arteshorts zum 39. Filmfest München |
Von Redaktion
Aftersun (USA, UK 2022, R: Charlotte Wells)
Man hat wirklich das Gefühl, die Sonne bereits hinter sich zu haben. Der junge Vater Calum ist mit seiner aufgeweckten Tochter Sophie im Türkei Urlaub. Obwohl sie bei der Mutter lebt, verbindet sie eine enge Freundschaft mit ihrem Dad – liebevolles »you’re embarrassing« inklusive. Sophie steckt voller Neugier und Lebensfreude, ihre lässigen Kommentare sorgen regelmäßig für Lacher – sowohl bei den Gästen ihrer Hotelanlage als auch im Kinopublikum. Doch schaut man genauer hin, durchzieht den Film eine tiefe Traurigkeit. Mental Illness zeigt sich nicht immer dramatisch und aufregend. Es sind gewisse Antworten, leere Blicke. Heimtückisch und leise zeichnet der Film dieses Thema im Alltag der Protagonisten und zeigt, dass auch Kinder ihre Eltern nicht retten können. (Maria Feckl, LMU München)
Wer kennt es nicht, das Gefühl nach einem langen Tag in der Sonne sich und seinen Körper mit einer pflegenden Lotion Aftersun einzucremen. Der neue Film von Charlotte Wells übermittelt genau jenes Gefühl: Das Gefühl von Geborgenheit, Pflege und Selbstfürsorge. Zumindest auf den ersten Blick. Was wie ein idyllischer Urlaub zwischen Vater und Tochter wirkt, wird schnell von der Realität eingeholt. Charlotte Wells nimmt den Zuschauer in ihrem Filmdrama mit auf eine Reise, die die Beziehung von Jung und Alt dem Leben gegenüber aufzeigt. Auf eine realistische, verspielte Art und Weise lässt der Film einen spüren, was es heißt, am Leben zu sein und wie wichtig es ist, es zu genießen. Aber auch, wie wichtig es ist, sich nach einem langen Tag in der Sonne zu schützen. (Stella Kluge, LMU München)
Ein starkes Debüt, das auf eine symbiotische Tochter-Vater-Beziehung fokussiert, die in immer wieder etwas zu langen Einstellungen gehäutet wird wie eine Zwiebel, um zum Kern der Dinge zu kommen. Denn was zu Anfang nur ein Pauschalurlaub in der Türkei ist, wird zum Rückblick einer jungen Frau, die offensichtlich die gleichen Fehler wie ihr Vater gemacht hat und sich inzwischen dieselbe Frage stellen muss, die sie ihm einst während des porträtierten Urlaubs gefragt hat: Wer wolltest du in meinem Alter später sein? So leicht der Film mit Coming-of-Age-Elementen wie dem ersten Kuss spielt, so gnadenlos schwer (dabei überragend gespielt von Paul Mescal und Frankie Corio) wird er, wenn die depressiven Schübe des Vaters die Bilder verdunkeln. (Axel Timo Purr)
A plein temps (Frankreich 2021, R: Eric Gravel) (International Independants)
Aufstehen. Fertigmachen. Arbeiten. Gemeinsam mit der Protagonistin hasten wir durch Menschenmassen an Bahnsteigen, schlagen uns durch den lärmenden Verkehr in Paris. Fertigmachen. Wir suchen auf der Arbeit nach Ausreden für
Verspätungen, für die wir nichts können. Arbeiten. Wir versuchen in letzter Minute verzweifelt, allein einen Kindergeburtstag auf die Beine zu stellen. Aufstehen. Wir vergessen unsere Rolle des Zuschauenden. Wir sind mittendrin. Schnelle Bilder kombiniert mit repetitiven elektronischen Klängen lassen uns den Alltagsstress einer alleinerziehenden Mutter zweier Kinder am eigenen Leibe spüren. Die wenigen, ruhigen Nahaufnahmen lassen uns auf kurze Momente der Auszeit hoffen. Doch
stattdessen blicken wir in ein Gesicht – gezeichnet von ständiger Erschöpfung und ewigem Weitermachen. (Katrin Mühlberg, LMU München)
In »Vollzeit« (so der Titel auf Deutsch) rast die Alleinerziehende Julie Roy durch ihren durchgetakteten Alltag, der mit dem gnadenlosen Wecker beginnt und mit den zu erfüllenden Bedürfnissen ihrer zwei Kinder am Abend endet. Der elektronische Beat treibt Julie und den Zuschauer in diesem spannenden Alltags-Thriller vor sich her und erinnert an Lola rennt wo auch eine unmögliche Aufgabe gelöst werden muss. Wie in In den besten Händen werden politisch-gesellschaftliche Dynamiken (hier v.a. der tagelange Streik des öffentlichen Verkehrs in der Wirkung auf Pendler, Jobsuche, Versagen des Vaters, Problem der Kinderbetreuung) in ihrer den Einzelnen zermalmenden Kraft gezeigt. Laure Calamys Gesicht wird zum Spiegel einer schier übermenschlichen Anstrengung, die keine Ruhezeit, kaum Unterstützung kennt. (Christoph Becker)
Métro, boulot, dodo. Die alleinerziehende Julie hat sich in diesem monotonen Dreiklang der Pariser Banlieue eingerichtet. Im Morgengrauen liefert sie ihre beiden Kinder bei einer Nachbarin ab und rast mit wippendem Pferdeschwanz los, um den überfüllten Vorortzug nach Paris zu erwischen. Weil ihr Ex-Mann den Unterhalt schuldig bleibt, ist die Ökonomin gezwungen, als Hausdame in einem Luxushotel schnell und diskret den Dreck der Superreichen verschwinden zu lassen. Diese kräftezehrende Routine gerät durch einen Bahnstreik an den Rand der Katastrophe. Eric Gravels Film ist eine innovative Mischung aus neoliberalem Sozialdrama und Thriller. Der hypnotisch-mitreißende Sound bei der Hetze durch ein desinteressiertes bis feindliches Paris orientiert sich am Herzschlag der phantastischen Hauptdarstellerin Laure Calamy. (Katrin Hillgruber)
Das Pfauenparadies (Italien, R: Laura Bispuri) (Spotlight)
Der Wind in den Baumkronen, Meeresrauschen und die Farben von Max Mara im hellen Licht. An einem Wintertag trifft Nena’s Familie in ihrem am Haus aufeinander und wird ihren Geburtstag feiern. Ihr vertrauter und doch heimlicher Kuss mit der Haushälterin findet sich in einer der ersten Szenen. Als der Pfau in Admiration einer Taube sein Rad schlägt, bewegt die Anmut seines Anblicks zum ersten Mal alle Anwesenden. 40 Jahre zusammen zu dritt, wenigstens bis zum Ende des Sommers, Minuten versteckt nur hinter einem Paravan, eine Hochzeit im Frühling, Sasha wird im September erwartet. Der Herbst bringt »melanconia«, aber der Winter mit seiner Klarheit ist Umbertos Lieblingsjahreszeit. – Die gleißende Sonne ist beim Verlassen des Kinosaals der aufkommenden Gewitterwolkendecke gewichen. Dieser Film lässt gedankenverloren zurück, jeder einzelne Charakter bleibt rätselhaft und regt die Phantasie an. (Tilla Harms, LMU München)
Familienfest heißt Wahrheitsfest. Anders als in dem ebenfalls auf dem Filmfest gezeigten Familienfest in The Humans, kommt Bispuris luzides Familienestellen jedoch ganz ohne politischen Anspruch aus. Hier ist alles Familie. Und die Aufarbeitung der Familie, der Pfau ein Symbol für die Schönheit, was sein könnte, aber nicht sein kann. Denn was nützt einem Vogel die Schönheit, wenn er nicht fliegen kann? Bispuris Protagonisten finden die Antwort: Reden um der Wahrheit willen, bis sogar die Verstummten wieder reden. Bispuri stellt die wichtigen Fragen des Lebens: Warum fragen wir uns nichts mehr, wenn wir doch wissen, dass jeder der Nächste sein kann, der stirbt? Große Momente, wenn die Stimmen verstummen und stattdessen eine Geige spielt und die Kamera hinter die Blicke dringt, langsam, eindringlich, wahrhaftig. Momente wie bei Michelangelo Antonioni, ganz oft. Aber nicht nur deshalb ist Bispuris Film auch einer über das Abschiednehmen. (Axel Timo Purr)
Benediction (Vereinigtes Königreich 2021, R: Terence Davies) (Wettbewerb CineMasters)
Das Genre des Biopic ist momentan hoch im Kurs. Diesmal geht es um das Leben des britischen Dichters Siegfried Sassoon, der, von vielen als Held gefeiert, schließlich im Ersten Weltkrieg den Militärdienst verweigert. Und auch
sonst ist sein Leben alles andere als ruhig, was vor allem seiner Homosexualität geschuldet war, die nicht öffentlich gelebt werden durfte. Benediction erzählt nicht chronologisch, springt von den jungen Lebensjahren ins hohe Alter und zurück, gemischt mit Bildern aus dem Krieg und aus dem Off vorgelesenen Gedichten des Protagonisten. Kostüme und Szenenbild sind einwandfrei, die Besetzung ebenfalls, die Montage gelungen und trotzdem fehlt irgendetwas.
Vielleicht erzählt der Film zu poetisch, vielleicht vermisst man eine klare Aussage – aber andererseits, hat denn jedes Leben eine Aussage? (Christoph Becker)
Die Magnetischen (Frankreich, Deutschland 2021, R:Vincent Maël Cardona)
Philippe spricht nicht. In der gemeinsamen Radioshow übernimmt sein draufgängerischer Bruder Jerôme diesen Part. Philippe drückt nur die Knöpfe, kreiert bizarre Sounds. Aus ihm wurde nicht der Alpha-Mann, den sein Vater ihm vorlebte. Marianne – die Romanze des Bruders – weckt eine
neue Seite in »Philou«. Das Leben der Brüder wird sie nachhaltig verändern. Doch mitten in ihrer Welt zwischen Walkman und Joy Division droht der Wehrdienst. Vom französischen Dorf nach West-Berlin, eine völlig andere Welt – vielleicht sogar eine bessere? Dort gibt es nur Philippe ohne Jerômes Schatten. Das Regiedebüt von Vincent Maël Cardona lässt das Publikum teilhaben an der Suche eines jungen Mannes. Einer Suche nach seinem Platz in der Welt und vor allem: seiner eigenen
Stimme. (Maria Feckl, LMU München)
Falcon Lake (Frankreich, Kanada 2022, R: Charlotte le Bon) (Wettbewerb CineVision)
Auf den ersten Blick ist es ein ganz normaler Coming-of-Age-Film. Zwei Jugendliche, die sich im Sommerurlaub näher kommen, dabei unsicher sind. Doch dem titelgebenden Falcon Lake wohnt eine gewisse Dunkelheit bei, eine schwer zu
erklärende Gefahr. Dabei bilden der See und der ihn umgebende Wald eine idyllische und farblich traumhafte Harmonie. Vielleicht sind es die Figuren, die teils (wenn auch milde) Mutproben erzwingen oder schadenfreudig lachen, wenn sie jemanden erschrecken. Auch wenn sich darin eigentlich nur die Unsicherheit der Jugendlichen zeigt, bleibt das ungute Gefühl. Ob es vielleicht an den Geistern liegt, die wohl um den See hausen? Doch auch dann bleibt die Frage, wieso es gleichzeitig
schön ist. Es ist diese widersprüchliche, schwer zu beschreibende Atmosphäre, die den Film besonders macht. (Paula Ruppert, LMU München)
Eine Liebeserklärung an die Melancholie – so beschreibt Charlotte le Bon ihr Regiedebüt. Eine Hommage an erste Partys, die erste Liebe und knisternde Lagerfeuergeschichten. Bastien trifft im Familienurlaub auf Chloé – spontan, wild und zwei Jahre älter als er. Mit ihrer eigenartigen Faszination für die Legende eines ertrunkenen Geistes stößt sie in ihrem Umfeld auf Unverständnis. Da kommt Bastian gerade recht: er lässt sie sein, wie sie ist. Schnell findet sie Gefallen an ihm und er wird Teil ihrer Welt. Doch die Partys mit älteren Jungs erinnern ihn daran, dass er noch keiner von ihnen ist. Eigentlich ist er zu jung für Chloé und doch hängen beide aneinander. Das Setting am See mit dichten Wäldern spiegelt auch ihr Inneres wider: ein verschlungenes Labyrinth, das erst erkundet werden muss. (Maria Feckl, LMU München)
Dieses Debüt ist Charlotte Le Bons »love declaration to melancholia«. Die Nacht und ihre Übergänge, Bilder der Seen und des sie umgebenden Walds im Zwielicht – sie reflektieren ihre Protagonisten magisch. In den Ferien ihrer Familien treffen sie sich wieder: er wird 14, sie ist »sweet sixteen«. Chloé fragt ihn nach seinen größten Ängsten und konfrontiert Bastien verspielt mit ihnen: »ça se mérite« (in etwa: das verdient man sich). Die Kamera ist ihm und seinen Blicken immer am nächsten. Chloé öffnet sich uns durch ihre spontanen Aktionen und ihre Überzeugung, dass am See ihr Phantom spukt. Charlotte Le Bon hat für ihr Drehbuch die Graphic Novel »Une sœur« von Bastien Vivès adaptiert und die Szenerie von der Bretagne in die ihr vertrauten Sommerferien in Québec verlegt. Ihr gelingt ein intimer Coming-of-Age. (Tilla Harms, LMU München)
War Pony (USA 2022, R: Riley Keough, Gina Gammell) (Wettbewerb CineVision)
An zwei männlichen Schicksalen werden äußerst eindringlich und erschütternd die Lebensverhältnisse im Pine-Ridge-Reservat entfaltet. Auch wenn ab und an ein mystischer Büffel erscheint, ist die Verbindung zu den indigenen Wurzeln
gekappt, im besten Fall ist sie noch touristisch. Der 12-jährige Matho handelt mit den geklauten Drogen seines Vaters, kifft, raucht und trinkt, klaut mit seiner kleinen Bande frühreifer Jungs Autos. Von Liebe und Fürsorge der Erwachsenen keine Spur, das ist kaum erträglich und ist auch beim 23-jährigen Bill nicht besser, der für seine zwei Kinder und Frauen keine Verantwortung übernehmen kann, unrealistischen Projekten nachgeht, ständig stoned, innerlich selbst ein Kind. Die
Abwärtsspirale dieser Generation ist schauspielerisch und filmisch perfekt inszeniert. (Christoph Becker)
Broker (Südkorea 2022, R: Hirokazu Kore-eda) (Wettbewerb CineMasters)
In Broker wiederholt sich Kore-eda erstmals, denn fast alle Motive seines preisgekrönten Films Shoplifters (2018) finden sich auch hier: Sozialkritisch überbautes Familien-Patchwork und Lügner bzw. Kleinkriminelle, die die besseren Menschen und natürlich die bessere Familie sind. Da Kore-edas Film in Südkorea spielt, sieht sich das fast so wie ein kleines südkoreanisches Remake, in dem Kore-eda allerdings emotional und auch mit dem Score und natürlich dem Baby-Broker-Motiv seine Standards noch einmal verstärkt, um seinen kritischen Querschnitt der
koreanischen Gesellschaft zu präsentieren. Das ist auch wegen seines hervorragenden Ensembles (u.a. Parasites Song Kang-ho) immer noch großes Kino, aber weit von seinen Meisterwerken wie Like Father, Like Son und Unsere kleine Schwester entfernt und man wünscht sich immer wieder, dass Kore-eda ein wenig mehr die alte Schreibratgeberformel Show, don’t tell beherzigen möge. (Axel Timo Purr)
Die Geschichte um eine junge Prostituierte, die ihren Säugling in eine Babyklappe legt und dann in einen Strudel von Kinderhandel und Polizeiverfolgung gerät, ist ein Feelgood-Roadmovie, kaum zu glauben. Ähnlich wie in dem großartigen Shoplifters findet sich eine neue Familie aus gesellschaftlichen Verlierern zusammen. Als Resultat gibt es sehr rührende und bewegende Szenen, in denen die Protagonisten zum ersten Mal in ihrem Leben echte Wertschätzung und Liebe erfahren. Insgesamt sind hier aber alle einfach zu nett, selbst die beiden Polizistinnen, die alles überwachen, es fehlen kantige Antagonisten oder eine schärfere Auseinandersetzung mit den sozialen Grundproblemen, um dem Film mehr Würze zu geben. So fokussiert sich alles zu lange auf die bange Frage, ob es für diese Wahlfamilie ein Happy End geben kann. (Christoph Becker)
Märzengrund (D/Ö 2021, R: Adrian Goiginger) (Spotlight)
Verlorene und wiedergefundene Heimat. Ein weiterer der in diesem Jahr dominierenden, ungewöhnlichen deutschsprachigen „Heimatfilme“, der aber anders als der große Bergfilm dieses Festivals
– Felix van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs Acht Berge – allein auf die Natur setzt, um von intrafamiliären und gesellschaftlichen Unwuchten erlöst zu werden. Diesen Gedanken, den ja schon die Romantiker zu großer Kunst führten, transformiert der österreichische Regisseur, der 2017 auf der Berlinale mit Die beste aller Welten debütierte, über die Adaption eines Theaterstücks zu einem bildmächtigen, auch emotional berührenden Film, dessen starkes Ensemble auch vom Abschied einer Zeit der unberührten Berge erzählt. Denn so wie der kaum zu dechiffrierende Zillertaler Dialekt, sind auch diese Berge inzwischen verschwunden. Was uns jetzt bleibt, um erlöst zu werden, sind wohl nur noch die
unermesslichen Weiten des Weltenraumes. (Axel Timo Purr)
One in a Million (Deutschland 2022, R: Joya Thome) (Kinderfilmfest)
Nach ihrem großartigen Low-Budget-Debüt mit der Königin von Niendorf und der eher unspektakulären Großproduktion Lauras Stern arbeitet Thome in ihrem neuen Film erstmals dokumentarisch. Das gelingt ihr hervorragend, stellt sie doch das Coming-of-Age zweier ausschließlich über soziale Medien befreundeter Mädchen aus den USA und Deutschland so ruhig und gelassen dar, wie es die Heldin in ihres ersten Films war und bietet ganz nebenbei ein völlig vorurteilsfreies, ebenso gelassenes Porträt digitaler Kommunikation und
medialer Präsenz. Die Entscheidung, ob das alles „nur“ ein „Leben aus zweiter Hand“ ist, bleibt dem Zuschauer überlassen, was eine durchaus ambivalente Herausforderung ist und jede Generation anders beurteilen dürfte. Denn Thome macht es dem Betrachter nicht einfach, da ihre Geschichte auch eine der digitalen Emanzipation ist. (Axel Timo Purr)
Mariupolis 2 (Deutschland, Frankreich, Litauen 2022, R: Mantas Kvedaravičius) (Spotlight)
Es ist der gelebte Albtraum, die Hölle auf Erden, das Paradoxon aus Alltag und Krieg. Für die Menschen in Mariupol ist das seit Putins Angriff die Realität. Der Dokumentarfilm des nach Ende der Dreharbeiten ermordeten litauischen Regisseurs Mantas Kvedaravičius zeigt die unter Dauerbeschuss stehende Bevölkerung zu Beginn des Krieges. Ohne Kommentar von außen werden die Belagerten gezeigt, die versuchen, inmitten von Tod und Zerstörung zu leben. Vor allem die absurde Normalität, die der Krieg für sie geworden ist, ist schwer mit anzusehen. Oft blickt die Kamera auch nur aus dem Fenster, zeigt, wie die Stadt zu einem Meer von Ruinen wird und brennt. Bombeneinschläge und andere Geschosse untermalen den Film wie ein Soundtrack. Es ist das beklemmende, eindringliche Portrait einer Stadt, die das Unaussprechliche lebt. (Paula Ruppert, LMU München)
Domingo y la niebla (Costa Rica, Katar 2022; R: Ariel Escalante Meza) (International Independents)
Domingo redet mit dem Nebel und der mit ihm. Die Bauern sollen ihre Häuser an eine korrupten Baufirma verkaufen, die Übernahme kann freundlich ablaufen, oder halt auf die harte Tour. Nach außen oft als
1st-World-Country portraitiert, zeigt der Film ein anderes Costa Rica. Gedreht wurde während Corona mit einem nur siebenköpfigem Team. Die Sozialkritik am Mafiakapitalismus geht eine Verbindung mit magischem Realismus ein, mit »la niebla«, dem Nebel, – on Set und ohne CGI entstanden – als eigenständigem Akteur. Markiert durch aufwändiges Sounddesign könnte dieser Domingos schnapsvernebelten Hirn entspringen. Vielleicht ist es aber doch Domingos verstorbene
Ehefrau Marilen, die aus dem Jenseits mit ihm Kontakt hält. Neben Ohnmacht und Wut ist es die Verzweiflung, die Domingo um sein Haus kämpfen lässt: Was, wenn Marilen/ la Niebla ihn dann nicht mehr findet? (Michaela Gruber, LMU München)
Der perfekte Chef (Spanien 2021, R: Fernando León de Aranoa) (Spotlight)
Vielleicht ist diese spanische Komödie dann doch etwas zu glatt und unterhaltsam, um sie als bitterbös charakterisieren zu können, obwohl die perfekte Fassade des Firmenchefs (Javier Bardem ist gut, aber eher unterfordert) und sein ständiges Gerede von der »Firmenfamilie« in vielen
Szenen als blanker Eigennutz und unternehmerische und sexuelle Ausbeutung entlarvt wird. Alles geht runter wie ein süffiger spanischer Wein (Musik, Timing, Kamera), bei dem nur der letzte Schluck wirklich korkt. Selten wird der Chef wirklich in Verlegenheit gebracht oder muss er seine Maske fallen lassen, wie einst unvergesslich Philippe Noiret am Ende von Masken von Claude Chabrol. (Christoph Becker)
Über die Notwendigkeit den Kapitalismus zu
demaskieren, hat ja schon Brecht viel Vorarbeit geleistet. Moralisch bewegt sich auch Fernando León de Aranoa in diesem Fahrwasser, ist aber erheblich unterhaltsamer, manchmal vielleicht sogar zu unterhaltsam. Trotz eines großartig aufgelegten Ensembles und Dialogen, die sich sogar um die Reimqualität von Demosprüchen kümmern und auch sonst sprachspielerisch vom Feinsten sind, wünscht man sich hier ein wenig mehr vom bösartigen Biss der Sozialdramen von Ken Loach oder
die bündige, gnadenlose Entschlossenheit von Cédric Klapischs Mein Stück vom Kuchen. (Axel Timo Purr)
Verlorene Illusionen (Frankreich 2021, R: Xavier Giannoli) (International Independents)
In dieser mitreißenden Literaturverfilmung aus einem Guss, die den Aufstieg und Fall eines jungen und naiven Schreibtalents im Paris des 19. Jahrhunderts schildert, reibt man sich verwundert die Augen, dass die Gesellschafts- und Medienkritik von Balzac aktueller nicht sein
könnte, wenn man ein paar Dinge austauscht. Aha-Erlebnis: In nur zwei Film-Minuten wird bewiesen, dass ein guter Roman von der Kritik mit entsprechenden Gegensatzpaaren zu einer Lobeshymne oder zu einem Verriss umgebaut werden kann. Dazu Liebe und Intrige satt, menschliche Gier und falsche Ziele – das alles mit tollem Timing für Tempo und Schwerpunktsetzung dynamisch gefilmt, mit zeitgenössischer Musik untermalt und mit großartigem Cast ausgespielt. Wow! (Christoph
Becker)
The Humans (USA 2021, R: Stephen Karam) (Wettbewerb CineVision)
Krankheit, Religion, Ehebruch – The Humans greift viele verschiedene Themen auf. Allerdings wird bei der Diskussion dieser Probleme nur an der Oberfläche gekratzt und dadurch ein undurchsichtiges Schauspiel inszeniert, in
dem man sich den Charakteren nicht näher fühlen kann. Auch unpassende, sich wiederholende Jump Scares und die Endszene, die an einen Horrorfilm erinnert, sorgen eher für Verwirrung als ein nachdenkliches Bild zu liefern. Jedoch strotzt »The Humans« nur so vor Symbolik und ästhetischen Bildern, die dem Zuschauer durch Close-ups und Out-of-Focus Shots die Probleme der Familie näher bringen. Durch die fehlende musikalische Untermalung wird es dem Publikum ermöglicht die
beklemmende Stimmung im Film selbst zu erfahren. Durch das offene Ende und den Überfluss an Komödien-, Drama- und Horror-Elementen entsteht ein Kunstwerk, dass mehr Fragen aufwirft als beantwortet. (Louisa Hoth, LMU München)
Ear For Eye (Vereinigtes Königreich 2021, R: debbie tucker green) (Wettbewerb CineRebels)
Und immer wieder die Hände. Sie stehen im Zentrum des Films über die rassistische Behandlung von Persons of Colour. Sind es doch die Hände, von denen potenzielle Gefahr ausgeht: Schusswaffen, Faustschläge. Egal wie weit hergeholt der Verdacht, zu oft wird genau dies schwarzen US-Amerikanern zum Verhängnis. Regisseurin Debbie Tucker Green betont, wie wichtig ihr authentische Körpersprache ist. Wenn die Mutter ihrem Sohn beipflichtet, dass er dieses Shirt nicht tragen, jene Mimik nicht zeigen darf. Alles potenzielle Provokation der Behörden, denn Widerworte werden sowieso im Mund verdreht. Intime Snapshots mitten aus dem Leben, die für zu viele Alltag sind. Voller zärtlicher Sorge und unaussprechlicher, müder Wut. Für die Aufforderung »give me a reason not to findet man keine Antwort. (Maria Feckl, LMU München)«
Wenn sich doch endlich einmal etwas ändern würde. Doch bis Alltagsrassismus einmal so wenig wird, dass er keine Rolle mehr spielt, muss sich noch viel ändern. Ear for eye zeigt diesen Rassismus aus der Sicht verschiedener Schwarzer, deren Konfrontation damit sowie den Umgang im häuslichen und familiären Kontext. Interessant ist dabei, dass Ort und Zeit nur sehr grob bestimmt sind und allem so eine Allgemeingültigkeit zugeschrieben wird. Der ursprünglich für das Theater geschriebene Stoff wird auch im Film zu großen Teilen auf einer Bühne gespielt, andere Elemente wie sich drehende Bühnenelemente und Projektionen sind ebenfalls dem Theater entnommen. Gleichzeitig werden die Möglichkeiten, die das Medium Film bietet, so meisterhaft genutzt, dass ein Kunstwerk entsteht, das man unbedingt sehen muss. (Paula Ruppert, LMU München)
Fire on the plain (China 2021, R: Ji Zhang) (International Independents)
Eine tolle Erfahrung beim Filmfest: Wie ausländische Filme die Zusammensetzung des Publikums verändern und plötzlich halbleere Kinosäle ausverkauft sind. Auch die Reaktionen auf bestimmte Szenen und Dialoge sind spannend – plötzlich
lachen alle und man selbst weiß gar nicht, wieso, hat die Szene anders dechiffriert. Eine bessere Art, in eine andere Kultur einzutauchen, über sie ins Gespräch zu kommen, gibt es ja gar nicht! Heute also ein chinesischer Film noir, mit vielen bekannten Zutaten, das Ganze im industriellen China 1997-2005, mit Arbeitslosigkeit als einem großem Thema. Viele Nacht-Szenen und eine sehr spezielle Amour fou, gespielt von zwei chinesischen Filmstars. Dem Publikum scheint das zu gefallen,
man selbst bleibt außen vor. (Christoph Becker)
Das Leben ein Tanz (Frankreich 2022, R: Cédric Klapisch) (Spotlight)
Tanzen ist ihr Leben – oder vielmehr ihr Anker. Seit dem sechsten Lebensjahr nimmt Elise Ballettunterricht, den Weg zur Primaballerina beschritt sie ohne Zweifel. Nun ist sie 26 und das Fatale geschieht: eine Verletzung. Was, wenn die große Leidenschaft des Lebens gefährdet ist? Elise begibt sich
auf eine Suche, die sie bisher nie nötig hatte. Cédric Klapisch zeichnet schrullige, aber liebenswerte Charaktere, bei denen der französische Humor nicht zu kurz kommt. Der Soundtrack überrascht bereits im Opening: verzerrte Töne und derbe Gitarrenriffs kontrastieren die klassische Ballettvorführung. Komponiert wurde dieser von Hofesh Shechter, der sich selbst als Kopf der gleichnamigen Tanzgruppe verkörpert. Ein Film, der erzählt, wie man sich selbst findet, wo man immer
schon gewesen ist. (Maria Feckl, LMU München)
Professionelles Tanzen ist immer mit dem Risiko verbunden, von heute auf morgen durch eine einzige Verletzung seine gesamte berufliche Grundlage zu verlieren und sich orientierungslos wiederzufinden. Genau das passiert der Balletttänzerin Elise, als sie bei einer Vorstellung mit dem Knöchel umknickt. Es entstehen tiefgehende Lebenszweifel, die erst dann weniger werden, als sie kreativ und privat neue Perspektiven und Denkanstöße findet. Die Handlung ist manchmal etwas seicht und vorhersehbar, doch gerade alle Szenen mit KünstlerInnen, sei es bei Tanz oder Musik, sind sehr gut ausgearbeitet und technisch einwandfrei umgesetzt, was beim Zuschauen viel Freude bereitet. Ein Tanzfilm der angenehmen Art mit etwas Tiefe, der zeigt, dass Kreativität und Kunst im Leben bereichern, helfen und heilen können. (Paula Ruppert, LMU München)
Petrov’s Flu (D/F/RUS/CH 2021, R: Kirill Serebrennikov) (Wettbewerb CineRebels)
Irgendwo in Russland, vielleicht in Jekaterinburg, vielleicht in einer anderen Stadt, irgendwann nach dem Zerfall der Sowjetunion. Die Grippe geht um, und in die Alltagseindrücke der Petrovs mischen sich Fieberträume und Halluzinationen. Diese sind meist brutal,
blutig, anarchisch. Und dann gibt es da noch die Kindheitserinnerungen, die in ihrer Bildästhetik sowjetischen Filmen ähneln. Realität und Einbildungen sind eng miteinander verwoben und kaum voneinander trennbar. Wie so oft in zeitgenössischen russischen Filmen ist alles trostlos, kalt, nass, eben blutig und hat einen sehr speziellen Humor. Doch die Bildsprache und die Mischung aus ästhetischer und Rockmusik haben ihren Reiz. Es ist allerdings zu bezweifeln, dass der Film
etwas für Zuschauer ist, die diese Art Film zum ersten Mal sehen. (Paula Ruppert, LMU München)
Hustend, niesend, schwitzend... und im Delirium kommt man vielleicht auch als Zuschauer aus dem Kino, nach diesem genial-fiebrigen radikalen Film, der mit einem Erschießungskommando beginnt, und sich dann langsam steigert.
Das Russland der 90er war auch nicht besser als das heutige: In dieser Alltagshölle des Materialismus wird Titelheld Petrov zum Josef K. eines in Ruinen liegenden Schlosses. Petrov’s Flu ist zumindest formal die Verfilmung des gleichnamigen Roman des erst 43-Jährigen russischen Autors Alexei Salnikov, das im Original etwa »Die Petrovs in und um die Grippe« bedeutet, und im nächsten Jahr auf Deutsch erscheint.
Kirill Serebrennikov gelingt ästhetisch herausragendes Achterbahnkino und ein rebellisches Manifest gegen den nationalistischen Geist, nicht nur den russischen. (Rüdiger
Suchsland)
Er hinterlässt rechtes Schädelweh, der zweite Film des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov Petrov’s Flu. Der Fiebertraum seines Protagonisten Petrov – ein Comiczeichner – gerät in die Zeitschleife eines karnevalesken Chaos‘ wiederkehrender Kindheitserinnerungen. Ein surrealer Linienbus, für den Buñuels Straßenbahn Pate gestanden haben mag, bringt eine Schicksalsgemeinschaft durch das in Schlamm und Düsternis versinkende Land – mit einer gulagstutengleichen Schaffnerin, die harsch den Rubel für die Fahrkarte einfordert. Wenn hier die Frauen schreien, morden, nackt oder schwanger sind, macht sich schale Misogynität breit, aber auch die lauten, saufenden und unappetitlichen Männer kommen in dieser Dystopie nicht besser weg. Das ganze Leinwand-Schlammassel mitsamt bilderstürmender Leinwand-Rebellion passt tatsächlich unter das Stichwort »Cine-Rebel«, zehrt aber auch gehörig an den Nerven. (Dunja Bialas)
El Hoyo en la cerca (Mexiko 2021, R: Joaquín del Paso) (International Independents)
Der Mexikaner Joaquín del Paso entwirft das düster-dystopische Bild einer Oberschicht, die sich für den Machterhalt und die Sicherung der Privilegien in Allianz mit der katholischen Kirche in übelsten Formen der Repression übt.
Del Paso wählt dafür als Modell das Feriencamp einer ultrakonservativen kirchlichen Organisation (mit polnischen Priestern), in dem die verwöhnten Jungs der besseren Familien ihre rassistischen und homophoben Ressentiments austoben. Den Leitern des Camps geht es vor allem darum, über eine durch das Loch im Zaun suggerierte Bedrohung von außen (durch die Armen und die Indigenen) ihre Unterdrückungserziehung mit Angst zu legitimieren. Del Pasos pessimistische Vision
lässt wenig Raum für Hoffnung. Die eigenartig künstlich in die idyllische Landschaft eingebettete Ferien-Enklave erzeugt indes verstörende Effekte abgründigster Camp-Ästhetik. (Wolfgang Lasinger)
Godland (Dänemark/F/IS/S 2022, R: Hlynur Pálmason) (Wettbewerb CineMasters)
Protagonist dieses beeindruckenden Historienfilms um einen jungen dänischen Priester, der irgendwo in der Einöde Islands eine Kirche bauen lässt, ist die großartig fotografierte Landschaft. Diese muss der Fremde erstmal bezwingen, um in der zweiten Filmhälfte seine Gemeinde
übernehmen zu können. Hier entfaltet sich ein ungeheuer intensives Psychodrama um koloniale Anmaßung, zarte Annäherung, kulturell-sprachliche Identität und männliche Rivalität. Ist die Religion mit ihren starren Vorgaben dabei eine Hilfe? Der Priester fotografiert ausgewählte Menschen; so bleiben Zeugnisse des flüchtigen Lebens in einer ewigen Natur, die irgendwann Tier und Mensch in ihrem Schoß begräbt, was an einem verwesenden Pferdeleichnam eindrucksvoll exemplifiziert wird.
Hier kann eine Kolonialmacht nur scheitern. (Christoph Becker)
Ein wuchtiger und stiller Film, so wie die Landschaft Islands, der an die großen Romane des isländischen Nobelpreisträgers Halldór Laxness erinnert, der sein ganzes Leben gegen das Vergessen der dänischen Kolonialzeit auf Island angeschrieben hat. So wie in anderen europäischen Kolonien wird auch auf Island mit dem Kreuz missioniert, das hier aber schon schnell abhanden kommt. Mit überzeugend psychologischer Tiefe, umwerfenden Schauspielern und einer poetischen Kamera gelingt es Hlynur Pálmason nicht nur die komplexen Facetten kolonialen (und rassistischen) Denkens und Handelns zu demaskieren, sondern auch noch eine zärtliche Liebesgeschichte zu erzählen, eingerahmt in die Anfänge der Fotografie. (Axel Timo Purr)
Butterfly Vision (Kroatien/S/CZ/Ukraine 2022, R: Maksym Nakonechnyi) (Wettbewerb CineVision)
Ein Schicksal erzählt durch Kameras, so könnte man Butterfly Vision wohl am besten zusammenfassen: Livestreams auf Social-Media-Plattformen, Fernsehreportagen, und die Kamera, mit der die Protagonistin Lilja, die in der Ostukraine Aufklärungsdrohnen fliegt, die Welt sieht. Bei diesen Bildern ist nicht immer klar, ob es sich tatsächlich um Aufklärungsflüge handelt oder um Darstellungen von Liljas Trauma, die nach der Befreiung aus der Kriegsgefangenschaft versucht, das Geschehene zu verarbeiten. Ein immer wieder durch hektische, flashbackähnliche Zwischenschnitte unterbrochenes Portrait einer Frau, die Krieg bewältigen will, von der Gesellschaft aber heroisiert wird. Schaler Beigeschmack: der Film ist u. a. vom ukrainischen Ministerium für Kultur und Informationspolitik gefördert, eine Kombi, die stutzig macht. (Paula Ruppert, LMU München)
Elfriede Jelinek – Die Sprache von der Leine lassen (D, 2022: R: Claudia Müller) (Neues Deutsches Kino)
»Aber nun rastet eine Weile«: Mit dieser Aufforderung endet Elfriede Jelineks Roman »Die Kinder der Toten«, den sie selbst für ihren wichtigsten hält. Zu rasten scheinen auch die menschenleeren Dörfer in der winterlichen Steiermark, wo Jelinek 1946 geboren wurde.
Die Kamera der ebenfalls von dort stammenden Christine A. Maier durchfährt sensibel die Landschaft, unterlegt von den gnadenlos sezierenden Sentenzen der Nobelpreisträgerin. Claudia Müllers Porträt ist ein Meisterwerk der unterhaltsamen Überraschungs-Montage, das die österreichische Nachkriegsgeschichte und damit Jelineks Motive von patriarchaler Frauenverachtung bis zur »Buberlpartei« FPÖ auffächert. Die liebevolle Hommage macht wach, räumt mit Vorurteilen über die
angebliche Österreich-Hasserin auf und weckt unangestrengt den Appetit auf Literatur. Die Porträtierte soll sich anerkennend geäußert haben. (Katrin Hillgruber)
In der Cut-up-artigen Montage ahmt Claudia Müllers Portrait eines der ästhetischen Prinzipien von Elfriede Jelinek nach. Befreit wirken nicht nur ihre von vielen Stimmen vorgetragenen Texte (u.a. Sandra Hüller, Sophie Rois, Maren Kroymann), sondern auch das Kinodebüt der 58-jährigen Regisseurin. Das Bild der »Nestbeschmutzerin« entsteigt gruseligen Zeitungsausrissen und den TV-Auftritten von Waldheim und Haider, beide dem extrem rechten Spektrum anzusiedeln, die eine krasse Kampagne gegen die besten Kulturköpfe führten. Die innere Emigration der Jelinek folgte prompt. Dass sie damit auch ihre Zusammenarbeit mit Theaterregisseur Einar Schleef beendete, der unter Peymanns Intendanz das Burgtheater mit physischem, kraftvollem Sprechtheater zur Avantgarde zeitgenössischen Theaterschaffens machte, löst größtes Bedauern aus. Man will mehr von diesen Inszenierungen sehen und mehr von Jelinek lesen. Der Griff zum Bücherschrank ist schon getan! (Dunja Bialas)
Wer glaubt, dass dieses Jelinek-Porträt nur etwas für Literatur-Interessierte ist, täuscht sich. Denn Müllers Dokumentation ist weit mehr – sie ist auch Zeitreise und Zeitdokument eines sich von brauner Soße und frauenfeindlichen Sentenzen emanzipierenden Österreichs, dass dennoch im Sumpf steckenbleibt. Was Müller hier mit dem Vehikel Jelinek über die Geißel des Tourismus erzählt, den Wut und den Hass und die erste Welle des Populismus über den Trump-Vorgänger Jörg Haider und es mit Jelineks Prosa verschränkt ist aufregend und spannend und macht Lust, mehr von der Autorin von Hanekes Klavierspielerin zu lesen, auch wegen Sätzen wie diesen: »In Paulas Möse geht seit lange Zeit schon nichts mehr vor sich.«, zu denen Müller eigentlich immer die richtigen Bilder findet. (Axel Timo Purr)
Domingo y la niebla (Costa Rica/Katar 2022; R: Ariel Escalante Meza) (International Independents)
Filme aus Costa Rica haben Seltenheitswert. Der Witwer Domingo (Carlos Ureña) führt einen einsamen Kampf gegen die mafiösen Vertreter einer Baufirma. Er will seinen Hof am Rande des Regenwaldes nicht verlieren,
durch den ein Highway gebaut werden soll. Vor allem aber glaubt Domingo fest daran, dass ihn seine verstorbene Frau in Gestalt eines dichten bläulichen Nebels besucht, der durch alle Ritzen seines alten Holzhauses zu ihm dringt. Ariel Escalante Mezas Film kombiniert Sozialkritik an der angeblich prosperierenden Schweiz Mittelamerikas mit phantastischen bis übersinnlichen Elementen der Meteorologie, unterlegt und verstärkt durch faszinierende Sound-Effekte. Die
überquellenden Klang- und Farbwolken, in die Domingos gelber Regenmantel emblematisch eintaucht, wiegen jedoch eine gewisse Handlungsarmut nicht auf. (Katrin Hillgruber)
Dieser rätselhafte Film aus Costa Rica konfrontiert die an das Erzählkino gewöhnten Zuschauer durch schwebenden Real Maravilloso (»wunderbare Wirklichkeit«), der, wie der Ausdruck nahelegt, ganz und gar real aufzufassen ist. Verstreute Häuser auf dem abgelegenen Hinterland sind aus unerfindlichen Gründen Spekulationsobjekte einer Enteignungsmafia. In Gangsterart agieren die Geschäftsleute, fahren Drohszenarien auf und auch konkrete Munition. Auch bei Domingo. Der alte Mann versorgt seine einzige Kuh liebevoll, ansonsten trifft er sich mit Freunden, um Hochprozentiges zu trinken. Ein surrealer Nebel sucht ihn immer wieder heim, dringt in die Ritzen seines Holzhauses, nebelt im Schlaf ein, es ist die Seele seiner verstorbenen Frau, eine Wiederkehrerin, die ihn abholen kommt. Mit seinen ungewöhnlichen Nebelbildern entrückt der Film auch die Kinozuschauer. (Dunja Bialas)
The Cathedral (USA 2021, R: Ricky D’Ambrose) (International Independents)
Unterschiedlicher könnten zwei Filme zum Thema Trennung der Eltern nicht sein. Während Petite Solange ganz kindliches Gefühl ist, ist The Cathedral ganz analytischer Verstand.
In künstlich gestellten Szenen und Stills werden die Stationen der Familiengeschichte von Jesse in größtmöglicher Distanziertheit abgehandelt, strukturiert durch Portraitfotos von Jesse und TV-Bildern der amerikanischen Geschichte. Der Protagonist selbst bekommt keinen einzigen persönlichen Satz, er ist stummer Spielstein, der von den Eltern verschoben wird. Stattdessen ist in der Familie viel von Geld die Rede. Die Wirkung ist von grausamer Trostlosigkeit, die
Leerstellen der kindlichen Gefühlswelt muss man selbst ausfüllen. Ein radikaler Ansatz des Nicht-Erzählens, der dem Zuschauer einige Geduld abfordert. (Christoph Becker)
Jagdsaison (Deutschland 2022, R: Aron Lehmann) (Spotlight)
Ein wenig frustrierend ist das schon, dass nach Contra eine weitere hervorragende deutsche Komödie »nur« ein Remake ist, des dänischen Films Jagtsæson (2019) von Tilde Harkamp. Aber egal, kommt
Draht rum. Aron Lehmann (Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel) zeigt, dass er dem Stoff gewachsen ist und mit Lea Schmidbauer und Rosalie Thomass zu einem wilden Ritt in emanzipatorischer Frauenermächtigung transformiert hat, der voller Slapstick ist und mit fiesem, immer wieder ekstatischem, sexualisiertem Humor über die Stränge schlägt wie Steve Carell in The 40-Year-Old Virgin, John Ritter in Blake Edwards' Skin Deep, Adam Sandler in Höchstform oder Melissa McCarthy in einer ähnlichen Girls-Buddy-Formation in Brautalarm. Und natürlich ist es in solchen Fällen immer zu loben, dass auch Hasen und Hunde sterben dürfen, in einer Szene, die ähnlich fantastisch und souverän inszeniert ist wie einst der Tod eines Hundes in A Fish Called Wanda. (Axel Timo Purr)
Rex Gildo – Der letzte Tanz (Deutschland 2022, R: Rosa von Praunheim) (Neues deutsches Kino)
So wie Claudia Müllers Film über Elfriede Jelinek ist Rosa von Praunheims Porträt des Schlagersängers Rex Gildo ebenfalls ein Porträt eines sich wandelnden Landes, das den einst
erfolgreichen Star am Ende in seine Möbelhäuser verbannt, obwohl da schon wieder Schlager angesagt sind und Schwulsein sowieso. Die Einsamkeit des Stars erinnert an die Einsamkeit von Baz Luhrmanns Elvis und die interviewten Schlagergrößen wie Cindy, Costa Cordalis oder Gritte Haenning ergänzen immer wieder kongenial die gespielten Elemente des Films, die nicht immer gelungen sind, dafür aber
so klug wie humorvoll die Perspektive ihres Regisseurs hinterfragen, etwa in der direkten Ansprache an Praunheim: »Sie sind eine alte Sau, nicht alle Menschen sind schwul.« (Axel Timo Purr)
Wut auf Kuba (Deutschland 2022, R: Naira Cavero Orihuel) (Neues deutsches Kino)
Knallhartes Sozialdrama, das sogar noch das Obdachlosen- und Arbeitslosen-Elend von Christina Ebelts Sterne über uns in seiner Hoffnungslosigkeit in den Schatten stellt. Denn statt eine zu
bekämpfende Gegenwartsmisere steht hier auch noch ein Trauma aus dunklen Kindheitstagen im Zentrum, das sich im Lauf des Films erwartungsgemäß aus den verborgenen Schichten des Unterbewusstseins nach oben boxt und zwei weitere, versehrte Mitspielerinnen mit ins Boot holt, die ebenfalls ihre biografische Last zu tragen haben. Das ist derartig intensiv und schauspielerisch überzeugend umgesetzt (vor allem Lena Schmidtke als Marlene, aber auch die Kinderschauspieler agieren
hervorragend), dass man bisweilen den Blick abwenden muss, um das ausgestellte Elend überhaupt ertragen zu können. (Axel Timo Purr)
Gott ist ein Käfer (Deutschland 2022, R: Felix Herrmann) (Neues deutsches Kino)
Felix Herrmanns HFF-Abschlussfilm sieht sich wie ein klassischer, deutscher Mumblecore-Movie. Assoziativ, suchend, aber nicht in Frage stellend wird hier in zufällig und spontan wirkenden Dialogen moderne (also junge)
Beziehungsbildung genauso unneurotisch in den Raum gestellt wie die Sache des Glaubens. Man könnte auch an Kleists Verfertigung des Gedankens beim Reden denken. Gedanken, die zwischen Komplexität und Naivität, dem Ambiguitätsparadigma früher Islamwissenschaftler und der Frage, was Liebe ist, ausschlagen wie ein Geigerzähler unserer Alltagsexistenz und dabei auch immer im Alltag der beiden Protagonisten Alina und Benjamin vererdet werden. Das macht vor allem deshalb Spaß und
neugierig, weil das Konzept völlig offen ist und damit immer wieder überrascht. (Axel Timo Purr)
Performer (Deutschland 2022, R: Oliver Grüttner) (Neues deutsches Kino)
Es ist schwer, an diesem Coming-of-Age-Film eines jungen Abiturienten Interesse zu entwickeln, denn anders als in den vergleichbaren, sehr ambivalenten Filmen eines Larry Clark (z.B. Kids), bleibt hier jedes Gefühl, jede Handlung, jeder Dialog, jedes Date, ja sogar das gemeinsame Saufen wie unter einer Käseglocke konserviert, ist selbst die toxische Männlichkeit, die sich aus Unsicherheit gegenüber dem eigenen Ich entwickelt, so belanglos wie die Abiturrede, die hier am Ende gehalten wird. Was als Film zuweilen kaum erträglich ist, ist als Ethnologie eines Soziotops dafür umso interessanter, wird hier doch eine Jugend
(und in Ansätzen auch die Elterngeneration) porträtiert, die apolitischer, neurotischer und visionsloser nicht sein könnte. Für die Zukunft Deutschlands eine Drohgebärde, die fürchterlicher nicht sein könnte. (Axel Timo Purr)
Sirens (USA/Libanon 2022, R: Rita Baghdadi) (International Independents)
»Wow, she’s cute.« Zwei Freundinnen unterhalten sich gelöst über die Eroberung der letzten Partynacht – eine weibliche. Um sie herum: Demonstration gegen das Regime – homophob und Anti-Meinungsfreiheit. Eine paradoxe Szene, die den Alltag junger Menschen im Libanon beschreibt. Regisseurin Rita Boghdadi erzählt die Geschichte der ersten Thrash Metall Band des Landes mit ausschließlich weiblicher Besetzung. Lilas und Sherry bilden deren unausgesprochenes Zentrum – ihre explosive Verbindung sofort spürbar fürs Publikum. Die Sirens stehen ganz am Anfang. Selbstzweifel, Zukunftsängste, den Krieg direkt vor der Haustür. Doch gemeinsame Leidenschaft lässt sie hoffen. »I’m right behind you«, sagt Shery, als sie einen dunklen Tunnel betreten. Doch wird sie an dessen Ende Licht erwarten? (Maria Feckl, LMU München)
Der Russe ist einer, der Birken liebt (Deutschland/Israel 2022, R: Pola Beck) (Neues Deutsches Kino)
Selbstfindung gestaltet sich schwierig bis fast unmöglich, wenn man pausenlos vor sich selbst und dem, wodurch man in der Vergangenheit geprägt wurde, davonrennt. Genau das jedoch tut Mascha, die als Simultanübersetzerin eine potentielle Karriere bei der UNO
anstrebt. Dann funkt ihr Privatleben dazwischen, wirft sie aus der Bahn, sie nimmt reißaus. Erzählt wird zunächst nicht chronologisch, fast episodenhaft, nichts wird erklärt. Je mehr die Protagonistin zu sich findet, desto weniger sprunghaft wird die Handlung. Die langen Einstellungen laden dazu ein, zu reflektieren und sprichwörtlich den Fokus auf das zu setzen, was wichtig ist. Dass das Leben ein Gewirr aus Kulturen, Religionen, Party und Ruhe ist, kommt darin wunderbar zum
Tragen. Und man sieht diesem Gewirr dabei zu, wie es sich ordnet. (Paula Ruppert, LMU München)
Intensivste Identitätssuche mit der absoluten Kernschmelzfrage unserer globalisierten (deutschen) Gegenwart: was macht es aus Deutsch oder etwas anderes zu sein? Die Freunde, die Familie, die Sprache oder das Land, in dem man wohnt? Aylin Tezel als Dolmetscherin (Officium est Omen) möchte man auf ihrer Suche nach ihren verschwurbelten Wurzeln und ihrem Wunsch, irgendwo dazuzugehören, gar nicht mehr aufhören zuzusehen, so intensiv und zerrissen füllt sie ihre verzweifelte Rolle auf der Suche nach kulturellen Leer- und Zwischenräumen und Liebesschnittestellen aus, unterstützt von einem bemerkenswerten Score, das nie zu laut, sondern dezent, aber doch tragend ist. Und dann immer wieder die Tanzszenen in Clubs, die einer rituellen Reinigung gleichen und den Film kapitelartig katalogisieren. (Axel Timo Purr)
Scarlet (D/F/I 2022) (R: Pietro Marcello) (Wettbewerb CineRebels)
Das Märchen vom Tischler und seiner Tochter, das uns Pietro Marcello (Martin Eden) auf die Leinwand zaubert, ist herrlich altmodisches Kino. Was wird uns hier eigentlich erzählt, wenn ein Prinz vom Himmel fällt
und die arme Tischlertochter rettet, mag sich hier die feministische Seele empören. Zu Recht! Auf dieser Ebene gelesen aber würde man die verführerische Kraft von Marcellos Kino-Nostalgie verkennen. Er schenkt uns eine fast archetypische Erzählung vom Außenseiterdasein, das durch Hexenwerk und Tischlerkunst zu bezähmen ist, ein Aufgebot auch gegen die unbarmherzig mobbende Gesellschaft. Inszeniert wird im Stil der 1960er Jahre, mit plötzlichen Zooms und wenigen Dialogen.
Man sieht den Menschen hier beim Träumen zu. Wenn die Tochter singend im Waldsee bei Bilitis-Glitzersonnenlicht schwimmt, verliebt sich der Prinz augenblicklich in sie, und alle eskapismuswilligen Zuschauer*innen mit ihm. (Dunja Bialas)
Quantum Cowboys (USA 2022, R: Geoff Marslett) (Wettbewerb CineRebels)
Wenn man Glück hat, spielt Howe Gelb nach der Vorstellung auf seiner Gitarre noch eine kleine Zugabe. Ein total nettes Filmteam mit echten Cowboyhüten und echtem Lebkuchenherz! Der Film selbst mischt Quantenphysik/Metaverse-Referate,
Animation und Realfilm zu einer witzigen Westerngeschichte zusammen. Das ist ambitioniert, ästhetisch originell und insgesamt abwechslungsreich gestaltet und sicher muss man den Film fünf Mal anschauen, bis man ihn einigermaßen inhaltlich dechiffriert hat, aber man kann sich schon fragen, worin die aktuelle Relevanz dieses ganzen Werkes liegt. Denn die Westerngeschichte selbst ist im Grunde äußerst banal und wird wohl keinen Pulitzer-Preis gewinnen. Aber das ist für dieses
ausgefallene Stück Liebhaber-Kino vermutlich der falsche Ansatz. (Christoph Becker)
Petite Solange (Frankreich 2021, R: Axelle Ropert) (Wettbewerb CineMasters)
Ein sympathischer, feinfühliger Film, mit dem die Regisseurin ganz bewusst in der Bildgestaltung an die Nouvelle Vague erinnert. Konsequent wird die Perspektive der 13-jährigen Solange (fantastisch: Jade Springer) eingenommen, die
mit ansehen muss, wie ihre Eltern langsam auf eine Trennung zusteuern. Diese können ihre Situation nicht gut kommunizieren, sind selbst völlig überfordert und leider sind auch Solanges großer Bruder und ihre beste Freundin keine echte Hilfe bei der Bewältigung dieser Krise. Die Schule sieht zunächst vor allem nur das neue problematische Verhalten der guten Schülerin. Das Ganze wirkt, was die Erzählweise und das analoge Filmen angeht, auf positive Weise etwas retro, ist aber ganz
rund und berührt v. a. aufgrund der Glaubwürdigkeit der Hauptdarstellerin. (Christoph Becker)
Alle wollen geliebt werden (Deutschland 2022, R: Katharina Woll) (Neues Deutsches Kino)
Bekanntlich sind Psychotherapeuten für die eigenen Probleme nicht immer die besten Experten. So auch Ina (Anne Ratte-Polle), die ihre eigenen Stressfaktoren einfach nicht in den Griff bekommt. Der Film ist lustig eskalierend, klischeebeladen und alltagsecht, bleibt aber großteils
auf lauwarmem TV-Abend-Niveau. Unter die Haut geht allein die Beziehung zu ihrer Tochter (Lea Drinda), deren pubertäres Schwanken zwischen Empathie und hypersensitivem Beleidigtsein einfach großartig authentisch ist. Nur selten wird die vorhersehbare Handlung durch völlige Überdrehung wirklich unvergesslich: Als Ina beim 70. Geburtstag ihrer Mutter »I believe in Miracles« vortragen soll, überbieten sich die egozentrische Mutter und ihre Tochter im herrlich absurd-grausamen
Gesangswettstreit. (Christoph Becker)
Eine großartige Anne Ratte-Polle als Psychotherapeutin Ina wird vom Alltag übermannt und zerrissen, ein Alltag, der stärker als jede Emanzipation ist, weil frei nach Ulrich Becks und Elisabeth Beck-Gernsheims »Riskante Freiheiten« jeder für seine Freiheit selbst verantwortlich ist. Ein Film, der von wahrem Leben nur so vibriert und keinem Streit und Konflikt aus dem Weg geht und wie eine Versuchsanordnung funktioniert, die zeigen will, dass auch die stärkste Frau gebrochen werden kann. Aber dann erinnert Regisseurin Katharina Woll auch wieder an die Tragik von Anton Tschechows großer Heldin Olga Semjonowna Plemjannikowa in seiner Erzählung »Herzchen«, die in heutiger Zeit wohl auch ihre lässige, kaum erträgliche Ruhe verloren hätte. (Axel Timo Purr)
Mutter (Deutschland 2022, R: Carolin Schmitz) (Neues Deutsches Kino)
Verfremdung als Prinzip: Man hört Stimmen von acht Frauen, die von ihrem Muttersein erzählen, während man aber die ganze Zeit Anke Engelke bei einem fiktiven Alltags-Tagesablauf und in allen möglichen willkürlich ausgewählten Situationen zusieht, wie sie scheinbar diese Texte spricht. Pourquoi?
Wo ist der Mehrwert? Gillian Wearing hat so etwas schon mal brillant fürs Museum gemacht, aber in diesem Film achtet man vor allem auf Engelke und ihre Inszenierungen (»toll«: mit Art Indianerschmuck als Kellnerin oder »spannend«: in der Autowaschanlage) und die chronologisch fragmentierten Texte landen auf der Aufmerksamkeits-Müllhalde. Damit leistet man dem gesamten Themenkomplex »Mutter« einen Bär*innen-Dienst. Schade. (Christoph Becker)
Gleich mehrere Identitäten fließen in Anke Engelke zusammen, die als eine Art Mutter-Kompositum auf der Leinwand performt. Die für ihre strengen Dokumentarfilme bekannte Carolin Schmitz (Portraits deutscher Alkoholiker), führt hier in einer Kunstfigur verschiedene Erzählungen von Frauen und Müttern aus Gesprächen zusammen, die sie auf dokumentarische Weise für den Film geführt hat. Dass dies alles in ein und derselben Performerin zusammenläuft, ist die ultimative und radikal künstlerische Konsequenz im Blick auf das, was »Mutter« alles sein kann. Eben keine durchlaufende Biographie, sondern ein Zusammenspiel und Wettstreit verschiedener Selbstbilder und Fremdzuschreibungen, Schuldzuweisungen, Sorgen und Leidenschaften. Ein Film wie eine Anklage an unser verkorkstes Mutterbild, mit Anke Engelke als souveräne Botschafterin. (Dunja Bialas)
Dass Anke Engelke eine Mutter sein kann, hat sie 2019 in Lena Stahls starkem Mein Sohn gezeigt. Dass sie auch acht Mütter kann, stellt sie in Carolin Schmitz‘ hybrider Charakterstudie unter Beweis, in der acht Frauen zwischen 30 und 75 die Schauspielerin Engelke als »Marionettenpuppe« instrumentalisieren und von Lebenslinien ohne viel Freude, Leidenschaft und nur ganz selten Erfüllung erzählen. Durch die Ein-Personen-Inszenierung wird deutlich, dass Anspruch und Erfüllung des Mutterseins nicht weiter auseinanderklaffen könnten, das Ende vom Lied alles andere als glücklich und ziemlich »eindimensional«, eine Emanzipierung im Gegenwartsalltag weiterhin Wunschdenken ist. Ein Film, der auch als Video-Installation im Kunst-Segment fantastisch funktionieren, den Standard-Kinogeher aber immer wieder überfordern dürfte, denn der Wunsch nach der ganzen Geschichte jeder der Frauen und ihrer Gesichter, ihrer Körper, ihrer ganz eigenen Seelenlandschaft, ohne jedwede postmoderne Defragmentierung ist am Ende doch deutlich spürbar. (Axel Timo Purr)
So laut du kannst (DE 2022, R: Esther Bialas) (Neues Deutsches Fernsehen)
Beeindruckend komplex und trotzdem hoch spannend und bewegend erzählt dieser Film, der unbedingt ins Kino und nicht nur ins Fernsehen gehört, von einer Vergewaltigung bei einem Business-Herrenabend. Dem fantastischen Drehbuch hauchen
Friederike Becht und Nina Gummich Leben ein, spielen natürlich, sensibel, mitreißend und zeigen alle Facetten an Emotionen und Reaktionen, die eine solche Tat bei dem Opfer und ihrer besten Freundin auslösen. Dicht an ihnen dran, aber nie als Selbstzweck, die Kamera von Martin Neumeyer. Wie schwierig es ist, einen Täter zur Rechenschaft zu ziehen, wird auch gezeigt. Eine Möglichkeit deutet das optimistische Ende an. Besser kann man dieses Thema nicht abbilden! (Christoph Becker)
The Humans (USA 2021, R: Stephen Karam) (Wettbewerb CineMasters)
Das Ende vom Lied des weißen Amerika. Der Dramatiker Stephen Karam hat seinen eigenen, sehr erfolgreichen Einakter mit Starbesetzung für das
Kino adaptiert und ist in fast jeder Einstellung ganz im Theater geblieben. Dem Kammerspiel hätten ein paar Minuten weniger und ein paar mehr filmische Rückblenden gut getan, andererseits könnte die klaustrophobe, ausweglose Bühnenatmosphäre einer heruntergekommenen New Yorker Wohnung das Haus, das Amerika heute ist, nicht besser illuminieren, braucht es keinen Horrorfilm mehr, denn in Amerika ist inzwischen der ganz alltägliche Alltag mit Horrorelementen bestückt, die
Karam immer wieder pointiert über die Wohnsituation in Szene setzt. Und das ist weit mehr als nur Symbol für eine weiße Mittelschicht, der nicht nur finanziell, sondern auch moralisch die Felle davonschwimmen, so dass sich am Ende die Tür so schließt, wie sich sonst nur Sargdeckel schließen. (Axel Timo Purr)
»New York’s not my home« von Jim Croce könnte das Motto für diesen Film sein. Stephen Karam hat mit seiner ersten Filmregie sein eigenes Theaterstück inszeniert, und das sieht man auch. Denn dieses Familien-Thanksgiving in der neu bezogenen Bruchbude in New York ist ein reines Kammerspiel, das durch lange Close-ups der maroden Wände und Wasserrohre symbolisch angereichert wird. Familie/Gesellschaft = Bruchbude. Die langsam dahinplätschernden Familienprobleme und unsicheren Bindungen sind absolut realistisch und authentisch, aber für einen spannenden Film fehlen dramatische Verdichtungen, Überraschungen oder emotionale Explosionen. Auch die recht guten Schauspieler können da selten Funken schlagen. Da kann man ja gleich an die letzte eigene Weihnachtsfeier denken … (Christoph Becker)
Solastalgia (Deutschland 2022, R: Marina Hufnagel) (Neues deutsches Kino)
Marina Hufnagels HFF-Abschlussfilm hat natürlich nichts mit Andrei Tarkowskis Spätwerk Nostalghia zu tun, obwohl es auch hier um den
Verlust von Heimat geht und um seine Rettung durch die Generation „Fridays For Future“. Hufnagels Porträt einer Aktivistin auf Pellworm wirkt in seiner hybriden Aufbereitung, dem Mix aus gespielten Szenen und den Einblendungen von klimarelevanten Nachrichten phasenweise wie ein besserer Schülerfilm und überzeugt erst in den Momenten, wenn es um die Risse geht, die sich durch die Gesellschaft ziehen, in diesem Fall zwischen den Geschwistern von Hufnagels
Protagonistin, die mit dem Aktivismus ihrer Schwester so gar nichts anfangen können. Die Einsamkeit, die hier entsteht, ist so unheimlich wie ernüchternd, zeigt sie doch dezidiert die fehlenden Schnittstellen unserer Gesellschaft auf, ohne die eine Rettung unseres Planeten nicht möglich sein dürfte. (Axel Timo Purr)
Nicht ganz koscher – Eine göttliche Komödie (Deutschland 2022, R: Stefan Sarazin, Peter Keller) (Neues deutsches Kino)
Stefan Sarazin und Peter Keller springen mit ihrer Komödie auf den ziemlich erfolgreich dahinrasenden Filmzug jüdisch-orthodoxer Formate wie Unorthodox oder Shtisel auf, und auch Alles auf Zucker! von Dani Levy ist mit an Bord. Aber für eine Komödie fehlt hier einfach das Tempo, das richtige Timing und vor allem der böse Humor. Stattdessen bleiben die
Protagonisten in der Wüste des Sinai stecken, sinnieren über das Leben, das wie ein Märchen ist. Dabei hat der Film immer wieder großartiges Potential, etwa während der Busfahrt und des wunderbar grotesk vorgeführten Antisemitismus der Passagiere. Für einen richtig guten Gefilten Fisch sei deshalb eher der Friseursalon Zohans statt das »No Name
Restaurant« dieses Films empfohlen! (Axel Timo Purr)
Pacifiction (Spanien 2022, R: Albert Serra) (Wettbewerb CineMasters)
Dass Albert Serra Erfahrungen als Videokünstler hat und auf der DOCUMENTA (13) eingeladen war, merkt man auch seinem neuesten Film an, der wohl auch auf der diesjährigen documenta fifteen seine Chancen gehabt hätte. Allerdings erzählt Serra in knapp drei Stunden nichts Neues über die Dekonstruktion des westlichen Blicks auf den globalen Süden, verschwurbelt Film Noir-Elemente mit Erinnerungen an einen anderen weißen Konsul, Albert Finney in John Hustons Unter dem Vulkan, liefert repetitive Worthülsen en masse, ein bisschen wokes Transmenschentum und traurige Tropen, was alles nicht so schlimm wäre, könnte man den Film wie jede ordentliche Videoinstallation nach drei Minuten auch wieder verlassen. (Axel Timo Purr)
Weiß ist der Anzug von De Roller, in der Seele des französischen Hochkommissars in Polynesien geht es eher düster zu. Ahnungen kommender Dinge plagen diesen genialen Dilettanten, bei dem Machtmechanik und Gefühl so wenig ein Widerspruch sind, wie Kolonialismus und Modernität. An Claire Denis' Wanderungen auf den Spuren von Conrad und Kipling wird man denken, vor allem aber an Lucrecia Martels Zama: Exotistische Phantasie und lüsterner Tagtraum mischen sich mit kühler Analyse in Pacifiction. Albert Serra gelingt ein Film, der aus der einzig möglichen, der europäischen Perspektive auf den globalen Süden blickt, und in sinnlicher Form klar macht, dass alle Vorstellungen von Unschuld und Paradies nur unsere Konstruktionen sind. Alles ist Ufer, ewig ruft das Meer... (Rüdiger Suchsland)
Tchaikovsky’s Wife (RUS 2022, R: Kirill Serebrennikov) (Spotlight)
Schwarz und dunkelbraun ist alles in diesem Film, Schmerz und Gefühlserstickung und die Kleidung sowieso, nur die Hautfarbe der Gesichter und sprechenden Hände ist leuchtend weiß. Wie nicht anders zu erwarten, nutzt Kirill Serebrennikov die Figuren Tschaikowskis und seiner Frau, um das
kollektive Gefühl nationalen Stolzes in das der Demütigung zu verwandeln, die sich in Situationen, Bildern und Klängen materialisiert, die schwer zu verdauen sind. Der Film ist reines Dynamit aus bilderstürmerischer Respektlosigkeit, ein Mittelfingergruß an den offiziellen Geschichtsdiskurs – aber ganz auf visueller Ebene, nicht im Dialog. Dabei verweigert der Autor auch sehr klug allem, was sich allzu glatt in die Narrative unseres offenen (auch kulturellen)
Krieges gegen das Putin-Regime einspeisen ließe. (Rüdiger Suchsland)
Ennio Morricone – Der Maestro (Belgien, Italien, Japan, Niederlande 2021, R: Giuseppe Tornatore) (Spotlight)
Er war unumstritten einer der größten Komponisten der Filmmusik. Es ist fast unmöglich, sich die Filmgeschichte ohne sie vorzustellen, ohne die Musik von Ennio Morricone. Der Dokumentarfilm von Giuseppe Tornatore ist eine große Hommage an
einen großen Künstler, der sein Leben lang komponierte, immer wieder neues ausprobierte und dabei nie an Unverkennbarkeit einbüßte. Begleitet von Filmausschnitten, kommen neben Morricone selbst auch viele Weggefährten und Kollegen zu Wort, die seinen Werdegang kommentieren. Manchmal wünscht man sich, sie würden weniger reden, damit die Musik voll wirken kann; doch es ist immer eine Freude, dem Komponisten selbst zuzuhören. Gezeigt wird die Vielfalt der Musik, die Filme begleitet und
ergänzt wie kaum eine andere, und gesagt wird eigentlich nur eines: Grazie, Maestro! (Paula Ruppert, LMU München)
Eine perfekte Würdigung dieses 2020 verstorbenen Giganten der Filmmusik. Natürlich sind die vielen Lobeshymnen der Kollegen, Regisseure und Schauspieler irgendwie austauschbar, aber der Film zeigt mit vielen Selbstaussagen Morricones sehr präzise seine musikalischen Wurzeln, die inneren Kämpfe, die ständige Weiterentwicklung, letztlich auch seinen Wunsch nach Anerkennung. Diese Offenheit vor der Kamera haben wir wohl seinem Freund Tornatore zu verdanken. In zahllosen Ausschnitten aus seinen Filmen und klugen exemplarischen Schwerpunktsetzungen (Es war einmal in Amerika, Mission u.a.) taucht man tief in sein Werk ein, das auch Teil der eigenen Geschichte ist. Morricone hasste es, sich zu wiederholen und versuchte, sich jeder Filmidee mit neuem, wachen Blick zu nähern. Faszinierend! (Christoph Becker)
Giulia (Italien 2021, R: Ciro de Caro) (Wettbewerb CineRebels)
Die herbschöne junge Frau mit den Sommersprossen (beeindruckend: Rosa Palasciano) ist eine Suchende, Irrlichternde, fast so radikal wie Sandrine Bonnaire in Agnès Vardas' Vogelfrei. Beim Bewerbungsgespräch hinterlässt Giulia Ratlosigkeit, ihr Freund zieht aus, weil er sie und ihre Sammlung gefundener Spielzeuge satt hat. Plötzlich ohne Wohnung, durchstreift Giulia ein hochsommerliches vermülltes Rom, in dem die Vertreter der »Generation 1000 Euro« pandemiebedingt zu einer »Generation 10 Euro« werden: Bei der Tombola im Altersheim machen sich Giulia und Sergio Konkurrenz, um Almosen zu erhaschen. Doch Larmoyanz liegt Ciro de Caros
eigenwilligem Low-Budget-Film fern. Er setzt auf Entgrenzung, wagt lange Einstellungen und stellt mehr Fragen, als er Antworten gibt. Und er feiert die Freiheit eines ungewöhnlichen weiblichen Individuums. (Katrin Hillgruber)
Burning Days (Türkei 2022, R: Emin Alper) (Wettbewerb Cinemasters)
In einer fiktiven anatolischen Kleinstadt versinken Häuser in riesigen Erdkratern, weil illegal Grundwasser abgepumpt wird. Als der junge, introvertierte Korruptionsermittler Emre (Selahattin Paşali) eintrifft, sieht er als erstes die Blutspur eines Wildschweins, das unter Salutschüssen zu
Tode geschleift wird. Aus Höflichkeit nimmt Emre eine Einladung des jagdbesessenen Bürgermeisters an – ein folgenschwerer Fehler. Minütlich steigert sich die Bedrohung in diesem politischen Film noir, dessen einsamer Protagonist sich in einem Treibnetz aus Erwartungen, Beeinflussungen, Gemeinheiten verfängt. Inspiriert von Henrik Ibsens Drama »Ein Volksfeind« zeichnet Emin Alper ein Sittenbild des autoritären Erdoğan-Populismus. Die überwältigende
Bildsprache in überhitzten Beige- und Gelbtönen kommentiert nebenbei die Klimakrise. (Katrin Hillgruber)
Ein düsterer Krimi und eine bitterböse Gesellschaftsskizze in einer fiktiven türkischen Kleinstadt. Wie Spencer Tracy in STADT IN ANGST steht der junge Staatsanwalt Emre bald allein gegen alle. Ein perfekt eingespieltes System aus Lokalpolitik, Korruption, Geschäft und Demagogie lassen dem unbedarften Fremden keine Chance. Die Männerwelt ist geprägt von Homophobie, Intrige, Gewalt. Filmästhetisch beeindruckend in Szene gesetzt, während das Drehbuch etwas redundant und vorhersehbar ist. Der Schwerpunkt auf die bruchstückhafte allmähliche Rekonstruktion einer Party-Nacht mit Filmriss geht auf Kosten einer glaubwürdigen Ermittlerarbeit und vernachlässigt die politische Seite. Die psychologische Figurenzeichnung des Protagonisten wirkt etwas eindimensional. (Christoph Becker)
Servus Papa, See You in Hell (Deutschland 2022, R: Christopher Roth) (Neues deutsches Kino)
Einer der stärksten Filme der deutschen Sektion. Denn zum einen wird hier schauspielerisch stark und souverän inszeniert die tragische Endphase der legendären Kommune des Aktions-Künstlers Otto Muehl erzählt und deutlich, dass selbst die besten 68er-Ideen – in diesem Fall »Sex ist erlaubt, aber Liebe verboten« und transparente Hierarchien – nicht davor schützen, dass Macht korrumpiert und Freiheit zu Gefangenschaft wird. Zum anderen zeigt diese Zeitreise in das Österreich der sich öffnenden Grenzen Ungarns, dass eine Kommune nicht anders funktioniert als heutige Querdenker-Blasen oder die im gegenwärtigen Nachrichtenfluss
regelmäßig aufpoppenden 12-Stämme-Abgründe und die Vergangenheit der vielleicht brutalste, aber auch lehrreichste Zerrspiegel unserer Gegenwart ist. (Axel Timo Purr)
Den realen Hintergrund für diesen intensiven Coming of Age-Film bilden die Erfahrungen von Jeanne Tremsal in der österreichischen Kommune von Otto Muehl. Eine schöne Idee von freier Liebe und Naturleben ist zu einem Überwachungsstaat mutiert, der die junge Jeanne zwingt, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Beängstigend gut ist Clemens Schick als charismatisch-dämonischer Sex-Guru, beeindruckend Jana McKinnon als eine moderne Jeanne d’Arc in einer Kinderschlacht gegen Missbrauch und Unterdrückung echter Gefühle. Filmisch vielfältig, die Qualität der Szenen schwankend, mal Doku, mal eher Kinderfilm, aufwühlende Gruppensitzungen, eher schwächere Kinderszenen. (Christoph Becker)
Wild Roots (Ungarn/SK 2021, R: Hajni Kis) (Kinderfilmfest)
Neben Comedy Queen der stärkste Film des Kinderfilmfests. Eine unter die Haut gehende Vater-Tochter-Geschichte in prekären ungarischen Plattenbau-Verhältnissen, die von Schuld und Sühne erzählt, ohne dabei die dysfunktionalen
Familien- und Gesellschaftsverhältnisse zu stark in den Vordergrund zu stellen. Kis bleibt immer bei seinen Protagonisten, ganz nah und fast schon dokumentarisch intensiv und schafft dabei, völlig glaubwürdig zu zeigen, wie sich Vater und Tochter gegenseitig helfen, sich von ihren eigenen Problemwelten zu emanzipieren und eine fragile, aber lebensnotwendige Beziehung miteinander aufzubauen. Dass die ebenso fragile ungarische Gesellschaft mit ihren schluchtenartigen
sozialen Gräben dabei dann doch eine wichtige Rolle mitspielt, zeigt Kis durch subtile Alltagsszenen aus dem Berufs- und Schulleben von Vater und Tochter, Tibor und Niki, schauspielerisch überragend in Szene gesetzt. (Axel Timo Purr)
Acht Berge (B/F/I 2022, R: Felix van Groeningen, Charlotte Vandermeersch) (Wettbewerb CineMasters)
Es ist schon ein wenig ernüchternd, dass der Gewinner des Preises der Jury von Cannes am Samstag Abend vor halb leerem Haus läuft. Dabei hätte die Literaturverfilmung allemale eine ausverkaufte Astor Film Lounge verdient gehabt.
Denn Groeningen ist hier mindestens so stark wie in seinen Vorgängerfilmen The Broken Circle Breakdown und Beautiful Boy, mehr noch gelingt es ihm hier mit seiner Regie-, Drehbuch- und Lebenspartnerin Charlotte Vandermeersch seinem Gespür für intensivste Lebens- und Beziehungsabgründe
eine philosophisch-spielerische Weite hinzufügen, die über das Kleine einer Freundschaft das Große einer ganzen Welt erzählt und aufregend und mutig dem ganzen Gedöns über das „richtige“ Leben und den „wahren“ Traum den guten alten Joseph Conrad entgegenhält: „Wir leben wie wir träumen – allein.“ Und am Ende geht die Sonne doch noch auf, egal wie oft sie auch untergegangen sein mag. (Axel Timo Purr)
Der rote Berg (Deutschland 2022, R: Timo Müller) (Neues deutsches Kino)
Einer der sperrigsten, fast jede Erwartungshaltung unterlaufenden Filme der diesjährigen deutschen Reihe, der sich fast jedes Genre einverleibt, um es seinem kontemplativen „slow cinema“-Rhythmus zu unterwerfen. Das gelingt
sogar mit den „Found-Footage-Horror“- Bezügen der auftauchenden Jugendlichen, die durch die alles zermahlende Stimme aus dem Off zu philosophischen Krückstöcken mutiert werden. Ein Lob an die Programmer, diesem Film eine Chance zu geben, denn auch das ist natürlich Kino. (Axel Timo Purr)
A new old play (Frankreich / Hongkong 2021, R: Jiongjiong Qiu) (Wettbewerb CineRebels)
Drei Stunden chinesische Geschichte von den 1920ern bis in die 1980er-Jahre im Schnelldurchlauf im Spiegel einer Schauspieltruppe, die ihre Inhalte und Spielweisen der jeweiligen Staatsdoktrin anpassen muss. Wer einen normalen Spielfilm erwartet, wird enttäuscht sein, denn hier ist alles Theater, Kulisse, Tableau. Und obwohl ein echtes Schicksal, das Leben des Großvaters des Regisseurs, für die Geschichte Pate steht, ist dieser außergewöhnliche Film eher Welttheater, mittelalterliches Mysterienspiel und Totentanz im Geiste des Bergman’schen Das siebente Siegel – nur heiterer – als ein individuelles Psychogramm eines chinesischen Staatsbürgers. Es gibt hier sehr viel zu entdecken und bei aller Gesellschaftskritik auch eine tröstliche Botschaft. (Christoph Becker)
The Ordinaries (Deutschland 2022, R: Sophie Linnenbaum) (Wettbewerb Neues Deutsches Kino)
Eine Liebeserklärung an das Kino! Ein in allen Belangen überzeugender, faszinierend unterhaltsamer Genre-Mix aus dystopischem Science-Fiction, Musical, Coming of Age etc. Paula (fantastisch: Fine Sendel) sucht nach einigen Irritationen ihre Bestimmung und ihren Platz in
dieser streng nach Haupt-, Nebenfiguren und Outtakes aufgeteilten Zukunftsgesellschaft à la Huxley und Orwell. Die Grundidee des Nebeneinanders der verschiedenen Filmfiguren wird farblich und filmisch perfekt umgesetzt. In knallbunter Musical-Welt tanzt und singt die Hauptcharaktere-Familie ihrer Freundin Hannah in der prachtvollen Villa, während Paula daheim mit ihrer Mutter in gelblichen Sepiatönen ärmlich eine Suppe löffelt. Witzig, berührend, ideenreich bis in das
kleinste Detail: Ein absoluter Filmfest-Höhepunkt! (Christoph Becker)
Eine Dystopie als poetisch-platonische Film-im-Film-Groteske, die so subtil aus der Filmgeschichte zitiert, dass sich Die fabelhafte Welt der Amélie, Nicolas Wackerbarths Casting und Die Truman Show genauso heimisch fühlen, wie der eigentliche Plot über die Tragik von Nebendarstellern, deren Rollen hier zu realen Lebensrollen, ja mehr noch zu einem realen Gesellschaftsentwurf werden. Mit einer umwerfenden Fine Sendel in der Hauptrolle schlägt Sophie Linnenbaum einen erzählerisch schwindelerregenden Parcours ein, der uns über die gnadenlosen Hierarchien in der Filmwelt die fadenscheinige Doppelmoral unseres Alltag vorführt. (Axel Timo Purr)
Sentinelle Sud (Frankreich 2022, R: Mathieu Gérault) (International Independents)
Ein spannendes und ungemein intensives Spielfilmdebüt über einen Kriegsheimkehrer aus Afghanistan. Weil er seine Armeeeinheit als Familie sieht und keinen Plan für ein ziviles Leben hat, will Christian Lafayette möglichst
schnell wieder zurück, auch wenn viele seiner Kameraden in einem Hinterhalt getötet wurden. Der packende und v. a. vom Hauptdarsteller Niels Schneider grandios gespielte Film reiht sich eindrucksvoll in dieses vor allem vom amerikanischen Kino geprägte desillusionierende Genre ein, wobei er auch noch eine Thrillerhandlung einbaut. Die große Stärke von Mathieu Gérault, der auch am Drehbuch mitgeschrieben hat, ist, dass er sich für so vieles interessiert: Er zeigt uns den
Menschen Christian mit seiner problematischen Herkunft, seinen Soldatenfreunden, seinem Kriegstrauma und seiner Suche nach einem Ersatzvater. (Christoph Becker)
Huda’s Salon (Ägypten, Katar, Niederlande, Palästinensische Gebiete 2021, R: Hany Abu-Assad) (International Independents)
Drei Räume prägen diesen niederschmetternden Verhör- und Spionagethriller, der im heutigen Bethlehem spielt: ein Friseursalon, ein Verhörkeller und eine
Familienwohnung. Zwei ganz normale Frauen geraten zwischen die Mühlsteine zweier Geheimdienste, die sich in ihren brutalen Mechanismen und Methoden gleichen und den Frauen, eine davon auch Täterin, keine Chance auf Entkommen lassen. Im klaustrophobisch sich zuziehenden Netz wägen sie in Sekunden ab, was noch zu retten wäre. Die Männer: Opfer oder Täter. Das Westjordanland: Ein tödliches Gebiet, in dem man sich nur falsch entscheiden kann, weil alles vermint ist. Das ist in der
Aussage radikal bitter und hoffnungslos. Hier steht keine Krippe mehr. (Christoph Becker)
Broker (Südkorea 2022, R: Hirukazu Kore-eda) (Wettbewerb Cinemasters)
Poetisch, utopisch, schicksalshaft. Der japanische Regisseur Hirukazu Kore-eda ist unangefochtener Meister utopischer Wahlverwandtschaft vor dem Hintergrund einer in der sozialen Schere zunehmend aufklaffenden Gesellschaft. Nach Shoplifters hat er nun zum ersten Mal in Südkorea gedreht, was ihm neue Freiheiten beschert. Signature-Cast in Broker ist der Star des neuen südkoreanischen Kinos Song Kang-ho (Parasite), der auch hier gewissenlose Miserabilität mit moralischer Humanität zu vereinen weiß. Er ist der Kopf einer karitativ-kriminellen Bande, die Babys aus der kirchlichen Findelbox an Paare mit Kinderwunsch verhökert, die durch die Adoptionsbestimmungen fallen. Beim Babyhandel, den wir nun im Film verfolgen dürfen, geht alles schief bzw. natürlich gut aus, wenn sich die gestrauchelten Protagonisten zur Familienbande vereinen. (Dunja Bialas)
Tchaikovsky’s Wife (F/RUS/CH 2021, R: Kirill Serebrennikov) (Spotlight)
Man könnte sehr viel aus der Geschichte der Ehefrau Peter Tschaikovskijs machen. Serebrennikovs Film nimmt diese Möglichkeit jedoch kaum wahr und erzählt stattdessen von einer liebeskranken Frau, die sich offenen Auges in ihr seelisches Verderben stürzt und nie wirklich versucht, aus diesem
wieder herauszukommen. Sie ist eine Figur mit Potenzial zur charakterlichen Tiefe, das jedoch kaum ausgeschöpft wird. Die Musik verwirrt, indem sie manchmal kurz wie Tschaikovskij anmutet, dann jedoch völlig andere Klangfarben verwendet. Ansonsten ist der Film äußerst, fast zu, russisch – lange Einstellungen, gedeckte Farben, trübe Stimmung, verschwimmende Grenzen zwischen Realität und Traum. Und doch hat man nicht den Eindruck, großen künstlerischen Mehrwert daraus zu
ziehen. Alles in allem enttäuschend. (Paula Ruppert, LMU München) -> Podcast mit Rüdiger Suchsland und Axel Timo Purr
The Penultimate (Tagantpoolt Teine) (Dänemark 2020, R: Jonas Kærup Hjort) (Wettbewerb CineRebels)
Ästhetisch beeindruckendes Schwarz-Weiß-Werk in einem dystopischen Riesenbunker, in dem eine eingeschlossene Gesellschaft seltsame Rituale begeht. Ein Mann will wieder raus, jedes Mittel ist ihm recht. Die
Frage nach zwei Stunden sehr zäher, gewalttätiger Handlung: Braucht es heute noch Parabeln auf die Absurdität und Gewalttätigkeit der Menschheit? Ein Blick in die Zeitung genügt doch als Beweis. Und: Das haben doch Beckett, Kafka, Sartre u. a. schon alles sehr gut erzählt. (Christoph Becker)
Liebe Angst (Deutschland 2022, R: Sandra Prechtel) (Neues deutsches Kino)
Wie transgenerationale Traumabewältigung in Therapeuten-Familien zwischen Mutter und Sohn funktioniert, hat vor zwei Jahren Daniel Howald in Who’s afraid of Alice Miller? so beeindruckend
wie berührend gezeigt. Dass es in »normalen« Familien nicht viel einfacher ist, die NS-Zeit auch hier Schatten des Schweigens wirft und Opfer fordert, macht Sandra Prechtel in ihrem Mutter-Tochter-Porträt mit assoziativ-dokumentarischer Klarheit deutlich. Der Film reagiert in seiner Ästhetik auf die Traumata seiner Opfer, ist wie ein Arno Schmidtscher Zettelkasten, aus dem eine Karteikarte nach der anderen gezogen wird. Das überrascht, überzeugt, irritiert dann und wann aber auch.
Doch mit dem Ende, einem völlig umwerfenden Vortrag von Schumanns »Dichterliebe«, dem atemberaubenden »Ich grolle nicht, und wenn das Herz auch bricht...« ist alles gesagt, was gesagt werden muss und die therapeutische Katharsis so vollkommen vollendet, dass man nur noch weinen möchte. (Axel Timo Purr)
Comedy Queen (SE 2022, R: Sanna Lenken) (Kinderfilmfesst)
Das muss man sich erst einmal trauen: Depression, Selbstmord und ein ungezügeltes Coming-of-Age in einen Film zu packen! Da wirken die Bemühungen des deutschen Kinderfilms fast schon bieder und hilflos, wenn wir der von der großartigen Sigrid
Johnson verkörperten 13-jährige Sascha beim konsequenten, fast schon brutalen Abhaken ihrer Überlebensliste zusehen. Sie ist eine fast schon übermächtige Wiedergängerin von Caroline Links Der Junge muss an die frische Luft, denn auch hier will das Kind eigentlich nur eins, ein trauerndes Elternteil wieder zum Lachen zu bringen, um dadurch den Weg zum Comedian zu finden. So beeindruckend
wie wichtig ist, dass Regisseurin Sanna Lenken sich nicht scheut, die böse Fratze der Depression mit all ihrer Gnadenlosigkeit in den Raum zu stellen. Dafür gab es auf der diesjährigen Berlinale den Preis der Kinderjury Generation Kplus. (Axel Timo Purr)
Der Räuber Hotzenplotz (Deutschland 2022, R: Michael Krummenacher) (Kinderfilmfest)
Otfried Preußlers anarchischer Schalk macht immer Spaß und auch diese dritte, liebvolle, märchenhafte und toll gespielte Inszenierung macht eigentlich nichts falsch. Sieht man allerdings Preußlers überbordende Fantasie in dieser ebenfalls sehr texttreuen Umsetzung und
sieht sich die frappierend ähnlichen Bilder aus den Verfilmungen von 1974, 2006 und 2022 an, wundert man sich, wie wenig Fantasie diese neue Produktion wagt, und man fragt sich: warum das Gleiche nochmal? Warum nicht Hotzenplotz einfach mal dem Jahr 1962 entreißen und die historische Kulisse durch die Gegenwart ersetzen? Also weg mit dem Hut und Hotzenplotz als anarchistischer, nein noch besser: Fridays-for-Future-Hacker-Aktivist, der Seppel und Kasperl mit ins Boot holt, um die Welt
zu ändern. Denn auch das war und ist Preußler. (Axel Timo Purr)
Corsage (Ö/D/L 2022, R: Marie Kreutzer) (Wettbewerb Cinemasters)
Souverän jongliert Marie Kreutzer mit den Ingredienzen des Period Pictures: Kostüm, Frisuren, Musik, nichts passt ganz, alles wird neu interpretiert. Unbekümmert lässt sie in ihrer freien Fantasie über Kaiserin Sissi im Szenenbild die Plastikputzeimer und Aluleitern stehen. In den Wohnräumen der Adligen schält sich die Farbe von den Wänden, als wären die Protagonisten gespenstergleich in das morbide Wien von heute zurückgekehrt. Stark ist auch ihre Vision über den von Königsmacht und gesellschaftlicher Repräsentation eingezwängten Körper und das finale Ende einer Gallionsfigur, die sehr modern von Vicky Krieps interpretiert wird. Der auf Kodak gedrehte Film beweist sich in jedem Moment als modernes Kino, das verführt, verfremdet, verstört und den Atem der Geschichte anzuhalten weiß. Kreutzer gehört damit unbedingt zur Regie-Avantgarde. (Dunja Bialas)
Tchaikovsky’s Wife (RUS 2022, R: Kirill Serebrennikov) (Spotlight)
Gleich doppelt klischeehaft ist TCHAIKOWSKY’S WIFE. Kirill Serebrennikov bedient schon fast vorbildlich das Vorurteil gegenüber dem russischen Film, mit allzu symbolhaften Bildern in große Schwülstigkeit abzurutschen, andererseits auch alle Vorstellungen darüber, wie ein Period Picture
zu sein habe, wenn es allein auf Kostüme, Frisuren und Musik setzt. Und obwohl im Vorspann des Films Realität versprochen wird, kann in der Fantasie über die Frau an der Seite des schwulen Tschaikowski kaum echte Historizität gefunden werden. Übrig bleibt das Abziehbild einer Liebeskranken. Ob sich Serebrennikov mit dem zweiten Film, den das Filmfest bereithält, Petrov’s Flu,
wie versprochen als »CineRebel« positionieren kann? Da müsste man sich nach diesem altbackenen Film dann allerdings die Augen reiben. (Dunja Bialas)
Freibad (The Pool) (Deutschland 2022, R: Doris Dörrie)
Passend zur Badesaison wird ein soziologisches Panoptikum unterschiedlicher Frauen präsentiert, die mit ihren Vorurteilen, Ängsten, kulturellen Badegewohnheiten und Haltungen in einem eigenen Frauenbad buchstäblich aufeinanderprallen. Vor allem, als drei Kleinbusse mit reichen, verschleierten Syrerinnen auftauchen. Die Fallhöhe zwischen Klamauk, Klischeetypen und berührenden Momenten ist vielleicht so gewollt, lässt den Film aber insgesamt so knallbunt und künstlich hell erscheinen wie die Kameraästhetik. Viele Themen sind super aktuell, werden aber zum Großteil eher flach abgehandelt. Das ist für das eigentlich sehr authentische und ernste Auf und Ab zweier alter Freundinnen (großartig: Andrea Sawatzki, Maria Happel) schade, denn die beiden hätten fast einen eigenen Film verdient. Am Ende bleibt der didaktische Lerneffekt: Vertragt euch! (Christoph Becker)
Speak no evil (Gæsterne) (Dänemark/Niederlande 2022, R: Christian Tafdrup) (Wettbewerb Cinevision)
Grandioser Family-Psychothriller, der mit einer harmlosen Urlaubsfreundschaft zweier Paare mit Kind beginnt und dann langsam die Daumenschrauben anzieht. Die Musik setzt von Anfang an irritierende Kontrapunkte gegen die
Handlung und so endet der größte Alptraum mit Renaisssancechören von Monteverdi. Unter Anspannung sucht man nach den ersten Anzeichen für das Kippen der netten Beziehung, aber es scheint lange alles so normal und nett. Toll und absolut authentisch gespielt! Zwei Männertypen prallen aufeinander, der eine woke und immer nett, der andere manipulativ und dominant. Verstörende Fragen wirken nach: Vertrauen wir noch unserer Intuition bezüglich Gefahr? Würden wir uns überhaupt verteidigen
können? (Christoph Becker)
Wann kommst du meine Wunden küssen? (Deutschland 2022, R: Hanna Doose) (Neues deutsches Kino)
Es ist fast so, als wären die jungen Helden aus Hanna Dooses großartigem Debüt Staub auf unseren Herzen in die Midlife Crisis gekommen. Berlin ist vorbei, die »andere« Freiheit in den Bergen ist
angesagt. Macht aber auch nicht glücklicher und dann sind da noch die Verwerfungen unaufgearbeiteter Vergangenheiten und am Ende drei Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Wie schon in ihrer dffb-Abschlussarbeit arbeitet Doose auch hier mit improvisierten Dialogen, dieses Mal allerdings mit einem Ensemble bestens bekannter Schauspieler. Das tut der Intensität zum Glück keinen Abbruch und erinnert durch das Berg-Setting, die »gruppentherapeutischen« Momente und die
grundsätzliche Hinterfragung alternativ-utopischer Gesellschaftsentwürfe an Stefan Krohmers großartigen Sie haben Knut, ist am Ende dann aber ganz Hanna Doose, denn hier wird nicht nur gestritten, geschrien und gesucht, sondern gibt es auch eine Kamera (Markus Zucker), die so zärtlich und schön wie ein Gedicht von Rilke ist. (Axel Timo Purr)