69. Filmfestspiele Cannes 2016
Girls without batteries |
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Isabelle Huppert in Paul Verhoevens Elle begeistert unseren Cannes-Korrespondenten | ||
(Foto: MFA+ FilmDistribution GmbH / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
»There are delightful gardens to play in, your majesty.«
– aus: »Le Mort de Louis XIV.« von Albert Serra
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Was für ein toller Film! Boshaft, witzig, politisch unkorrekt, facettenreich, glänzend gespielt, elegant und fehlerfrei inszeniert – Paul Verhoeven ist zurück an der Croisette. Zehn Jahre nach Blackbook hat der 77-jährige wieder einen Film gemacht: Elle mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle.
Was schon die Credits verraten: Hier versteht einer sein Handwerk.
Hier agiert einer stilbewusst, weiß in jeder Geste, jedem Aspekt, was er tut und was er tun will. Verhoeven Kino ist stylish, ein Form- und Bilderkino, auch wenn ihm das, wovon er erzählt, noch so wichtig sein mag.
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Die erste Szene geht gleich zur Sache: Eine Katze guckt in die Kamera, dazu Beischlafgeräusche. Der Schnitt von ihrem Gesicht lenkt auf Isabelle Huppert die im schwarzen Kleid am Boden liegt, und von einem maskierten Mann brutal vergewaltigt wird. Einen Moment glaubt man an ein Spiel, aber es ist ernst. Porzellan- und Glassplitter liegen am Boden, und das Aussehen, auch die Pose der Huppert erinnert unverkennbar an ihre Vergewaltungsszene in Hanekes Die Klavierspielerin. Damit positioniert Verhoeven gleich seine Hauptfigur in einem Feld aus Kälte, vermeintlicher Gefühllosigkeit, Masochismus, sexueller Perversion.
Das hat seine Gründe.
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Michèle, so heißt Hupperts Figur, steckt das Geschehene so weg. Sie ruft nicht die Polizei – dass sie mit dieser schlechte Erfahrungen gemacht hat, erfahren wir später –, ruft auch keine Freunde an, sie nimmt ein heißes Bad, ordert Sushi – kalter Fisch für den »kalten Fisch«, das sind so Verhoevens sachte Ironien. Am Abend kommt ihr Sohn zu Besuch. Wir erfahren, dass sie reich ist, geschieden, den erwachsenen Sohn aushält.
Am nächsten Morgen geht sie zur Arbeit
– sie ist eine Chefin: Mit einer Freundin (Anne Consiny) hat sie ein Unternehmen gegründet, das Computerspiele konstruiert. Auch dies nimmt Verhoeven zum Anlass für kleine, gute, böse Witze: Über Digitalisierung, Game-Kultur, Generationsunterschiede, Dummheit und »die jungen Leute«. Damit setzt er den Ton einer leichten Sozialkomödie.
Seine Hauptfigur aber nimmt er ernst, und deren Witz ist immer gebrochen: Man begreift früh, dass ihre Geschichte so witzig gar nicht
ist.
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Michèle scheint unzerstörbar, eiskalt. Als Chefin ist sie kurz angebunden, kommandierend. Einmal sagt sie zu einem Angestellten: »Show me your dick, and you may not be fired.« Der Zusammengang von Kapitalismus und Perversion. Nur mit ihrer Freundin ist sie nett und kameradschaftlich. Eine kalte, aber keine unsympathische Figur. In Tagträumen stellt sie sich ihre Vergewaltigung noch einmal vor, mit dem Unterschied, dass sie dem Täter den Schädel einschlägt.
Ihre alte
Mutter nennt sie »selbstsüchtig«, und es gibt offenbar viele Menschen, die ihr und ihrem Vater, den wir nur vom Hörensagen kennen, irgendetwas übelnehmen. Sie wird im Restaurant von einer Fremden beschimpft. Der Vater sei nicht nur ein Mann, sondern eben auch ein Monster, sagt Michèle zu ihrer Mutter – und wir stellen uns einen Finanzhai vor.
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Dann öffnet sich ein zweiter Erzählstrang: Paranoia. Denn der Vergewaltiger kontaktiert sie per SMS. Offenbar beobachtet er sie. Der Nachbar, auf den Michèle ein Auge geworfen hat, obwohl er verheiratet ist, hat im Garten einen maskierten Mann beobachtet, und zu stellen versucht. In der Firma hat ein Unbekannter auf den Rechner eine Animation gespielt, die eine Vergewaltigung Michèles zeigt. Der Täter stammt offenbar aus der Firma, und so versucht bittet sie einen ihrer
Angestellten die Kollegen zu bespitzeln.
Michèles Ex-Mann, ein erfolgloser Schriftsteller und Unidozent, mit dem sie nach wie vor gut befreundet ist, hat eine neue Freundin, offenbar ist es »was Ernsteres«, worunter Michèle leidet: »Davor habe ich Angst: Die Bimbos mit dem großen Busen nicht. Aber eine Frau, die ›Das Andere Geschlecht‹ gelesen hat, die ist Dir gefährlich.«
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Eine Weihnachtsfeier, ebenfalls wunderbar boshaft in ihrem Antikatholizismus. Michèle versucht den Nachbarn zu verführen, und erzählt ihm irgendwann, die Wahrheit über sich und ihren Vater: Der sei ein gläubiger katholik gewesen, habe immer allen Kindern des Viertels ein segnendes Kreuz auf die Stirn gemacht, bis manche eltern ihm das eines Tages verboten hätten. »Daraufhin ging er eines Tages in die Häuser der ganzen Familien unserer Straße und besuchte die Nachbarn – mit einer Shotgun und einem Schlachtermesser hat er 27 Leute und sechs Katzen getötet, mehrere Hunde auch. Aus irgendeinem Grund hat er die Hamster leben lassen.«
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Ein großartig-abgründiger Moment: Am Tag der Verhaftung wurde von der Polizei ein Foto der Tochter Michèle an die Presse gegeben – das sie nur mit einem Nachthemd im Garten zeigt – manchem hätten sie für eine Komplizin gehalten, sie sei das »little girl psychopath«, und ein TV-Bericht fragt: »Welche Rolle spielte die Tochter? Und vor allem: Warum?«
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Es geht so weiter, im Wechsel der Ebenen. Die Mutter stirbt. Der Vergewaltiger kommt wieder, überfällt Michèle ein zweites Mal, doch sie wehrt sich erfolgreicher, verletzt ihn an der Hand und reißt ihm die Maske vom Gesicht – es ist der nette Nachbar. Sie zeigt ihn nicht an, im Gegenteil lässt sie sich auf Risiken ein, und von ihm zum Abendessen einladen. Im Keller fällt er über sie her, sie ermuntert ihn, er lässt von ihr ab: »It doesn’t work for me like that. It has to be
like before.« Sie: »Merci pour le diner!« Der Vater im Gefängnis bringt sich um, als er hört, sie wolle ihn nach über 40 Jahren besuchen. Es gibt einen Autounfall. Eine Party.
Und der Tod der Eltern bewirkt bei Michèle sichtbar deren eigene Befreiung. Sie wird warmherziger, tut etwas für ihre Mitmenschen, will vor allem »keine Lügen mehr.« Sie erklärt dem Nachbarn, sie werde ihn anzeigen, und als der sie kurz darauf nochmals überfällt, erschlägt ihn der Sohn, der zufällig gerade in der
Nähe ist.
Für Michèle eine weitere Befreiung: Überstehen ist alles.
Das letzte Bild: Auf dem Friedhof, wo sie Blumen am Grab beider Eltern niederlegt, geht sie mit ihrer Freundin langsam einen Kiesweh entlang, mit dem Rücken zur Kamera: »I thought i could move in with you for a while«, sagt die Freundin.
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Ein bisschen viel vielleicht, ein bisschen konstruiert, aber gleichzeitig glänzendes Kino: Intelligent, unterhaltend, top. Nichts Seichtes wie Woody Allen, der dann auf Pressekonferenzen Witze über Vergewaltigungswitze macht, sondern tatsächlich eine funktionierende und – ja – bezaubernde Vergewaltigungskomödie.
Erzählt mit glänzender Kamera, tollen Schnitten, Verhoeven zeigt, was Fetischismus im Kino ist: Form und Bilder, schrille
over-the-top-Momente. Aber als Form des Erzählens, nicht um ihrer selbst willen.
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»Leider bin ich eins von den iPhone-Opfern und mein Akku war dann leer«, simst Ella am Donnerstagmorgen. Kurz darauf von Nil: »My phone was dead yesterday night.« »Sorry, I was without batteries«, höre ich dann noch auf der Presseterrasse – vielleicht hatten die Damen ja auch nur Besseres zu tun, aber allemal komme ich dann in der Fülle der gleichen Erfahrung darauf, was für ein zauberhafter Titel »girls without batteries« wäre, für einen poetischen Science-Fiction ebenso wie für eine Mumblecore-Soap.
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Total leer sind die Batterien der Schauspieler von Anfang an in The Neon Demon, nur von einem nicht, dem Regisseur. Der macht eher den Eindruck eines Duracell-Männchens unter den Filmemachern.
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»I am the future« – Nicolas Winding Refn ist der Typ Mensch, der als Junge auf dem Pausenhof oft verdroschen wurde. Jetzt macht er Filme und hat für sich einen Akt kultiviert, eine Art Toni Erdmann für Regisseure. Darin spielt er den Alpharegisseur, und kombiniert steinzeitliches Revierverhalten mit der Arroganz, von der er glaubt, dass sie belegt, was für ein toller Regisseur er ist.
Seine Sätze übt er vermutlich zuhause vor dem Spiegel: »I am the best and the worst Cannes has to offer.« Oder »At home I am a masochist, at the set I am a sadist.«
Die sehr geschätzte Wiener Kollegin Alexandra Zawia hat ihn interviewt, und mir diese unfassbaren Zitate aus ihrem Gespräch berichtet. Da wollen wir natürlich mehr davon: Am kommenden Mittwoch gibt es in unserer Cannes-Nachberichterstattung das komplette Interview.
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Im Presseheft und in den Filmeröffnungscredits nennt sich der Däne Nicolas Winding Refn, der 2011 für Drive den Regiepreis gewann, nur noch NWR. So wollen wir es dann also auch halten. NWRs neues Werk ist in der Model-Szene von Los Angeles angesiedelt: Der Film nimmt einen langen, sehr langen Anlauf.
Zum Score von Cliff Martinez kommt schöne Neonfarben, Ästhetizismus pur, dann ein Photoset. Wir lernen ein Mädchen kennen, gespielt von Elle Fanning (die ich persönlich ja gar nicht so »schön« finde, wie NWR, sondern eher gewöhnungsbedürftig): Jesse ist neu in L.A., und der Film begleitet sie bei den ersten Schritten ihrer Model-Karriere: Agentur, gefaktes Alter, ein Abend in einem Club mit einer lesbischen Maskenbildnerin, die auch Tote schminkt, und das Treffen mit anderen
Models.
Dann ein Vorsprechen. Ein Moment wie aus Mulholland Drive: »This is the girl!«
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Das könnte nun interessant sein, erstickte alles nicht von Beginn an in prätentiöser Langsamkeit. So bleiben Bilder, die sich in ein Ganzes aber nicht fügen wollen. NWR verweigert sich allem, was nicht in der Oberfläche der Bilder liegt und badet wiederum in diesen. Das Resultat ist vor allem trocken und aseptisch, einfach doof.
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Es will ein Diskurs über Schönheit sein. »True beauty is the highest currency we have. If she wasn’t beautiful, you would not even start to look.«
Das stimmt schon, darf aber trotzdem durchdacht, reflektiert und entfaltet werden.
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Es fallen ein paar nette Dialogsätze: »People believe what they are told.« »I am pretty and I am more than just pretty. They want me to lie.« »I am not as helpless, than I look.« »When you become 21 you are so irrelevant in this industry.« »What does it feel like? To walk in a room and to be seen. To walk into a room and in the middle of the night, you are a sun.«
Aber das ist alles eine Behauptung. NWR glaubt zu sehr an seine eigenen Dialogsätze: »People believe what they are
told.«
So entgeht ihm, dass dies eben nicht der Fall ist. Die Leute glauben, was ihnen gezeigt wird, was sie sehen. Und das ist hier vor allem erstmal leer. Menschen werden zu Objekten, Fetischismus 4.0.
Das einzige funktionierende Bild ist ein Puma in einem Motel-Zimmer. Und ein paar schöne leere Hollywoodvillen, mit leeren Pools. Die versteckte Pracht L.A.s. Ansonsten tun schöne Frauen schöne Dinge, während der doch der Neid zwischen den Schönen wächst... Direct into DVD.
Oder?
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Dann aber.... ist der sehr lange Anlauf zuende. Und in der letzten Viertelstunde macht The Neon Demon einiges wieder gut: Ein Girl-Slasher und Kannibalen-Showdown, Blutbad mit Basic Instinct-Zitaten. Ein Menschen-Auge wird ausgespuckt, von einer anderen wieder gegessen und eine schöne
Frau entleibt sich selbst. Ein Knaller!
Ein fetischistischer Film und eine visuelle Orgie, die Kino einseitig als Ort des visuellen Exzess und der Schauwerte feiert. Auch das gehört zu Cannes.
(to be continued)