischen Verlust zu leben. Doch sie entkamen äußerlich nicht ihren gewohnten Umgebungen, die auch zur Falle für die Gedanken werden können.
Wim Wenders versucht in Every Thing Will Be Fine allerdings, solch alltäglichen Räumen etwas Außergewöhnlichkeit abzutrotzen, indem er sie in 3D filmt. Eine zunächst überraschend scheinende Entscheidung für ein derartiges Drama – doch durchaus schlüssig in jenen vereinzelten Momenten, wo die Räumlichkeit tatsächlich innere Zustände inszeniert. Umso enttäuschender ist, dass dies sich nicht als fundamentales Prinzip durch den ganzen Film zieht, sondern eher sporadisch eingesetzt wird. Über weite Strecken tritt das 3D dann wieder völlig in den Hintergrund; an anderen Stellen wirkt es, als wäre nicht die Dramaturgie, sondern lediglich die situativen Gegebenheiten des Drehorts Auslöser für die stereoskopische Gestaltung gewesen.
Ohnehin leidet der Film an einer gewissen Ortslosigkeit, da die Interieurs weniger in Kanada beheimatet scheinen als austauschbaren internationalen Designmagazinen entsprungen. Die Lebenswelt, die Wenders sich für Schriftsteller, Illustratoren, Übersetzerinnen vorstellt, ist abgekoppelt von jeder lokalen und ökonomischen Realität. Es ist ein Look, der auch den Schmerz abfedert: Er macht es einem – von einer raffiniert überrumpelnden Anfangssequenz abgesehen – nicht leichter, mitzufühlen mit den dezent narzisstischen Seelennöten des Autors Tomas Eldan. Über zwölf Jahre hinweg verfolgt man sein Ringen mit der Schuld, ein Kind totgefahren zu haben. Sein Leben bleibt durch das Unglück verknüpft mit dem der Hinterbliebenen; seine Beziehungen zu Frauen bleiben davon geprägt.
Als größte Leerstelle in dem Film prangt jedoch nicht das verlorene Kind, sondern die Abwesenheit des Hauptdarstellers: James Franco ist nicht mehr als ein talentiertes Lichtdouble. Allein schon die ersten Sekunden! Weniger überzeugend als ihn hat man wohl noch nie jemanden auf der Leinwand im Bett aufsitzen und seufzen sehen. Und an seinem ausdruckslosen Gesicht scheitern permanent – 3D hin oder her – alle Versuche des Films, Tiefe abzubilden.
Sowohl Małgorzata Szumowskas mit dem Regiepreis ausgezeichneter Body (Cialo) als auch Andrew Haighs 45 Years begnügen sich visuell mit zwei Dimensionen, arbeiten in der Rauminszenierung aber mit größerer Präzision, mit einem genau bemessenen Spiel mit Enge und Distanz.
In Body erwächst daraus nicht nur ein eindringliches Bild der Wohnung, in welcher der Untersuchungsrichter Janusz (Janusz Gajos) und seine Tochter Olga (Justyna Suwała) seit dem Tod der Mutter nebeneinander her wie Gefangene leben. Sondern er gewinnt dadurch trotz des zerknirschend klingenden Themas einen wunderbar trockenen Humor, behält ein waches Gefühl für die kleinen Absurditäten.
So ist es am Ende auch ein gemeinsames, befreiendes Lachen, das den Ausweg in ein echtes Leben nach dem Todesfall andeutet. Zuvor internalisiert jeder der beiden auf eigene Art die unverarbeitete Trauer. Die bulimische Tochter versucht, die Konturen ihres Selbst deutlicher greifbar zu machen, indem sie allen für sie überflüssigen Körper weghungert. Der Vater – der seinen Leib wahllos mit fettigem Fraß und Fusel füttert – bemüht sich entgegen seiner rationalen Weltsicht, den esoterischen Glauben an körperlose Seelen zu finden.
Das ist im Film alles feiner, dichter und vielschichtiger gewoben, als es die knappe Beschreibung ahnen lassen kann. Zur unerwarteten Mittlerin zwischen Vater und Tochter, zwischen Körper- und Weltflucht wird dabei Anna (Maja Ostaszewska), die zugleich Olgas Therapeutin und eine Freizeit-Spiritistin ist, die medialen Zugang zum jenseitigen Reich des Unsichtbaren verspricht. Der Film kokettiert bis zum Schluss mit der Verheißung von etwas Übersinnlichem, offenbart aber im letzten, charmanten Moment: Er wusste die ganze Zeit über, dass die einzig wahre Lösung im Akzeptieren der Tatsachen liegt.
Nichts in 45 Years mutet an, als gebe es auch nur die Möglichkeit des Übernatürlichen. Und doch ist er im Grunde ein Gespensterfilm.
Kurz vor ihrem 45-jährigen Hochzeitsjubiläum beginnt die ehemalige Lehrerin Kate Mercer (Charlotte Rampling) zu begreifen, dass ihre – durchaus glückliche – Ehe von Anfang an von einer Toten heimgesucht wurde: Sie wusste zwar vom Unfalltod der vorherigen Partnerin ihres Mannes Geoff (Tom Courtenay). Doch erst als deren vermisste, von den Zerstörungen der Zeit fast unberührte Leiche aus dem abtauenden Gletschereis der Alpen wieder auftaucht, stellt sich nach und nach heraus, wie sehr Kate eventuell für Geoff nur eine Art Wiedergängerin von Katja war, die so passgenau wie möglich die Lücke füllen sollte, welche die Verstorbene hinterließ. Es ist für sie fast, als wäre sie die ganzen Jahre unwissentlich besessen gewesen von deren Geist. Und auch wenn es für eine Weile in der von beiden Seiten offenen Konfrontation mit ihrem Mann so aussieht, als könne sie ihre subjektiv immer gefühlte Eigenständigkeit behaupten, muss sie – in dem unwahrscheinlich starken Schlussbild des Films – erkennen, wie unentrinnbar sie in jener Phantasie ihres Mannes gefangen ist.
Erst rückblickend wird einem als Zuschauer wirklich bewusst, wie sehr 45 Years durchgehend subtil als Horrorfilm inszeniert ist. Er bedient sich unterschwellig zahlreicher klassischer Stilmittel, Techniken dieses Genres, verwandelt das vertraute Heim in ein Spukhaus. Da ist der Hund, der etwas Unheilvolles wittert und sein Frauchen auf eine unsichtbare Präsenz hinweisen will. Da ist die zunächst noch unerklärliche Veränderung des Manns, als habe etwas von ihm Besitz ergriffen. Da ist eine Gliederung des Films durch Wochentage wie in Shining – die das beklemmende Gefühl aufkommen lässt, dass alles ein unschönes Ende nehmen wird. Da ist das Sounddesign, das dem Ticken der Wanduhr eine übernatürliche Klarheit, eine Unausweichlichkeit gibt. Und das Geoffs Schritten auf dem Speicher eine bedrohliche Resonanz verleiht; das den Luftzug von dort nach einem Hauch aus dem Jenseits klingen lässt.
Als Kate schließlich ihren Mut zusammennimmt und den wie ein verbotener Raum aus »Blaubart« oder »Jane Eyre« fungierender Dachboden betritt, materialisiert sich dort für sie zum ersten Mal wirklich Katja: Zunächst in Fotoalben, dann zum Scheinleben erweckt auf Super-8-Filmen.
Kate stöbert nach einem Projektor, improvisiert mit einem Bettlaken eine Leinwand, löscht das Licht – und ruft die gespensterhafte, seit fast fünf Jahrzehnten in der Zeit erstarrte Erscheinung Katjas herbei.
Ohne ein einziges übernatürliches Moment ist 45 Years auf seine Weise ein Film über Geisterphotographie.