22.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Girls without batteries

Elle
Isabelle Huppert in Paul Verhoevens Elle begeistert unseren Cannes-Korrespondenten
(Foto: MFA+ FilmDistribution GmbH / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Basic Instincts: Visuelle Orgien, das Duracell-Männchen unter den Regisseuren und eine bezaubernde Vergewaltigungskomödie begeistern in Cannes – Cannes-Notizen, 14. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»There are delightful gardens to play in, your majesty.«
– aus: »Le Mort de Louis XIV.« von Albert Serra

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Was für ein toller Film! Boshaft, witzig, politisch unkorrekt, facet­ten­reich, glänzend gespielt, elegant und fehler­frei insze­niert – Paul Verhoeven ist zurück an der Croisette. Zehn Jahre nach Blackbook hat der 77-jährige wieder einen Film gemacht: Elle mit Isabelle Huppert in der Haupt­rolle.
Was schon die Credits verraten: Hier versteht einer sein Handwerk. Hier agiert einer stil­be­wusst, weiß in jeder Geste, jedem Aspekt, was er tut und was er tun will. Verhoeven Kino ist stylish, ein Form- und Bilder­kino, auch wenn ihm das, wovon er erzählt, noch so wichtig sein mag.

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Die erste Szene geht gleich zur Sache: Eine Katze guckt in die Kamera, dazu Beischlaf­geräu­sche. Der Schnitt von ihrem Gesicht lenkt auf Isabelle Huppert die im schwarzen Kleid am Boden liegt, und von einem maskierten Mann brutal verge­wal­tigt wird. Einen Moment glaubt man an ein Spiel, aber es ist ernst. Porzellan- und Glas­splitter liegen am Boden, und das Aussehen, auch die Pose der Huppert erinnert unver­kennbar an ihre Verge­wal­tungs­szene in Hanekes Die Klavier­spie­lerin. Damit posi­tio­niert Verhoeven gleich seine Haupt­figur in einem Feld aus Kälte, vermeint­li­cher Gefühl­lo­sig­keit, Maso­chismus, sexueller Perver­sion.
Das hat seine Gründe.

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Michèle, so heißt Hupperts Figur, steckt das Gesche­hene so weg. Sie ruft nicht die Polizei – dass sie mit dieser schlechte Erfah­rungen gemacht hat, erfahren wir später –, ruft auch keine Freunde an, sie nimmt ein heißes Bad, ordert Sushi – kalter Fisch für den »kalten Fisch«, das sind so Verhoe­vens sachte Ironien. Am Abend kommt ihr Sohn zu Besuch. Wir erfahren, dass sie reich ist, geschieden, den erwach­senen Sohn aushält.
Am nächsten Morgen geht sie zur Arbeit – sie ist eine Chefin: Mit einer Freundin (Anne Consiny) hat sie ein Unter­nehmen gegründet, das Compu­ter­spiele konstru­iert. Auch dies nimmt Verhoeven zum Anlass für kleine, gute, böse Witze: Über Digi­ta­li­sie­rung, Game-Kultur, Gene­ra­ti­ons­un­ter­schiede, Dummheit und »die jungen Leute«. Damit setzt er den Ton einer leichten Sozi­al­komödie.
Seine Haupt­figur aber nimmt er ernst, und deren Witz ist immer gebrochen: Man begreift früh, dass ihre Geschichte so witzig gar nicht ist.

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Michèle scheint unzer­störbar, eiskalt. Als Chefin ist sie kurz ange­bunden, komman­die­rend. Einmal sagt sie zu einem Ange­stellten: »Show me your dick, and you may not be fired.« Der Zusam­men­gang von Kapi­ta­lismus und Perver­sion. Nur mit ihrer Freundin ist sie nett und kame­rad­schaft­lich. Eine kalte, aber keine unsym­pa­thi­sche Figur. In Tagträumen stellt sie sich ihre Verge­wal­ti­gung noch einmal vor, mit dem Unter­schied, dass sie dem Täter den Schädel einschlägt.
Ihre alte Mutter nennt sie »selbst­süchtig«, und es gibt offenbar viele Menschen, die ihr und ihrem Vater, den wir nur vom Hören­sagen kennen, irgend­etwas übel­nehmen. Sie wird im Restau­rant von einer Fremden beschimpft. Der Vater sei nicht nur ein Mann, sondern eben auch ein Monster, sagt Michèle zu ihrer Mutter – und wir stellen uns einen Finanzhai vor.

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Dann öffnet sich ein zweiter Erzähl­strang: Paranoia. Denn der Verge­wal­tiger kontak­tiert sie per SMS. Offenbar beob­achtet er sie. Der Nachbar, auf den Michèle ein Auge geworfen hat, obwohl er verhei­ratet ist, hat im Garten einen maskierten Mann beob­achtet, und zu stellen versucht. In der Firma hat ein Unbe­kannter auf den Rechner eine Animation gespielt, die eine Verge­wal­ti­gung Michèles zeigt. Der Täter stammt offenbar aus der Firma, und so versucht bittet sie einen ihrer Ange­stellten die Kollegen zu bespit­zeln.
Michèles Ex-Mann, ein erfolg­loser Schrift­steller und Unidozent, mit dem sie nach wie vor gut befreundet ist, hat eine neue Freundin, offenbar ist es »was Ernsteres«, worunter Michèle leidet: »Davor habe ich Angst: Die Bimbos mit dem großen Busen nicht. Aber eine Frau, die ›Das Andere Geschlecht‹ gelesen hat, die ist Dir gefähr­lich.«

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Eine Weih­nachts­feier, ebenfalls wunderbar boshaft in ihrem Anti­ka­tho­li­zismus. Michèle versucht den Nachbarn zu verführen, und erzählt ihm irgend­wann, die Wahrheit über sich und ihren Vater: Der sei ein gläubiger katholik gewesen, habe immer allen Kindern des Viertels ein segnendes Kreuz auf die Stirn gemacht, bis manche eltern ihm das eines Tages verboten hätten. »Daraufhin ging er eines Tages in die Häuser der ganzen Familien unserer Straße und besuchte die Nachbarn – mit einer Shotgun und einem Schlach­ter­messer hat er 27 Leute und sechs Katzen getötet, mehrere Hunde auch. Aus irgend­einem Grund hat er die Hamster leben lassen.«

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Ein großartig-abgrün­diger Moment: Am Tag der Verhaf­tung wurde von der Polizei ein Foto der Tochter Michèle an die Presse gegeben – das sie nur mit einem Nachthemd im Garten zeigt – manchem hätten sie für eine Komplizin gehalten, sie sei das »little girl psycho­path«, und ein TV-Bericht fragt: »Welche Rolle spielte die Tochter? Und vor allem: Warum?«

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Es geht so weiter, im Wechsel der Ebenen. Die Mutter stirbt. Der Verge­wal­tiger kommt wieder, überfällt Michèle ein zweites Mal, doch sie wehrt sich erfolg­rei­cher, verletzt ihn an der Hand und reißt ihm die Maske vom Gesicht – es ist der nette Nachbar. Sie zeigt ihn nicht an, im Gegenteil lässt sie sich auf Risiken ein, und von ihm zum Abend­essen einladen. Im Keller fällt er über sie her, sie ermuntert ihn, er lässt von ihr ab: »It doesn’t work for me like that. It has to be like before.« Sie: »Merci pour le diner!« Der Vater im Gefängnis bringt sich um, als er hört, sie wolle ihn nach über 40 Jahren besuchen. Es gibt einen Auto­un­fall. Eine Party.
Und der Tod der Eltern bewirkt bei Michèle sichtbar deren eigene Befreiung. Sie wird warm­her­ziger, tut etwas für ihre Mitmen­schen, will vor allem »keine Lügen mehr.« Sie erklärt dem Nachbarn, sie werde ihn anzeigen, und als der sie kurz darauf nochmals überfällt, erschlägt ihn der Sohn, der zufällig gerade in der Nähe ist.
Für Michèle eine weitere Befreiung: Über­stehen ist alles.
Das letzte Bild: Auf dem Friedhof, wo sie Blumen am Grab beider Eltern nieder­legt, geht sie mit ihrer Freundin langsam einen Kiesweh entlang, mit dem Rücken zur Kamera: »I thought i could move in with you for a while«, sagt die Freundin.

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Ein bisschen viel viel­leicht, ein bisschen konstru­iert, aber gleich­zeitig glän­zendes Kino: Intel­li­gent, unter­hal­tend, top. Nichts Seichtes wie Woody Allen, der dann auf Pres­se­kon­fe­renzen Witze über Verge­wal­ti­gungs­witze macht, sondern tatsäch­lich eine funk­tio­nie­rende und – ja – bezau­bernde Verge­wal­ti­gungs­komödie.
Erzählt mit glän­zender Kamera, tollen Schnitten, Verhoeven zeigt, was Feti­schismus im Kino ist: Form und Bilder, schrille over-the-top-Momente. Aber als Form des Erzählens, nicht um ihrer selbst willen.

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»Leider bin ich eins von den iPhone-Opfern und mein Akku war dann leer«, simst Ella am Donners­tag­morgen. Kurz darauf von Nil: »My phone was dead yesterday night.« »Sorry, I was without batteries«, höre ich dann noch auf der Pres­se­ter­rasse – viel­leicht hatten die Damen ja auch nur Besseres zu tun, aber allemal komme ich dann in der Fülle der gleichen Erfahrung darauf, was für ein zauber­hafter Titel »girls without batteries« wäre, für einen poeti­schen Science-Fiction ebenso wie für eine Mumb­le­core-Soap.

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Total leer sind die Batterien der Schau­spieler von Anfang an in The Neon Demon, nur von einem nicht, dem Regisseur. Der macht eher den Eindruck eines Duracell-Männchens unter den Filme­ma­chern.

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»I am the future« – Nicolas Winding Refn ist der Typ Mensch, der als Junge auf dem Pausenhof oft verdro­schen wurde. Jetzt macht er Filme und hat für sich einen Akt kulti­viert, eine Art Toni Erdmann für Regis­seure. Darin spielt er den Alpha­re­gis­seur, und kombi­niert stein­zeit­li­ches Revier­ver­halten mit der Arroganz, von der er glaubt, dass sie belegt, was für ein toller Regisseur er ist. Seine Sätze übt er vermut­lich zuhause vor dem Spiegel: »I am the best and the worst Cannes has to offer.« Oder »At home I am a masochist, at the set I am a sadist.«
Die sehr geschätzte Wiener Kollegin Alexandra Zawia hat ihn inter­viewt, und mir diese unfass­baren Zitate aus ihrem Gespräch berichtet. Da wollen wir natürlich mehr davon: Am kommenden Mittwoch gibt es in unserer Cannes-Nach­be­richt­erstat­tung das komplette Interview.

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Im Pres­se­heft und in den Filmeröff­nungs­credits nennt sich der Däne Nicolas Winding Refn, der 2011 für Drive den Regie­preis gewann, nur noch NWR. So wollen wir es dann also auch halten. NWRs neues Werk ist in der Model-Szene von Los Angeles ange­sie­delt: Der Film nimmt einen langen, sehr langen Anlauf.

Zum Score von Cliff Martinez kommt schöne Neon­farben, Ästhe­ti­zismus pur, dann ein Photoset. Wir lernen ein Mädchen kennen, gespielt von Elle Fanning (die ich persön­lich ja gar nicht so »schön« finde, wie NWR, sondern eher gewöh­nungs­be­dürftig): Jesse ist neu in L.A., und der Film begleitet sie bei den ersten Schritten ihrer Model-Karriere: Agentur, gefaktes Alter, ein Abend in einem Club mit einer lesbi­schen Masken­bild­nerin, die auch Tote schminkt, und das Treffen mit anderen Models.
Dann ein Vorspre­chen. Ein Moment wie aus Mulhol­land Drive: »This is the girl!«

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Das könnte nun inter­es­sant sein, erstickte alles nicht von Beginn an in präten­tiöser Lang­sam­keit. So bleiben Bilder, die sich in ein Ganzes aber nicht fügen wollen. NWR verwei­gert sich allem, was nicht in der Ober­fläche der Bilder liegt und badet wiederum in diesen. Das Resultat ist vor allem trocken und aseptisch, einfach doof.

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Es will ein Diskurs über Schönheit sein. »True beauty is the highest currency we have. If she wasn’t beautiful, you would not even start to look.«
Das stimmt schon, darf aber trotzdem durch­dacht, reflek­tiert und entfaltet werden.

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Es fallen ein paar nette Dialogsätze: »People believe what they are told.« »I am pretty and I am more than just pretty. They want me to lie.« »I am not as helpless, than I look.« »When you become 21 you are so irrele­vant in this industry.« »What does it feel like? To walk in a room and to be seen. To walk into a room and in the middle of the night, you are a sun.«
Aber das ist alles eine Behaup­tung. NWR glaubt zu sehr an seine eigenen Dialogsätze: »People believe what they are told.«
So entgeht ihm, dass dies eben nicht der Fall ist. Die Leute glauben, was ihnen gezeigt wird, was sie sehen. Und das ist hier vor allem erstmal leer. Menschen werden zu Objekten, Feti­schismus 4.0.
Das einzige funk­tio­nie­rende Bild ist ein Puma in einem Motel-Zimmer. Und ein paar schöne leere Holly­wood­villen, mit leeren Pools. Die versteckte Pracht L.A.s. Ansonsten tun schöne Frauen schöne Dinge, während der doch der Neid zwischen den Schönen wächst... Direct into DVD. Oder?

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Dann aber.... ist der sehr lange Anlauf zuende. Und in der letzten Vier­tel­stunde macht The Neon Demon einiges wieder gut: Ein Girl-Slasher und Kanni­balen-Showdown, Blutbad mit Basic Instinct-Zitaten. Ein Menschen-Auge wird ausge­spuckt, von einer anderen wieder gegessen und eine schöne Frau entleibt sich selbst. Ein Knaller!
Ein feti­schis­ti­scher Film und eine visuelle Orgie, die Kino einseitig als Ort des visuellen Exzess und der Schau­werte feiert. Auch das gehört zu Cannes.

(to be continued)