14.01.2021

Die narzisstische Generation

Pieces of a Woman
Drama einer Fehlgeburt
(Foto: Netflix / Kornél Mundruczó)

Nach Frankenstein, God und Jupiter erzählt Kornel Mundruczó nun von der Macht des Zufalls

Von Rüdiger Suchsland

Richtig gelungen ist dieser Film nicht, auch wenn die Lobes­hymnen sich anein­an­der­reihen, unver­ständ­li­cher­weise. Haupt­dar­stel­lerin Vanessa Kirby war in jeder »Crown«-Folge besser als hier, in dem letzten Mission: Impos­sible, Folge 6 sowieso, wo sie die »White Widow« spielte – ein magne­ti­sie­render Auftritt, der fast alles andere in diesem Film in den Schatten stellte und ihr gleich zwei Folge­filme (Mi:7 und Mi:8) einbrachte, die sich zur Zeit in Produk­tion befinden. Darauf kann man sich freuen. Ebenso auf The World to Come, den Western-Liebes­film, der in Venedig unver­ständ­li­cher­weise komplett leer ausging. Dafür hat Kirby für Pieces of a Woman am Lido einen Schau­spie­le­rinnen-Preis bekommen.

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Das muss an der Geburt liegen. Der Geburts­szene genau gesagt: 23 Minuten dauert sie. Das ist kurz für eine Geburt, im Film aber unendlich lang; ohne sicht­baren Schnitt, eine einzige, schier endlose Plan­se­quenz, mit den üblichen Manie­rismen garniert, also Gewackel und Getaste der Kamera, leichte Zooms, leichtes Zurück­laufen, Reiß­schwenks, Figuren- und Perspek­tiv­wechsel.

Hinein­ziehen soll das alles. Hinein­saugen ins Bild, die Geburt und die Dramatik fühlen lassen, die Emotio­na­lität, die Zärt­lich­keit der Situation.

Die Wirkung ist aber genau das Gegenteil: Das, was den Betrachter hinein­saugen soll in die Erfahrung des Augen­blicks, stößt ihn doch auch zugleich wieder hinaus, erinnert immer wieder an die Tatsache, dass alles hier gemacht und künstlich ist, nicht »in echt« doku­men­tiert, wie es die taumelnden Bilder sugge­rieren, die alles vermeint­lich fast »in Echtzeit« zeigen.

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Auch für Kirby ein Auftritt, der nach Preisen schreit. Der brüllt: »Das muss echtes Schau­spiel sein!!!« Der die Faust ballt, so wie Lewan­dowski nach einem Hattrick, als würde der selbst nicht genügen.
Man muss »sich dreckig machen«, wenn man heute Preise gewinnen und als »große Darstel­lerin« angesehen werden will. Mit klas­si­schem Kino hat so ein Auftritt, hat der ganze Film nichts zu tun. Ob Elisabeth Taylor oder Catherine Deneuve – sie wären undenkbar in solchen Rollen. Und das ist nicht Kirbys Problem, sondern das unseres Kinos.

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Irgendwo in irgend­einer nord­ame­ri­ka­ni­schen Großstadt, vermut­lich Ostküste. Wir sehen eine junge Frau, Anfang 30. Sie heißt Martha, lebt mit ihrem Mann zusammen und ist hoch­schwanger. Beide arbeiten, sie in einem Büro, er als eine Art Bauleiter oder doch Architekt, jeden­falls im Blue Collar. Der teure SUV wird von der Schwie­ger­mutter bezahlt. Die Verhält­nisse sind geordnet, etwas spießig, aber nicht schlimm, wohl­tem­pe­riert und abge­fe­dert mit allerlei Annehm­lich­keiten und Ausstat­tungs­ge­gen­ständen bürger­li­cher Behag­lich­keit – inklusive einer selbst­ge­wissen Moral und klaren Vorstel­lungen darüber, wie Dinge zu laufen haben im Leben, und dass sie anders zu laufen haben als in früheren Genera­tionen. Dazu gehört auch die in solchen Kreisen modische Idee einer Haus­ge­burt, auch wenn genug Kran­ken­häuser zur Verfügung stehen. Der Gatte hat dagegen leichte, gut versteckte Bedenken, aber er hat auf diesem Feld nicht viel zu melden – auch das gehört zu der neuen Moral dieses sehr präzis beob­ach­teten Milieus. Eine Hebamme wird gerufen, als das erste Unwohl­sein einsetzt, dann kommen die Wehen, und etwas später die zwischen­durch anstren­gende, aber im großen Ganzen doch gut gelin­gende, eigent­liche Geburt.

Etwas zu beifalls­hei­schend, etwas zu selbst­ge­wiss ist die Insze­nie­rung hier in ihrer Gesamt­wir­kung, erst recht ange­sichts dessen, was folgt – diese ersten 23 Minuten setzen den Ton und die Haltung des Regis­seurs; sie setzen die Qual der Haupt­figur, der schwan­geren Martha, die mit dem Glück der Geburt eines kleinen Töch­ter­chens belohnt wird.
Doch dann nimmt der Film eine radikale Wendung, die man hier nicht verschweigen kann: Das Neuge­bo­rene läuft blau an – und stirbt!

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Erst jetzt, nachdem er seine größte Inten­sität erreicht und über­schritten hatte, seine stärksten Bilder gezeigt hatte, kommt der Film auch zum Kern seiner Geschichte.
Die persön­li­chen Bezie­hungen des Paares sollen dekon­stru­iert werden. Martha und ihr Mann Sean, das junge Paar gespielt von Vanessa Kirby und Shia LaBeouf, leben sich durch die schreck­liche Erfahrung zusehends ausein­ander. Jeder der beiden konfron­tiert sich mit seinem Trauma allein auf je eigene Weise.

Vor allem um Martha, die Frau geht es. In einer Mischung aus stör­ri­schen Rückzügen in starre Unzu­gäng­lich­keit und plötz­liche, heftige Ausbrüche macht diese Martha ihr Leben wieder zu ihrem eigenen – auf Kosten aller Mitmen­schen. Eine spezielle Form von »Empower­ment«.

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In der zweiten Film­hälfte wird alles dann konven­tio­neller, folgt auch noch erkenn­barer den Pfaden eines Melodrams im Hollywood-Stil:
Vater Sean verklagt nun nämlich die Hebamme, im Verbund mit Marthas herri­scher Mutter. Ellen Burstyn ist hier großartig als typische »jewish mum«, die selbst unter Nazi-Besatzung und Lebens­ge­fahr geboren wurde und daher eine komplett andere, heute auf viele fremd wirkende Genera­tion verkör­pert und einen grund­sätz­lich anderen Umgang mit Gefühlen – eine im Vergleich überaus »echte« und sympa­thi­sche, weil nicht »kalte« Figur. Sie bildet das Gegen­mo­dell zu ihrer Tochter aus einer über­emp­find­li­chen, narziss­ti­schen Genera­tion.

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Pieces of a Woman bedeutet gewis­ser­maßen »Stücke einer Frau« oder auch »Eine Frau in Stücken«. Das trifft auf Martha zu. Aber so wie seine Haupt­figur zerlegt der unga­ri­sche Regisseur Kornél Mundruczó auch das Genre des Melodrams. Nach seinen Filmen Underdog und Jupiter’s Moon ist dies Mundruczós erster englisch­spra­chiger Film. Das Drehbuch schrieb seine regel­mäßige Mitar­bei­terin Kata Wéber.

Pieces of a Woman ist ein intimer Film, dem es um die Intimität der Figuren geht: Das zeigt sich in fast jeder Einstel­lung. Immer wieder wird in Nahauf­nahmen erzählt, gedreht wurde haupt­säch­lich in Innen­räumen. Das Gefühl, »ganz dicht dran« zu sein, soll evoziert werden. Dieses Gefühl ist entschei­dend, denn die Stärke des Films liegt in den rohen Dialogen und den bewusst unbe­hauenen Gefühlen.

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Die »Macht des Schick­sals«, in diesem Fall noch mehr die Macht des Zufalls ist es, die Mundruczó in diesem Film mit allen Mitteln des Kinos entfaltet – und die große Leinwand mit ihren dann über­großen Menschen­bil­dern tat der Wirkung der virtuosen Über­wäl­ti­gungs­äs­thetik dieses Films bei seiner Premiere im Wett­be­werb von Venedig bestimmt sehr gut.

Zwar bleibt es in der Schwebe, ob die Hebamme wirklich Mitschuld am Tod des Babys trägt, doch klar ist in jedem Fall, dass es darauf in den Augen der Autoren nicht wirklich ankommt; denn ebenso gewiß ist, dass hier auch auf anderen zumindest mögliche Mitschuld lastet – das beginnt bereits mit der völlig unnötigen Entschei­dung für die riskan­tere Haus­ge­burt.
Das wirklich harte Faktum, das dieser Film präsen­tieren will, ist die Einsicht, dass vieles, was unser Leben aufs Schwerste beein­träch­tigt, einfach nur durch Zufall passiert. Ange­sichts dieser Einsicht plädiert der Film am ehesten für gegen­sei­tige Vergebung.

Zugleich serviert er unter­schwellig doch die unüber­seh­bare Kritik an und ein Grundres­sen­ti­ment gegen eine ganz bestimmte Klasse der west­li­chen Gegen­warts­ge­sell­schaften: Den groß­bür­ger­li­chen Mittel­stand mit zuviel Geld und zu gutem Gewissen und zuviel Egomanie. Die melo­dra­ma­ti­schen Elemente der Handlung tragen aber zur Präzision dieser Kritik nicht gerade bei.