74. Filmfestspiele Cannes 2021
Cannes auf Speed |
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Über die Perspektive einer Kuh von uns Menschen erzählen – Andrea Arnolds Cow. | ||
(Foto: Cannes Media Library/Kate Kirkwood) |
Where Is Anne Frank (B 2021) (R:Ari Folman)
Ich habe einen Film über Anne Frank gesehen, aber ich war nicht ein einziges Mal gerührt. Da kann etwas nicht stimmen.
Acht Jahre nach The Congress und 13 Jahre nach seinem Welterfolg Waltz With Bashir hat Ari Folman wieder bei einem Animationsfilm Regie geführt. Ich hatte mir viel versprochen von Where Is Anne Frank, weil Folman einen ganz eigenen Animationsstil besitzt.
Die Ästhetik ist leider sehr schlecht, man hat gar nicht das Gefühl, dass hier etwas Neues gemacht wird, sonders ist eine ganz bewusst naive Kinderbuch-Ästhetik und
die auch nicht den Charme der japanischen Anime hat oder den von Disney. Bestimmt wird irgendwann der Tag kommen, an dem sich ein japanischer Anime-Meister der Shoa und Anne Franks annimmt, und man möchte gar nicht wissen, was einer wie Mamuro Husoda, dessen neuer Film am Donnerstagabend zu sehen war, aus dieser Vorlage gemacht hätte.
Mit Kitsch und Utopie geht es um eine Anklage des heutigen Umgangs mit Flüchtlingen und um das Ausnutzen von Anne Frank, um die Holocaust-Industrie.
Nur
leider tut Folman selber genau das, was er hier anklagt.
The French Dispatch (GB/F/D 2020) (R: Wes Anderson) (Wettbewerb)
Systeme und Strukturen interessieren Wes Anderson heute viel mehr als früher, wo er sich noch für Familie und für einzelne Figuren interessiert hat.
Ein paar Episoden aus der klassischen Moderne sind ihm Rahmen für diese Hommage an den Journalismus und das, was er mal war, bevor die Controller und die Sozialen
Netzwerke den Laden übernahmen.
Klassische Moderne heißt bei ihm aber auch Frankreich, genau gesagt die Klischees des französischen Lebens. So entsteht hier eine Art »Amélie in Belleville«-Frankreich, das aus Avantgarde-Malern, Bocuse-Essen und Fantomas zusammengesetzt ist.
Anderson zeigt das alte, verschwundene Leben voller Nostalgie, so dass auch noch Ratten in der Metro, Nutten
an der Straße, ein Urinal und Leichen im Fluss romantisch wirken.
Dazu zitiert er lauter alte Filme.
Dieses Meisterwerk des Episodischen beweist: Es ist eben nicht nur manierierte Oberfläche, auf die auch viele Verteidiger Andersons seine Filme gerne reduzieren. Sondern es ist in diesem Fall eine politische Botschaft: Die Verteidigung von Freiheit und Ineffizienz, von Ennui und Blasiertheit.
Petrov’s Flu (RUS 2020) (R: Kirill Serebrennikow) (Wettbewerb)
Ein harter Anfang, fast wie bei Christopher Nolans Tenet, wenn auch eher wie in einer postsowjetischen Version des Films: Ein Terrorakt, bei dem eine Handvoll Anzugträger an die Wand gestellt wird. Die Botschaft
für die Zuschauer: Absolute Hilflosigkeit. Alles ist möglich!
Das setzt den Ton im neuen Film des großartigen Russen Kirill Serebrennikov (Leto), auch wenn sich dieser Auftakt schnell als der erste von lauter Tagträumen und Fieberphantasien der Hauptfigur entpuppt. Episoden aus den späten Neunzigern, lose zusammengehalten durch die Titelfigur und schwankend zwischen Surrealismus, Absurdität und
Nostalgie.
Serebrennikovs Film ist ein faszinierender, erschütternder Fiebertraum. Die Kamera ist wieder virtuos und perfekt, die Musik so schön wie die altmodische Farbgebung und das Produktions-Design, von der chaotisch aufgeplatzten Geschichte versteht man nur Fragmente.
Aber vielleicht gibt es da gar nichts zu erklären. Vielleicht muss man das fühlen, muss Spaß haben am Dreck und der Menschlichkeit im Destruktiven, an der schwarzen Weltweisheit, die hier zutage tritt.
JFK Revisited: Through the Looking Glass (USA/GB 2021) (R: Oliver Stone) (Première)
Gibt es eigentlich noch irgendjemanden, der glaubt, dass John F. Kennedy 1963 tatsächlich durch Lee Harvey Oswald ermordet wurde?
Oliver Stone jedenfalls nicht.
Den Gegner stark machen – das wurde auch mir neulich anempfohlen, um »ausgewogener« zu berichten, und den (nirgendwo
geschriebenen) Normen »journalistischen Handwerks« zu entsprechen. Oliver Stone zeigt, wie es auch gehen kann und warum das manchmal richtig ist: Der Gegner ist nämlich schon stark.
Stone belegt, dass die sogenannten Fakten in viel größerem Maß interpretationsabhängig und interpretierbar sind, dass nicht wenige von ihnen von den Verschleierungsbehörden erst »fabriziert« wurden, und wie nach der Tat vieles unter den Teppich gekehrt und selektiv ermittelt wurde, wie
»Wahrheit« alle paar Jahre neu erfunden wird. Und er belegt die Salamitaktik der US-Behörden, die immer wieder nur dann Dinge zugaben und ihre Versionen der Ereignisse veränderten, wenn kein Widerspruch mehr möglich war.
Dieser Film ist ein dichtes Faktengewitter, schnell geschnitten, ein bewundernswert souveräner, fesselnder Flow aus Bildern, der auf die Dauer in seinem Tempo und Informationsoverkill auch ermüdet. Aber besser man wird müde, weil es zu viel zu sehen gibt, als
weil nichts passiert, oder alles zu langsam und vorhersehbar.
Benedetta (F 2020) (R: Paul Verhoeven) (Wettbewerb)
Das Unkonventionelle, Provokative war schon immer das Hauptinteresse von Paul Verhoeven, der auch mit über 80 und 30 Jahre nach Basic Instinct Spaß daran hat, der Gesellschaft ihre Doppelmoral und den Tugendtaliban unserer
Breitengrade ihre Untugend vorzuhalten. In diesem Fall geht es auch darum, zu zeigen, dass ex-christliche Länder Europas sich auch mit den Abgründen der eigenen Religion beschäftigen dürfen.
Benedetta erzählt die Geschichte einer Nonne, die zuerst Visionen hat, und dann die Frauenliebe für sich entdeckt. Eine Weile ist sie eine frühneuzeitliche Touristenattraktion, dann kommt die Inquisition.
Verhoevens Film ist hochunterhaltsam und klüger, als er manchmal aussieht. Er zeichnet vor allem ein altkatholisch sattes, grelles Bild der Renaissance voller Vulgaritäten und expliziter Szenen, zu denen nicht nur der Sex im Kloster gehört, sondern auch platzende Pestbeulen, Autodafés auf dem Marktplatz, irr gewordene Nonnen und betont kitschig süßliche Christusvisionen, in denen der Heiland aussieht wie ein Beau aus der neuesten Jeans-Werbung. Und Charlotte Rampling darf auch hier nicht fehlen
– diesmal spielt der britisch-französische Weltstar eine süffisante Äbtissin, die schon zu viel gesehen hat, als dass sie Visionen, Pest und Todsünde noch erschüttern könnten.
Cow (GB 2019) (R: Andrea Arnold) (Première)
Andrea Arnold erzählt vom Leben. Allerdings vom Leben einer Kuh. Und wenn man so will vom »Anthropozän«, dem Zeitalter der menschengemachten Natur. Von der Wiege bis zur Bahre begleiten wir die Kuh Luma, von ihrer Geburt, die – warum eigentlich? – bei allen Tieren hier mit Hilfe von Menschen stattfindet, die das Kalb
aus dem Leib der Mutter herausziehen, bis zum Tod, bei dem der altersschwachen Kuh ein Gnadenschuss gegeben wird. Dieser Film ist unerwartet von dieser Regisseurin, wenn man aber erst drinsitzt, scheint er vollkommen logisch. Zusammengehalten wird Arnolds erster Dokumentarfilm auf Kinolänge mit ihrem übrigen Werk (Red Road, Fish Tank, American Honey) durch ein paar Leitmotive: Arbeitswelten, Ausbeutung, die Welt von heute und Weiblichkeit. Die Kamera, die über vier Jahre immer wieder an der Arbeit war, zeigt schön gestaltete Bilder, die genau und dicht an Luma dran sind. Es ist ein langweiliges Leben, ein immergleiches Leben: Fressen und gemolken werden. Nichts
wird aufgeklärt, insbesondere nicht die Produktionsverhältnisse der Milch und die verschiedenen technischen Bedingungen. Warum müssen die Kühe beim Melken immer auf kleinen Balken stehen? Vermutlich, weil sie dann ruhig bleiben und sich nicht so viel bewegen. Läuft die ziemlich schlechte Popmusik bei den Melk-Vorgängen deswegen, weil man die Kühe damit in Stimmung bringt? Oder beruhigt? Wieviel Milch produziert eine Kuh eigentlich am Tag und was genau sind das eigentlich für
Milchbauern? So groß sie im ersten Moment wirken, sind sie wahrscheinlich im Vergleich zu anderen eher kleine Fische.
Auch weil alles ausschließlich aus Kuh-Perspektive gezeigt wird, bzw. aus der von uns vermuteten, imaginierten Kuhperspektive, erzählt Arnold in diesem genauen, schönen ungewöhnlichen Film von uns.