71. Filmfestspiele Cannes 2018
Ausbruch aus der digital verwalteten Welt |
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Russische Nouvelle Vague: Leto |
»Wie trifft man nun die richtige Entscheidung? Aus dem Bauch? Aus dem Kopf? Durch Analyse der Fakten? Das sind durchaus berechtigte Fragen, die leider alle auf falschen Prämissen aufbauen.«
Michael Haberlander
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Am Morgen vor der Preisverleihung hat mich die Kollegin vom ukrainischen Fernsehen interviewt – zu (natürlich komplett falschen) Preisspekulationen meinerseits, zur Jury und zur generellen Einschätzung des Cannes-Jahrgangs. Für den Fall, dass es irgendwer noch nicht gesehen hat, kann man es hier nachholen.
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Am Nachmittag durfte ich dann wieder beim inzwischen traditionellen Podcast von critic.de teilnehmen. Es ergab die Dynamik des Gesprächs, dass wir zu wenig über die guten und viel zu viel über jene Filme sprachen, an denen zumindest ein Teil der Runde etwas auszusetzen hatte. Wer Lust hat, kann das knapp zweistündige Gespräch mit dem Leitmotiv »gute Propaganda, schlechte Propaganda« hier nachhören,
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Die Freunde von critic.de vergaben am Morgen auch erstmals ihre eigenen Palmen.
Die Goldene Palme bekommt Lazzaro felice von Alice Rohrwacher, den ich leider, leider auch am Nachholtag nicht sehen konnte. Ich glaube, dass mir der Film sehr gut gefällt,
aber wenn ich bei critic.de lese, »Alice Rohrwacher … weiß, dass die Musik nicht denen gehört, die sie spielen, sondern nur denen, die ihrer würdig sind«, dann bekomme ich vor lauter Pathos schon wieder einen kleinen Schreck.
Der Großer Preis der critic.de-Jury geht an Sorry Angel von Christoph Honoré – ein Fehlgriff. Der Film war gut, aber im Wettbewerb gegenüber anderen Werken
keineswegs herausragend.
Und auch im Film, der von critic.de den »Preis der Jury« bekommt, BlacKkKlansman von Spike Lee, kann ich keineswegs wirklich besonders tolles Kino oder ästhetisch Herausragendes entdecken. Ein Satz wie »BlacKkKlansman trägt seine politische Relevanz vor sich her, aber bewegt sich
dabei niemals gegen das Kino, sondern immer mit ihm« klingt gut, aber verrät doch, dass es hier eben um Politik geht, nicht um Kunst.
Und auch die »Beste Regie: The Wild Pear Tree von Nuri Bilge Ceylan« scheint mir zu dogmatisch an Äußerlichkeiten orientiert. Der Film ist einfach noch nicht mal der zweitbeste dieses Regisseurs, und im Verhältnis nicht unter den Top Five des Wettbewerbs. Warum diesem Mann den fünften Preis in Cannes geben?
Dass die besten
Filme des Wettbewerbs, Leto, Burning und Ash is the purest White mit Nebenpreisen abgespeist werden, oder komplett leer ausgehen, scheint mir da fast schon systemisch.
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Bemerkenswert vor allem, dass der meiner bescheidenen Ansicht nach beste Film – Leto – bei den Kollegen überhaupt nicht vorkommt. Warum? Vielleicht spielt da doch – bewusst? unbewusst? – die Überlegung mit hinein, dass Leto der einzige Film unter den
richtig guten ist, der nicht von einem etablierten, in Cannes schon anerkannten Auteur stammt? Vielleicht ist das auch eine blöde Unterstellung meinerseits.
Man muss nicht meiner Ansicht sein, dass wir es hier mit etwas wirklich Neuem zu tun haben, mit einem Ereignis, das man – jetzt komme ich mit Pathos – »Nouvelle Vague aus Russland« nennen kann, nennen muss; mit einem Film, der mit nichts Geringerem als mit Truffauts Jules und Jim vergleichbar ist – für unsere Zeit natürlich, also anders, so wie Truffauts Film ein Film für das Jahr 1962 war.
Aber es fällt (nur mir?) auf, dass man nicht bereit ist, Leto etwas Credit zu geben, wertzuschätzen, dass einer hier etwas Neues versucht, auch wenn es vielleicht nicht zu hundert Prozent gelingen mag. Aber sind
die anderen, »preiswürdigen« Filme fehlerlos? Fehlerlosigkeit ist doch das Langweiligste überhaupt.
Davon abgesehen ist Leto natürlich im Mainstreamsinn unterhaltsamer als viele andere Wettbewerbsfilme. Spricht vielleicht das gegen ihn?
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Bei den Franzosen zumindest nicht. Gemeinsam mit En guerre führte Leto den französischen Kritikerspiegel am Schlusstag an. Geholfen hat es beiden nicht.
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Im Vergleich zu den Wünsch-Dir-was-Palmen ist der Kritikerspiegel der critic.de-Kollegen ergiebiger, weil viel diverser. Noch spannender aber ist, glaube ich, der Kritikerspiegel »Todas las Criticas« vom Argentinier Diego Lerer – schon weil hier viel mehr Differenzierung möglich ist, aber auch wegen der Internationalität der Besetzung. Und weil ein Algorithmus schon unschlagbar ist, mit dem in Echtzeit immer der Durchschnittswert für einen Film und für die jeweilige Sektion, aber auch die Durchschnittsnote des jeweiligen Bewerters, also quasi sein Wertungs-Temperament, ausgerechnet und abgebildet wird.
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Die zwei Abende vor der Preisverleihung waren für mich von den Spaniern geprägt. Am Donnerstag lief ich nach Nadine Labakis Film Violeta aus Barcelona über den Weg, die mit Jose Luis und einigen anderen unterwegs war. »Oh, gut dich zu sehen, komm doch mit zur ›Carolista-Feier‹.« – »'Carolista-Feier'?« fragte ich. Das einzige, an das mich der Begriff spontan erinnerte, sind die Carlisten, illegitime Monarchisten des 19. Jahrhunderts, deren Engagement in zwei
Carlisten-Kriege mündete.
»Nein, nein, Carolisten – das ist etwas ganz anderes. Wir haben damit angefangen, als Todd Haynes Film Carol 2015 in Cannes lief – und überhaupt keinen Preis gewonnen hat. Wir fanden den Film so toll!! Und darum treffen wir uns jetzt jedes Mal in Cannes für einen Abend und trinken zusammen auf Carol!«
So fand ich mich dann gemeinsam mit sieben Spaniern
in einem Appartment wieder, in dem drei von ihnen wohnen, und das direkt über dem »Le Crillon« noch viel besser gelegen ist als unseres. Und wir tranken Crémant, prosteten auf »Carol« – und natürlich ist dieser lose Zusammenschluß auch motiviert von viel Sympathie für das Queer-Cinema und die liberale, tolerante Botschaft des Film.
Seit 2015 haben die Carolisten aber noch viel Ernsthafteres unternommen. Am 12. und 13. gab es an der Universität des katalanischen Girona und im
dortigen »Cinema Truffaut« die von den Carolisten geplante und veranstaltete erste filmwissenschaftliche Konferenz zu »Carol«: »Einen Film denken«.
Im Programm, das ich natürlich schnell in die Hand gedrückt bekam, steht José Luis mit einer Filmanalyse, Violeta hielt einen Vortrag über »Den Blick von Todd Haynes«, ein anderer Vortrag hieß »Von Patricia Highsmith zu Todd Haynes«, Eulalia
Iglesias, mit der ich im Januar in Genf zusammen in der Jury war, sprach über »das Erbe des Frauen-Films in Carol« und so weiter. Hoffentlich gibt es die Vorträge irgendwann in Buchform.
Man sieht: Cannes hat Folgen!
Einen Tag später ging es dann mit den Spaniern weiter.
Nach dem dreistündigen türkischen Wettbewerbsfilm von Nuri Bilge Ceylan (The Wild Pear Tree) hatte ich mich eigentlich mit den Türken treffen wollen. Aber die mussten entweder gleich eine Meldung schreiben, oder ihr Interview mit dem Regisseur vorbereiten – da kam das nächste Angebot, mit den Spaniern mitzugehen – zum gemeinsamen Cannes-Abschlussabendessen und -trinken. Dabei waren auch Alejandra aus Uruguay und Javier Porta Fouz, seit zwei Jahren
Direktor des Buenos Aires Filmfesival »Bafici«, eines der besten Filmfestivals der Welt – nicht nur, weil dort auch meine beiden Filme gelaufen sind.
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Es war lustig mit den Spaniern vor der Preisverleihung über die Preise zu spekulieren. Vergeben wurden bei Pizza, Bier und Rotwein die »Schwarzen Palmen« – also das Worst-Case-Szenario aus unserer Sicht, aber eines, das nicht vollkommen aus der Luft gegriffen war, sondern noch einigermaßen realistisch.
Was kam dabei heraus?
Goldene Palme für Capernaüm von Nadine Labaki; »Großer Preis der Jury: En guerre von Stephane Brizé; Beste Regie: Sergej Dwortsewoi (für Ayka); Preis der Jury: Three Faces von Jafar Panahi.
Hier im Caiman kann man die Besten-Listen der Spanier
nachlesen.«
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»Kinofilm ist eine Analogie dessen, was unsere Augen sehen«, erklärte Christopher Nolan (Dunkirk, Interstellar), »er blinzelt, denn zwischen den Bildern kommt ein kleines bisschen Schwarz.« Oscar-Preisträger Christopher Nolan war noch nie in Cannes. Jetzt hatte man Nolan
eingeladen, um eine »Leçon du Cinéma«, also eine Masterclass zu halten, und um die restaurierte Version von Stanley Kubricks Klassiker 2001 vorzustellen. »Wir müssen das Kino im Taumel der Algorithmen bewahren – zumindest alte Filme sollten so vorgeführt werden, wie sie gedreht wurden.«
Die »Netflix-Debatte« der letzten Wochen war bestimmt mit ein Grund, Nolan einzuladen. Der Regisseur hatte wiederholt Kritik am Streaming-Dienst geübt. Netflix habe eine »bizarre Abneigung
dagegen, Kinofilme zu unterstützen«, sagte Nolan bei einem Interview. In Cannes blies er dann ins gleiche Horn: Für Streamingplattformen wolle er nicht arbeiten. Kino sei das ultimative Filmerlebnis, einschließlich des Filmmaterials: »Für mich ist Film das umfassendste und emotional involvierendste Werkzeug, um die Zuschauer in die Geschichte hineinzuziehen.«
»Man kann von Stanley Kubrick vieles lernen«, beschrieb Nolan dann in Cannes sein großes Vorbild: »Das wichtigste:
Er weigerte sich, sich an Regeln zu halten.« Ein Plädoyer für Anarchie und Ausbruch aus der digital verwalteten Welt. Und ein bisschen Selbstbeschreibung: »Ich bin nie zur Filmhochschule gegangen – um es klar zu sagen: Ich bin da nicht reingekommen.« Heute aber: »Ich mache immer meine eigenen Filme.« Er habe sich das technische Handwerk selber beigebracht: »Ich weiß genug über jeden einzelnen Job am Set, um für jeden eine richtige Nervensäge zu sein.«
(to be continued)