71. Festival de Cine de San Sebastián 2023
»Ihr werdet sein wie Gott...« |
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Raul Ruiz' Realismo Socialista: wertvolles Zeugnis des turbulenten politischen Klimas in Chile... | ||
(Foto: Filmfestival San Sebastian) |
»Aber die Schlange war listiger als alle Tiere auf dem Felde...«
– 1 Mose, 3
Es gibt nur einen Salat im Donostiarra, das nicht nur mein Lieblingslokal in San Sebastian ist: »Completa« oder eben »incompleta«. Inkomplett bedeutet ohne Thunfisch. Immer gibt es frische, hier wie nirgendwo sonst schmeckende Tomaten, Zwiebeln, saure kleine Pfefferschoten (die »Pimientos«) und dazu reichlich Olivenöl und grobes Meersalz.
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Gabe Klinger hatte ich schon am Eröffnungsabend getroffen. Der Filmkritiker aus Chicago, der inzwischen in Sao Paolo lebt und vor allem als Filmregisseur arbeitet, ist hier, weil er neue Filmprojekte bei den »Pitches« der Industrietage vorgestellt hat.
Bei der Eröffnung hatte ich mit ihm über die Stadt Marseille geredet, über Walter Benjamin und über Christian Petzolds Anna-Seghers-Verfilmung, und dann waren wir plötzlich bei Brasilien und der Frage, ob er schon einen
brasilianischen Pass hat. »I have a passport« antwortet er dann und lacht, weil unklar bleibt, ob es ein brasilianischer ist, und dann sagt er, »yes I become much more Brazilian these days, than American« und es geht weiter über die Architektur von Sao Paulo und Chicago und dass die von Sao Paulo schöner und interessanter ist, und dass da Dinge besser funktionieren.
Heute traf ich ihn dann wieder, als ich gerade zwischen Frühstück und Abendessen vor dem Kaffee einen Completa aß, und er vorbeikam. Er habe im Wettbewerb keinen guten Film gesehen, meinte er und brachte damit den Eindruck fast all jener auf den Punkt, mit denen ich gesprochen habe. Weil das zu befürchten war, hatte ich vieles im Wettbewerb links liegen gelassen, und mich lieber auf »Nuevos Directores« und »Horizontes Latinos« konzentriert.
Auch der Franzose Ariel Schweizer von den Cahiers findet den Wettbewerb in diesem Jahr »miserabel«. Normalerweise gebe es wenigstens zwei Filme oder drei, die irgendwie gut sein, aber in diesem Jahr noch nicht mal das.
Das finde ich jetzt sehr, sehr streng, und verweise auf den Rumänen, der mir ja gefiel, worauf Ariel nur den Kopf schüttelt: Das sei doch nur »ein typischer Festival-Film« und bringe die ganze »Krankheit« der Branche auf den Punkt.
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Kurz darauf kommen zwei Freunde von Gabe, und ich lerne Conrad und Masha Clark von der neugegründeten britischen Firma »almostbluefilms« kennen, Koproduzenten von Víctor Erices letztem Film.
Mashas erste Frage vor jedem Smalltalk ist gleich die unmögliche nach meinem Lieblingsfilm, und so landeten wir schnell bei der BFI-Umfrage und dem Vergnügen des Listen-Machens.
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Beim Essen mit Violeta – die übrigens eine argentinische Mutter hat – fragte ich sie vor zwei Tagen am gleichen Ort, was aus ihrer Sicht das Spezielle am argentinischen Kino sei, über das ich gestern geschrieben hatte. Sie meint: »Es ist der Umgang mit der Krise, man ist es dort gewohnt, mit der Krise umzugehen. Kein Land sei in dem Umgang mit Krisen derart flexibel. Das könnten wir wirklich von Argentinien lernen.«
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Bevor wir auf den ersten Film kommen, möchte ich noch mal an Ulrich Seidls Sparta vor einem Jahr erinnern. Die deutschen Medien, allen voran der Spiegel und Zeit online hatten den Amerikanern hinterher- und einen Skandal herbeigeschrieben. Ohne echte Belege, nur nach Hörensagen wurde an der Rufschädigung Seidls gestrickt, offenbar weil Ästhetik und Attitüde des Mannes den mittelalten Kulturkämpfern des woken Neu-Feuilletons nicht passen und Skandalisierung wie auch bei Rammstein immer Auflage macht.
Während Festivals und andere in Deutschland sich von Seidl eilig distanzierten, blieb nur das Filmfestival von San Sebastián standhaft.
Hier hat man Erfahrung mit Zensur, darum findet sie hier nicht statt. Ein Filmfestival ist dazu da, Filme zu zeigen, nicht sie und die Macher zu canceln, ist die unmissverständliche Position.
Warum ich das schreibe? Weil es in diesem Jahr mit No me llame Ternera (»Ich heiße nicht Ternera«) von dem in Spanien bekannten TV-Journalisten Jordi Évole einen neuen angeblichen »Skandalfilm« und das dazugehörige Verbotsgeschrei gibt. Auch das interessiert deutsche Medien nach meinem Eindruck mehr als die spanischen. Aber auch hier blieb das Festival standhaft gegen Zensurversuche.
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No me llame Ternera lief am Wochenende. Das fast 70-minütige Interview mit dem ETA-Kämpfer, dessen Tarnname Ternera lautet, ist hochspannend, auch wenn der Interviewer nicht gut nachfragt. Richtig gelungen ist der Film auch sonst nicht: Der Kontext der nur Spezialisten bekannten Ereignisse wird nur sehr willkürlich gegeben. Und der Film »framed« zu sehr.
Das Ergebnis zeigt, dass in der Frage »Terror« und »Baskenland« beide Seiten komplett aneinander vorbeireden: Hier die »Militantes« und »Soldaten«, dort die Mehrheitsgesellschaft, die sich nur für Emotionalisierung und Opfer, aber nicht für Begründungen interessiert.
Dabei wäre des erklärungsbedürftig, warum die ETA, die im Widerstand gegen Francos Diktatur begann, 90 Prozent der von ihr ermordeten 852 Menschen während der Demokratie getötet hat.
Man wüsste gern mehr über die im Film erwähnte Angst im Baskenland.
Der Filmemacher sagt zu Beginn zu »Ternera«: »I respect the language you use.« Dennoch geht es dann vor allem um »Grausamkeit« und »Brutalität«, nicht etwa um politische Ziele. Die werden niemals Thema, sie werden gar nicht wirklich ernst genommen.
Genau das müsste aber passieren. Wer nicht lernen und verstehen will, muss wiederholen.
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Im Bild des Opfers ist dies ein manipulativer Film, weil er nur aus der Opferperspektive erzählt. Damit sind die Sachen aber nicht zu Ende erzählt; das ist gar nicht mal ein Anfang. Sondern man muss sich schon auf die Perspektive der Leute einlassen, wenn man sie verstehen will. Man muss sie nicht verstehen. Aber wenn man das tun will, dann muss man anders agieren.
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Raul Ruiz' Realismo Socialista dreht sich um eine andere Art von politisch radikalem Aktivismus: Der Film wurde 1973 in Chile vor dem rechtsextremen Putsch gegen Salvador Allende gedreht und war seitdem verschollen. Jetzt wurde er restauriert und läuft auf diversen Filmfestivals.
Das Projekt wurde endgültig durch den Staatsstreich von Augusto Pinochet unterbrochen. Das Material dieses Phantomfilms, der mehr als drei Stunden lang sein sollte, konnte Chile über die westdeutsche Botschaft verlassen und gelangte nach Paris, wo es am Sitz einer Universität amerikanischer Herkunft landete.
Das Ergebnis ist ein Film im Ton einer Satire, irgendwo zwischen Dokumentarfilm und Komödie.
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Der Film wechselt zwischen Sequenzen der Arbeiter, die angesichts der Aufgabe der Fabrik durch den Chef ihr Recht auf deren Übernahme einfordern – während die Unfähigkeit der Partei und des Staates, auf ihre Forderungen und Bedürfnisse einzugehen, deutlich wird. Und solchen, die sich auf die komplexen (und manchmal widersprüchlichen) Prozesse der Verwaltung des Gemeinschaftslebens in der Colonia Elmo Catalán konzentrieren (die Ruiz in Zusammenarbeit mit den Bewohnern
selbst filmte, denen er einfach Situationen vorschlug, die sie konstruierten).
Ein dritter Erzählstrang zeigt eine Gruppe linksgerichteter bürgerlicher Intellektueller, die von den eigenen Freunden des Filmemachers gespielt werden, in ihrer tiefen Klassenkrise. Und was sich als eine Art Porträt einer chilenischen Gesellschaft in einer spannenden und anspruchsvollen Transformationsphase entpuppt, enthält nicht nur erschreckend ahnungsvolle Elemente, sondern entpuppt
sich auch als ein vernichtend kritischer und keineswegs selbstgefälliger Blick auf den Prozess der »Unidad Popular« selbst. Eine Ironie, die sich bereits im Titel widerspiegelt, und die, in einer weiteren metasprachlichen Reflexion, sogar das künstlerische Schaffen selbst in einem Scheitern betrifft.
Ruiz arbeitete mit Laien und Improvisation. Vor allem in Diskussionen, in der Unzufriedenheit der Arbeiter, im flüchtigen Bild einer reichen Frau auf einer Demonstration, liegt das facettenreiche und bissige Porträt einer Aufbruchszeit, die auf brutalste Weise beendet werden sollte.
Der Film ist heute ein wertvolles Zeugnis des turbulenten politischen Klimas in Chile während der Unidad Popular, der Regierung von Salvador Allende, dem ersten sozialistischen Präsidenten, der 1970 in einer demokratischen Wahl sein Amt antrat. Sie wurde unabhängig finanziert, mit Hilfe von Freunden und engen Vertrauten.
Chile war das einzige Land vor Frankreich und Mitterand 1981, wo eine echte Linke an die Macht kam. Man sieht hier, was der Welt seitdem verloren ging. Wie
sich Ruiz selbst erinnerte, wurde gedreht, »um zur internen Debatte der Sozialistischen Partei beizutragen«. Der Film erzählt in vielen Stimmen, wie kompliziert Veränderung ist.
Man sieht auch, wie eine Linke schon damals eine Art militärisches Regime über das persönliche Leben verhängt. Wir sehen das Fehlen der persönlichen Freiheit.
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»Sozialistischer Realismus« weiß etwas, was die Menschen damals noch nicht wussten: Es spürt den gefährlichen Aufstieg der extremen Rechten und projizierte in die unmittelbare Zukunft.
Der Film zeigt die Selbstzerstörung, ja: den Selbstmord der Arbeiterklasse in Chile und das alles im Angesicht des noch regierenden Salvador Allende. Man hört im Off die Hubschrauber... Sie fliegen zum Moneda-Palast...
(to be continued)