66. Berlinale 2016
Schwangerschafts-Streifen |
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24 Wochen von Anne Zohra Berrached: Nicht reißerisch, neutral aber nicht steril, mitfühlend aber nicht emotionsheischend | ||
(Foto: Neue Visionen Filmverleih GmbH) |
Von Anna Edelmann
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Die Berlinale hat sich auf die Fahnen geschrieben – zumindest solange der Glamour von echtem Weltformat und die cineastischen Großereignisse außer ihrer Reichweite bleiben –, das politische der A-Filmfestivals zu sein.
Inzwischen scheint diese (eher neue und notgeborene) Selbstdefinition auch in den Köpfen verankert, sowohl der Filmemacher wie der Berichterstatter: Fragen wie Antworten auf den Pressekonferenzen betonen diese angebliche politische Ausrichtung und Relevanz immer häufiger. Und sie ist selbstverständlicher Bestandteil der Selbstinszenierung geworden, mit Spendenboxen in den Kinofoyers und Minijobs im Streetfood-Truck für Geflüchtete.
Aber bei allen
weltpolitischen Themen und Gesten, allen ausgerufenen tagesaktuellen Motti, offenbarte sich Film um Film etwas Intimeres als das insgeheime Leitmotiv des diesjährigen Festivals. Vielleicht gerade weil momentan die Zukunft der gesamten Menschheit so unüberschaubar prekär scheint, verhandeln sehr viele Filme auf persönlicher Ebene Fragen nach der Zukunft – nach einer kommenden Generation und der Welt, mit der diese sich auseinandersetzen muss.
Wenn die Berlinale
2016 ein Thema hatte, dann war es Schwangerschaft, Elternschaft, war es das Verhältnis von Eltern und Kindern.
Gleich in den Eröffnungsfilm hatte sich dieses Motiv geschmuggelt.
Hail, Caesar! von den Coen-Brüdern ist eigentlich eine Hommage an das Hollywood der frühen 1950er, zur Zeit des beginnenden Niedergangs des klassischen Studiosystems: Eine Hommage an das Kino als Schnittstelle von Politik, Ökonomie und Kunst, von Begehren und Repression, von einem Streben nach
wirtschaftlichem Erfolg wie cineastischer Transzendenz. Der Film ist zugleich eine surreale Karikatur der McCarthy-Ära; eine typisch Coensche Erkundung jüdischer Identität mit untypisch starken katholischen Elementen; liebevolle Parodie diverser aus der Mode gekommener Genres – aber er handelt zentral auch von der Verfügung der Filmindustrie über die Körper ihrer Angestellten, deren Sexualität und Reproduktion: Wo Stars oder Regisseure sich sexuelle Freiheiten nehmen,
die zum geschäftsschädigenden Imageproblem werden könnten, schreitet das Studio ein. Und sorgt – ob durch Spontanehe, oder Adoption durch die leibliche Mutter selbst – dafür, dass das störende Kind scheinbar moralisch sauber an den Mann gebracht wird.
Auch am Auftakt des Wettbewerbs kam das Elternschafts-Thema noch in Verkleidung daher, im tarnenden Genre-Gewand.
Die offensichtlichen Inspirationen für Jeff Nichols' Midnight Special lieferte das Science Fiction-Kino der 1980er: Steven Spielbergs E.T. und Close Encounters
of The Third Kind, John Carpenters Starman – Filme über amerikanische Familien, wohlgesonnene Aliens und bedrohliche Geheimdienst-Agenten.
Doch diese Genre-Fantasie speist sich auch aus einer tieferen, psychologischeren Quelle: Man muss nicht Nichols' Statement auf der Pressekonferenz gehört haben, dass eine lebensbedrohliche Krankheit seines eigenen Kindes ihm dessen Fragilität und Sterblichkeit schlagartig bewusst gemacht hat,
um zu spüren, dass diese Geschichte insgeheim von der Angst der Eltern vor dem Tod eines Kindes handelt.
Die größte Faszination entwickelt Midnight Special am Anfang, wo er einen narrativ ins kalte Wasser schmeißt: Zwei Männer befinden sich auf der Flucht – bei ihnen ein kleiner Junge, von der Außenwelt abgeschirmt mit Kopfhörern und geschwärzter Schwimmbrille. Wer die Männer sind, in
welchem Verhältnis sie zu dem Kind stehen, warum der Junge so seltsam isoliert wird – all das klärt sich erst allmählich, puzzlestückweise.
Midnight Special ist ein Roadmovie mit Aliens, dem am Beginn der Reise noch unzählige ungesehene Möglichkeiten offenzustehen scheinen. Nicht zuletzt der für Nichols (Shotgun Stories, Take Shelter) charakteristische bedeutungsbleischwere Tonfall und Michael Shannons beunruhigend unlesbarer Blick wecken die Erwartung, dass der Film ein paar ungewöhnlichere Abzweigungen nimmt; dass er ein Terrain mit bewussten Tiefenebenen ansteuert. Doch je länger die Fahrt dauert, je klarer wird, dass sie tatsächlich
keinem anderen Ziel gilt als einer bald erstaunlich konventionellen Genre-Hommage. Bis auf ein paar absichtsvolle – aber wenig produktive – Verstöße gegen gängige, brav geschlossene Erzähl-Ökonomie wäre das Drehbuch letztlich nur schwer zu unterscheiden von Direct-to-DVD-Science-Fiction. Und je expliziter die Special Effects die Existenz einer anderen Realität machen, je banaler wirkt diese.
Die Tonnenlast, die Nichols' Filme stets auf dem Buckel zu tragen scheinen,
hatte in Take Shelter eine Entsprechung in der erzählten Geschichte und Welt. Hier aber bleibt ihr Versprechen nicht nur uneingelöst – sie nimmt dem Film auch genau das, was seine erklärten Vorbilder auszeichnete: Die bewusste, staunende Naivität, den Blick durch kindliche Augen.
An einem verwandten Problem litt der dänisch-schwedisch Shelley. Hier gab es kein explizites Statement des Regisseurs und Autors Ali Abbasi zum Zündfunken für die Geschichte. Aber es würde einen keineswegs wundern, wenn – bewusst oder unbewusst – ambivalente, angstbesetzte Gefühle angesichts einer eigenen (bevorstehenden?) Elternschaft eine Rolle gespielt hätten.
Shelley macht freilich kein Hehl daraus, ein
Horrorfilm sein zu wollen; stellt sich von Beginn an in die Genre-Tradition, bedient die Konvention. Eine junge rumänische Frau kommt als Haushaltshilfe in das abgeschiedene, autarke Waldhaus eines dänischen Paars. Und geht auf deren Vorschlag ein, zur Leihmutter zu werden. Kaum schwanger, scheint in ihrem Leib jedoch nicht nur ein neues Leben, sondern etwas Bedrohliches, Dämonisches heranzuwachsen.
Shelley – dessen Bilder gern knapp an der Grenze
zur völligen Lichtlosigkeit herumgründeln – beherrscht recht gut die Klaviatur des Bangemachens. Doch je äußerlicher dramatisch und blutig er wird, je mehr kommt es ihm im die Quere, dass er in seiner ruhigeren ersten Hälfte eine viel realere Beklemmung, ein Interesse an einem echten zwischenmenschlich-psychologischen Grusel geweckt hat – an den der spätere übernatürliche Budenzauber, an den Mord und Totschlag in ihrer Wirkung nicht heranreichen können.
Es muss freilich nicht immer die eigene Schwangerschaft sein, die Ängste hervorruft: In André Téchinés Quand on a 17 ans ist es die unerwartete, späte Schwangerschaft seiner Adoptivmutter, die für Tom (Corentin Fila) gleichsam zum Countdown wird. Der Film selbst ist entlang dieser neun Monate strukturiert, ist in drei Trimester (die sich auch auf das Schuljahr beziehen) unterteilt.
Tom
hat als Adoptivsohn die Furcht – ja die seltsame, nicht im realen Verhalten der Eltern begründete Gewissheit –, durch das leibliche Kind abgelöst, verdrängt zu werden. Für ihn geht die Mutter sozusagen mit seiner Zukunft schwanger – sobald das Kind da ist, muss er seine eigene Kindheit zurücklassen.
Und so nabelt er sich immer mehr ab, zumal er nach dem bevorstehenden Abitur auch für die Welt kein Kind mehr sein wird. Er gerät durch eine Verkettung von Umständen
quasi in eine zweite Adoptivfamilie: Die der Ärztin Marianne (Sandrine Kiberlain), Mutter des Klassenkameraden Damien (Kacey Mottet Klein) – deren Haus näher an der Schule liegt als sein elterlicher, abgeschiedener Hof oben am Berg.
Die körperliche Rivalität von Tom und Damien ist Ausdruck eines inneren Kampfs: Gegen und um die eigene sexuelle Orientierung, um irgendeine Form leiblicher Nähe.
Getragen wird Quand on a 17 ans von den beiden Hauptdarstellern, die der altmeisterlichen Konstruktion von Téchinés Film eine tatsächliche jugendliche Frische, Lebendigkeit, Neugier verleihen, frei von jedem Anflug klischeehaften Teenager-Weltschmerzes.
Dafür wäre ein Darstellerpreis mehr als berechtigt gewesen – ganz im Gegensatz zu dem rätselhaften Regie-Bären für den anderen »klassisch französischen« Film im Wettbewerb: Mia Hansen-Løves L’avenir.
Der Film erzählt von einer alternden Philosophie-Lehrerin (Isabelle Huppert), die überraschend von ihrem Mann verlassen wird und ihr Leben neu definieren
müsste. Doch die Figur bleibt rigide – egal was ihr begegnet an anderen Denk- und Lebensentwürfen, sie bleibt davon letztlich unbewegt, von der unverrückbaren Richtigkeit ihrer Sichtweise überzeugt.
Der Regiepreis dafür ist gerade deshalb so wenig nachvollziehbar, weil man das Gefühl hat, dass das Drehbuch einen zumindest etwas stärkeren Film abgegeben hätte, wenn die Inszenierung mehr Distanz zur Hauptfigur gefunden hätte – wenn sie deren stures Be- und Verharren
mehr in Frage gestellt hätte, statt es zu teilen. Wenn es ein Film über Leute geworden wäre, für die Philosophie mehr Deko im Regal als Inhalt ist – statt ein Film, der sich selbst so verhält.
In L’avenir wird immer wieder die Frage gestellt nach der Notwendigkeit von Radikalität, und nach dem Zusammenhang von philosophischer Überzeugung und tatsächlichem Handeln. Doch
ästhetisch legt er sich von der ersten Minute an fest gegen jede Möglichkeit von Radikalität, von Ausbruch aus seiner aufgeräumten Studienrats-Unsinnlichkeit. L’avenir ist in jeder Hinsicht so unerträglich beige.
Das Wenige, was man an wirklicher Sinnsuche spürt, reduziert der Film am Ende – und das eher beliebig als zwingend – auf die neue Lebensrolle der
Hauptfigur als Großmutter. Die Geburt des Enkels scheint alle philosophischen Fragen hinreichend zu beantworten.
Selbst in Filmen, die scheinbar gar nichts mit dem Thema Mutterschaft zu tun hatten, entpuppte sich genau diese letztlich als Motivation für die Hauptfiguren:
Eines der wenigen psychologisch tiefergehenden Erklärungsangebote für den (realen) Selbstmord der Fernsehreporterin Christine Chubbuck, das Robert Greenes Kate Plays Christine – bei aller verkünstelten Selbstgerechtigkeit und vermeintlichen moralischen Überlegenheit
gegenüber seinem Publikum – macht, ist ihr unerfüllter Kinderwunsch.
Und hinter der psychischen Exzentrik der Hauptfigur in Hee steckt gar ein doppeltes, generationsübergreifendes Mutter-Tochter-Trauma. Was freilich das vor allem der eigenen Eitelkeit fröhnenden Volkshochschulkunst-Projekt von und mit Kaori Momoi auch nicht weniger tantenhaft macht.
In Alone in Berlin schließlich – der sich wohl wirklich rein aus wirtschaftlichen Gründen in den Wettbewerb verirrt hatte – ist es der »Heldentod« des Sohnes, der ein Elternpaar in den 1940ern aus dem Heer der Mitläufer ausscheren lässt. Nichts an Vincent Perez' gelackter Verfilmung von Hans Falladas derbem, aus dem Vollen seiner Zeit schöpfenden Roman »Jeder stirbt für sich allein« entwickelt auch nur einen Funken von
Wahrhaftigkeit. Das fängt mit der Sprache an: Der Film ist in OmdA, »Original mit deutschem Akzent« – gedreht in Englisch, lässt er die Darsteller die Nähe zum Handlungsort durch germanischen Fantasie-Zungenschlag simulieren. Und schafft es dabei, selbst eigentlich über alle Zweifel erhabene Größen wie Emma Thompson und Brendan Gleeson wie schlechte Schauspieler wirken zu lassen.
Dass die Produktion sich nicht um die bisherigen filmischen Bearbeitungen des Stoffs
geschert hat, und »emotional, nicht politisch« an die Geschichte herangeht, wäre an sich nicht schlimm. Wenn sie irgendetwas anderes ausstrahlen würde als die fatale Glätte eines Fernseh-Event-Zweiteilers. So ist es ein Film, der wohl vor allem existiert, um deutschen Lehrern die Vorbereitung einer Schulstunde zu ersparen.
In dem einzigen deutschen Wettbewerbsbeitrag wurde das heimliche Leitmotiv dieser Berlinale schließlich eindeutig offenbar: 24 Wochen von Anne Zohra Berrached handelt von dem Konflikt einer Frau, an deren ungeborenen Kind Trisomie 21 diagnostiziert wird. Zunächst ändert dies nichts daran, dass sie und ihr Mann sich dieses Kind wünschen. Doch als weitere medizinische
Komplikationen entdeckt werden, fühlt sie sich der Lage nicht mehr so selbstverständlich gewachsen, und den Gedanken an einen Schwangerschaftsabbruch nicht mehr so undenkbar.
In seinen Spielfilmelementen ist das eher typisch deutsches Kino. Und auch wenn er erfreulich viel richtig macht, was hätte falsch laufen können, und durchaus geschickt und effektiv an und durch das Thema führt, hat er darin doch einen Hauch von Konstruiertheit.
Aber Julia Jentsch und Bjarne Mädel
machen vieles schmerzhaft lebendig und emotional greifbar, was bloß narrativer Zweck hätte bleiben können. (Außer freilich jenen Szenen, in denen Jentschs Figur dem Beruf als Stand-up-Komikerin nachgeht.)
Und alle Schwächen des Films werden reichlich irrelevant in seinen halbdokumentarischen Momenten: Im Prinzip dient der Spielfilm dazu, so nah wie möglich an die Dokumentation eines Vorgangs zu gelangen, der aus naheliegenden Gründen der realen Abbildung nicht zugänglich ist.
Als es am Ende zur Abtreibung kommt, bleibt 24 Wochen konsequent aber nicht reißerisch, neutral aber nicht steril, mitfühlend aber nicht emotionsheischend dabei. Und die beteiligte, im Gespräch vorbereitende Hebamme, der ausführende Arzt sind keine Schauspieler, sondern Menschen, die tatsächlich diese Berufe ausüben.
Ihre Sätze, ihr Tonfall gehorchen spürbar der banalen
menschlichen Realität und Situation statt den Anforderungen von Dramaturgie und ästhetischer Konvention. Bei allem, was dennoch Inszenierung ist und bleibt, haben sie etwas unreduzierbar Wahrhaftiges, das durch die Abdichtung der filmischen Wahrnehmungsgewohnheit stößt – und einen trifft.
(Noch konsequenter undramatisch nahm sich allerdings Rachel Langs Baden Baden dem Thema Abtreibung an – ja, verweigerte ihm den Status eines »Themas«: In dem leichtfüßigen, gekonnt elliptisch erzählten Film über eine junge Frau, die ihr Leben frei hält von großen Zielen, ist auch ein Schwangerschaftsabbruch nur eine kurze, nicht zentrale Episode. Ist nichts, worum der Film, die Identität der Protagonistin, ihr Fragen lange kreisen.)
24 Wochen war damit Teil des Phänomens, dass in diesem Jahrgang tendenziell die Dokumentarfilme deutlich stärker waren als die Spielfilme.
Wenn man so will, dann präsentierte Nikolaus Geyrhalters Homo sapiens das ins Unendliche verlängerte Ende all der menschlichen Dramen aus all den anderen Filmen: Der Film zeigt eine unkommentierte
Aneinanderreihung von einst menschgemachten, längst menschenleeren Orten. Von Ruinen, aus denen höchstens der Wildwuchs der Natur wiederaufersteht. Alles in statischer Kadrierung, ohne geographische Angaben, ohne Erklärung für Verfall und Verlassenheit, geordnet kontinenteübergreifend meist nach der einstigen Funktion der verrottenden Gebäude: Freizeitparadiese, Schulen, Krankenhäuser, Fabriken. Eine Folge bewegter, tönender Photographien, in denen man selber auf
Spurensuche gehen, zu denen man sich seine eigenen Gedanken über Utopien und Vergänglichkeit machen darf und soll.
Ein Film darüber, wie es womöglich sein wird, wenn auch die letzten Kinder der letzten Generation von Menschen verschwunden sind.
Auch wenn es sich auf dem Papier erstmal so lesen mag, als hätte mit Fuocoammare halt der Film zum offiziellen Thema der Stunde den Goldenen Bären gewonnen, so handelt es sich in Wahrheit doch um den seltenen Fall eines frühen Festival-Favoriten, der dann würdiger Sieger wurde nicht wegen, sondern fast trotz seines Gegenstands.
Denn freilich erreicht einen Gianfranco Rosis
Werk über Lampedusa an einem Zeitpunkt, wo man glaubt, so gut wie alle Bilder zu Flucht und Europa gesehen, alle Meinungen dazu gehört zu haben. Als dezidierte Kino-Dokumentation gelingt dem Film aber, was weder ein Spielfilm, noch die aktuelle Reportage schaffen können: Einem einen neuen, anderen Zugang und Kontext zur vermeintlich bekannten Realität zu geben.
Fuocoammare hat – nicht
zuletzt durch seine bewusst und ästhetisch gewählten, gesetzten Bilder – etwas Überzeitliches. Ist, über die Tagespolitik hinaus, auch ein Film über das Meer als Ort des Lebens, der Arbeit, der Flucht und des Todes. Und er beginnt nicht mit dem Schicksal der Geflüchteten. Er beginnt mit dem Alltag der Fischerfamilien auf Lampeduse – mit dem Alltag eines Jungen aus einer dieser Familien, der Experte ist im Basteln von Steinschleudern, seine gewöhnlichen Sorgen hat mit
der Schule und der Erwartung, später selbst einmal Fischer zu werden, obwohl er alles andere als seefest ist.
Zunächst scheint das unberührt von den auf der Insel anlangenden Strömen verzweifelter afrikanischer Geflüchteter – die auch Rosi erst allmählich in den Film eintreten lässt. Wobei Fuocoammare diesen Kontrast nicht instrumentalisiert, um irgendwen zu verurteilen, sondern ihn beobachtet. Der Film wird nicht von einer klaren Aussage-Absicht getrieben, sondern von einer offenen
Neugier.
Ihn interessiert es nicht minder, wo und wie sich die zwei Welten auf Lampedusa nicht berühren. Oder wo sie nur ineinander diffundieren: Wenn der Junge bei seinen Ruder-Übungen zwischen der Armada an Marine-Schiffen steckenbleibt. Wenn der Arzt, der ihn wegen seiner diffusen Beklemmungs-Attacken behandelt, sich auch um die Ultraschall-Untersuchung einer schwangeren Geflüchteten sorgt.
Es ist dieser Arzt – in jener Szene als scheinbar eher unbeholfen, hilflos
eingeführt – der später zum Nähesten avanciert, was dieser Film an einem Helden zu bieten hat. Als er, im Halbprofil, einen erschütternd ruhigen Monolog hält über die Verpflichtung zu helfen, die er verpürt – und das, was er dabei erlebt, was er dabei an unvergessbaren Dingen sieht, und was das mit ihm als Mensch anstellt.
Wenn man später mit diesem Arzt bei der Rettung eines heillos überfüllten Flüchtlingsbootes dabei ist – oder beim Versuch der Rettung all jener,
die dort noch irgendwie am Leben sind, dann hat einen Fuocoammare an einem Punkt, wo man diese Bilder (die schonungslos, aber nicht sensationsgierig wirken) tatsächlich sieht. Wo sie einen auf eine Weise erreichen und berühren, wie es die Nachrichtenbilder längst nicht mehr können.
Und freilich zielt der Film auf eine Symbolkraft ab, wenn er den kleinen Jungen vor dem abendlichen Meer mit imaginären Waffen rumballern, MG-Schießen spielen lässt. Gewiss: das soll nicht das optimistischste Bild der kommenden Generation zeichnen.
Doch so wenig Fuocoammare einem die Hoffnung auf eine baldige oder einfache Lösung der Situation gibt – so lässt er einem doch,
nicht zuletzt dank des biederen, ruhigen Arztes mit seinem stillen, selbstverständlichen, humanen Heldentums, den Glauben an zumindest die Möglichkeit von Menschlichkeit.
Es war das Glück der Berlinale – die sich sonst doch oft dem Verdacht aussetzt, bei der Filmauswahl vor allem aufs Thema zu schauen – diesmal in Fuocoammare einen Beitrag zu finden, der dem Anspruch nach vorgeblicher politischer Relevanz genügte, und dennoch auch künstlerisch über die Zweifel erhaben war.
Am Grundeindruck der letzten Jahre konnte das jedoch nicht viel
ändern: Die Berlinale ist Arbeit. Man geht ja nicht zum Vergnügen ins Kino!
Schon 2010 hatten Gustave Kervern und Benoît Delépine da den Wettbewerb aufgemischt mit Mammuth – einem großartigen Film über Arbeit im 21. Jahrhundert, der aber zu unverschämt derb, saft- und kraftvoll, gewitzt war, um diesem Festival preiswürdig zu scheinen.
Nun musste ihr Saint Amour wohl zur Sicherheit gleich »Außer Konkurrenz« antreten. Obwohl die polternden Belgier nicht nur auf der Pressekonferenz einen unerwarteten Hauch Altersmilde bewiesen.
Davon merkt man freilich zunächst wenig, wenn der Film auf einer französischen Landwirtschaftsausstellung beginnt, mit einem grandios verlotterten Benoît Poelvoorde als versoffenem Kleinbauern (einst auf die Rolle gesetzter,
melancholischer Liebhaber abonniert, hat Poelvoorde neuerdings einen hinreißenden Faible für Kackspechte entwickelt) und Gérard Depardieu als dessen bemühter, aber entfremdeter Vater. Poelvoorde genügt es schließlich nicht mehr, seine Weinreisen immer nur an der Route der Winzerstände in den Messehallen entlang zu machen. Und so heuern er und Depardieu einen Taxifahrer (Vincent Lacoste) an, der sie tatsächlich auf Trinkertour durch die französischen Lande karren
soll.
Das beginnt erwartbar weingetränkt – womit man bei Kervern & Delépine allerdings nicht unbedingt gerechnet hätte ist, dass es nach und nach zu einem erstaunlich zärtlichen Film über Vaterschaft wird. In dem erstaunlich viele, erstaunlich selbstbestimmte Frauen eine wichtige Rolle spielen.
(Selbst den alten Menschenfeind Michel Houellebecq lassen sie nicht nur als grattligen Pensions-Vermieter auftreten, sondern als Vater einer großen Familie, der lärmendes
Kinderspielzeug demonstriert.)
Was anfangs noch so wirkt, als wollten die Männer den Alkohol-Rausch nur mit etwas beiläufigem Sex garnieren, führt zu immer menschlicheren Begegnungen, bei denen wirklich gilt: Alles kann, nichts muss.
Über die drei Generationen hinweg wird den Kerlen irgendwann die Idee lieb, so etwas wie Verantwortung und Liebe zu entwickeln. Was Saint
Amour auf ziemlich clevere, utopische Weise von der rein biologischen Tatsache einer Vaterschaft abnabelt.
Dabei war Saint Amour einem gegen Ende des Festivals auch deswegen so hochwillkommen, weil er nicht nur daran erinnerte, dass Kino auch lustvoll sein kann. Sondern zudem den unwiderlegbaren Beweis erbrachte, dass ein Film auch berührend, bereichernd, vielschichtig und mit langem Nachhall sein kann, ohne dabei bedeutungsschwanger sein zu müssen.