05.10.2023

WO POMMES ???

Man in Black
Wang Bings Man in Black
(Foto: 18. Underdox 2023)

Das Dokumentarische als vielschichtige Möglichkeit zeigen diese Woche das 18. Underdox Filmfestival für Dokument und Experiment, und kommende Woche die 5. Videodox-Biennale für Videokunst aus Bayern

Von Nora Moschuering

»Wo Pommes???« hatte sich heimlich in die Sommer­fe­rien verab­schiedet und sich dem Radfahren gewidmet, worauf man übrigens sehr viel Pommes-Hunger bekommt, was kein Problem ist, denn Pommes bekommt man überall. Auf einer dänischen Insel lernte ich ganz zufällig die beiden Filme­ma­cher Ann Carolin Renninger und René Frölke kennen, die u.a. den Film Aus einem Jahr der Nicht­ereig­nisse (2017) gemacht haben, in dem sie Willi, einen fast 90-jährigen Bauern über ein Jahr auf seinem Hof begleitet haben. Sie haben in wunder­schönen Super8- und 16mm-Aufnahmen über Willis Alltag erzählt, von seinen Routinen, dem Wechsel der Jahres­zeiten, seinem Leben mit den Tieren und seinen Erin­ne­rungen. Den Film habe ich vor sechs Jahren gesehen und er ist mir seither geblieben, besonders mit diesem Zusam­men­spiel des hapti­schen, begrenzten Film­ma­te­rials und des alten Mannes. Beides ähnelt sich in seiner klaren Sprö­dig­keit und seiner Vergäng­lich­keit. Da liegt auf eine Weise viel Dramatik drin, die sich aber nicht so sehr in Aktionen zeigt, sondern in Beob­ach­tungen von leichten Verän­de­rungen.

Von diesem Reise­zu­fall, einem wunder­baren, doku­men­ta­ri­schen Moment, zum Münchner Underdox Festival, das sich solchen Arbeiten widmet und auf dem der Film 2017 lief. Was heißt solchen Arbeiten? Konzen­trierte Arbeiten, die sich oft, wie bei Renninger und Frölke, mindes­tens genauso viele Gedanken um die Form machen, wie um den Inhalt. Oft wird mit dem Doku­men­ta­ri­schen expe­ri­men­tiert und was bei Renninger und Frölke sehr klar doku­men­ta­risch ist, ist in anderen Filmen weniger eindeutig. Immer schwingt also die Frage mit: Was heißt das denn eigent­lich, das Doku­men­ta­ri­sche? Underdox zeigt Filme, die sich mit dem Film als Medium beschäf­tigen, und das nicht als prak­ti­sches Werkzeug, sondern als viel­schich­tige Möglich­keit. Das kann auch mal heraus­for­dernd sein und deshalb ist es für mich eines der Festivals, das gar nicht anders kann, als im Kino statt­zu­finden, denn hier konzen­triert man sich, harrt aus, lässt sich von anderen Sitzenden moti­vieren und ist hoffent­lich nicht zu schnell im Fällen eines Urteils (man kann aber auch gehen, das ist dann auch eine durch­dachte Entschei­dung, weil sie Über­win­dung kostet).
Underdox findet im Film­mu­seum, der Theatiner Filmkunst und im Werk­statt­kino statt, die damit auch zu Film­kunst­ga­le­rien werden, obwohl beispiels­weise das Werk­statt­kino, dank nicht erhal­tenem Kino­pro­gramm­preis der BKM dieses Jahr auf sich aufmerksam machte, weil es eben keine Kultur­för­de­rung für Kinos gibt.
Aber das ist ein anderes Thema.

Eröffnet wird das Festival an diesem Donnerstag, 05.10. um 19:00 im Film­mu­seum mit Landshaft von Daniel Kötter, den er vor drei Jahren in Berg­ka­ra­bach gedreht hat, einer Region, über die man in den letzten Tagen und Wochen viel lesen konnte, da gerade die meisten Armenier*innen auf der Flucht vor den aser­bai­dscha­ni­schen Soldaten sind, die Berg­ka­ra­bach einge­nommen haben. Berg­ka­ra­bach ist seit über 30 Jahren von Armenien und Aser­bai­dschan umkämpft. Als Kötter 2020 dort war, ist der Krieg gerade zu Ende und die Region wurde von den Armeniern als unab­hängig erklärt. Kötter führt Inter­views mit den Menschen über die oft kargen Land­schaften: »Landshaft sketches the psycho­geo­graphy of a geopo­li­ti­cally charged landscape and its inha­bi­tants between extra­c­ti­vism, war and displa­ce­ment.« Neben Landshaft ist von Kötter bei Underdox auch Water & Coltan [360°] zu sehen, ein 360° Film, den er gemeinsam mit Olande Byamungu, Yasmine Bisimwa und Christian Muhigwa gemacht hat. Für 50 Minuten ist man in einer Coltan­mine in Süd-Kivu im Kongo und sieht, welche Auswir­kungen dieser Abbau auf die Natur und die Arbei­te­rinnen hat. Zu sehen ist die Instal­la­tion im Stadt­mu­se­ums­saal im 1. OG des Film­mu­seums am Fr. 06.10. 17:00 und 19:00 Uhr und Sa. 07.10 & So. 08.10., jeweils um 15:00, 17:00 und 19:00 Uhr.

Übergang zu Wang Bing, einem der dies­jäh­rigen Artists in Focus, der sich auch oft über die Land­schaft, und wie diese vom Kapi­ta­lismus geprägt wird, dem Menschen nähert, der mit ihr und darin leben und vor allem arbeiten muss. Underdox zeigt zwei Arbeiten aus diesem Jahr, die beide in Cannes liefen. Wang Bing ist bekannt für seine aus der Hand gedrehten Einstel­lungen, ohne Musik und Inter­views, die auch sehr lange dauern können. So dauert West of the Tracks 9 Stunden und ist damit eine Erfahrung für sich, der versucht uns aus der bequemen, distan­zierten und passiven Erfahrung zu bringen und auch den Faktor Zeit einzu­ar­beiten. Obwohl ich nicht die Arbeits­be­din­gungen in der chine­si­schen Industrie mit einem schmer­zenden Hintern auf Kino­ses­seln verglei­chen möchte. Über »Länge« sollte es aber definitiv mal eine »Pommes« geben. Underdox zeigt Youth (Spring) (08.10., 20:00 Uhr, Film­mu­seum), der mit 212 Min ohnehin moderat ist. Darin folgt man einer Gruppe von jungen Textil­ar­beiter*innen in Zhili, 150 km von Shanghai. Oft kommen sie von weit entfernt, aus länd­li­chen Regionen, um dort zu arbeiten, bzw. ihre Jugend zu leben. Sie arbeiten, schlafen, imagi­nieren ihre Zukunft, sprechen über ihre Wünsche, finden Freund*innen, Liebes­be­zie­hungen entstehen ... und so ist es viel­leicht einer der opti­mis­tischsten Wang Bing-Filme, denn obwohl die Arbeit hart ist, die Jugend ist leben­diger.
Der zweite Film ist Man in Black (11.10., 21:00 Uhr, Film­mu­seum) und ist mit seinen 60 Min eine Miniatur und auch sonst nicht wie andere Wang Bing-Filme, nicht doku­men­ta­risch, d.h. beob­ach­tend, sondern eine Perfor­mance. Man sieht Wang Xilin, 86 Jahre alt, einen der bedeu­tendsten modernen klas­si­schen Kompo­nisten Chinas, nackt auf einer dunklen Bühne. Seine eigene Musik begleitet ihn, erst während er stumm dasteht und schließ­lich, wenn er von seinem Leben und dem vieler chine­si­scher Intel­lek­tu­eller und den Repres­sionen, die sie in China erleben, erzählt. Über »Perfor­mances« sollte es definitiv auch mal eine »Pommes« geben.

Der zweite Artist in Focus ist der Ire Declan Clarke, der, anders als Bing, oft extrem klare Narrative als ein Gerüst für seine Recherche baut oder in Essay­filmen größere Kontexte mit seiner persön­li­chen Geschichte scheinbar kausal verbindet. Bei Underdox kann man für beide Arbeits­weisen jeweils einen Filmblock sehen.
Am 07.10. um 19:30 Uhr läuft im Werk­statt­kino, die Geist Trilogy (part1&2) mit den Filmen We Are Not Like Them (2013) und The Most Cruel of All Goddesses (2015). Zwei »Spionage-Filme« über die Geschichte der europäi­schen Linken.
Im ersten Film besucht der Spion/Agent (Clarke) verschie­dene Arbeiter-Plan­s­tädte und wartet dort auf neue Anwei­sungen: Die ehemalige Wallsend&Walker Werft in Newcastle Upon Tyne, Eisen­hüt­ten­stadt, Nowa Huta in Krakau und die Groupe Scolaire L’Octobre in Paris. Dazwi­schen – und das sind wohl doku­men­ta­ri­sche Tropen, auch darüber definitiv mal eine »Pommes« – werden in langen, stati­schen Einstel­lungen eben jene Orte in Schwarz-Weiß und ohne Ton gezeigt. Wie ist denn das mit den vergan­genen Revo­lu­tionen? Wo mani­fes­tieren sie sich in Bauten, die schließ­lich zu Museen werden? Wie eben auch Filme zu Typen und Klischees? Im zweiten Film begibt sich der Spion/Agent auf den Spuren von Engels an die Orte, an denen dieser gewirkt hat: Manchester, Salford, London und Barmen/Wuppertal. Selbst auf dem Oktober­fest landet er, weil irgendwie Horváths »Kasimir und Karoline« als Allegorie dafür stehen soll, dass die Verspre­chen vorhe­riger Zeiten nicht einge­halten werden. Das ist dann schon ein bisschen zu viel des Guten, aber wahr­schein­lich ist das so, wenn man auf der Jagd nach dem großen Narrativ ist und man sehen will, was davon übrig geblieben ist, eben welche »Geister« sich weiter­ziehen.
Der zweite Block, der am 08.10., 19:30 Uhr im Werk­statt­kino zu sehen ist, ist mit His Story betitelt. Hier verbindet er zwei Mal seine eigene irische Fami­li­en­ge­schichte, mit Wissen­schaft, Wirt­schaft und Politik.
In Group Portrait with Explo­sives (2014) die ehemalige Tsche­cho­slo­wakei mit South Armagh in Nord-Irland, die durch Industrie und Handel und poli­ti­sche Inter­essen verknüpft sind: Von einer Traktor-Fabrik zur Waffen-Fabrik, zum Irland-Konflikt und seinem Vater, der ihm sehr wirk­lich­keits­ge­treue Spiel­zeug­waffen baut. Saturn and beyond (2021) beginnt dagegen wie ein Lehrfilm, mit einer didak­ti­schen Spre­cher­stimme, die über die Erfindung der Elek­tri­zität erzählt und dann zur Kommu­ni­ka­tion übergeht. Er ist viel spie­le­ri­scher, obgleich nicht weniger ernst. Auch hier wird Persön­li­ches, wie die Leiden­schaft des Vaters für Broad­cas­ting/Rundfunk und dessen Zusam­men­bruch, sehr asso­ziativ mit Alzheimer zusam­men­ge­bracht.

So viel oder so wenig zum Programm von Underdox, weitere Infor­ma­tionen zu allen Filmen, den Gästen, zum Ukraine-Schwer­punkt, zum Projekt »Connec­ting futures«, zum Besuch von Werner Herzog zu seinem Film Auch Zwerge haben klein ange­fangen (1970), den Specials »Seventies Film­ma­king« und »Labor of Love«, findet ihr auf der neuen Homepage von Underdox.

Zu Underdox gehört seit 2014 auch Videodox, die Biennale für Video­kunst aus Bayern. Das ist folge­richtig, denn viele der filmi­schen Arbeiten befinden sich im Grenzraum zur Kunst (siehe oben: Film­kunst­ga­le­rien), viel­leicht ist die Galerie der Künstler*innen also einfach nur ein weiterer »Präsen­ta­ti­onsort« mit anderen räum­li­chen und tech­ni­schen Möglich­keiten und anderen Rezep­ti­ons­po­si­tionen. Aus gut 80 Einrei­chungen von in Bayern arbei­tenden Künstler*innen wurden 13 Arbeiten ausge­wählt.

Es fällt auf, dass sich nicht wenige der Arbeiten mit künstlich geschaf­fenen Bildern beschäf­tigen. Und das nicht, indem sie Bilder aus dem Netz nehmen, sondern indem sie neue schaffen. In Maxi­mi­liane Leni Armanns Binary Tree : profiles _ missing node, betrachtet man eine ganz neue Art von Porträt, nicht gesetzt, unver­än­derbar und statisch, wie in Gemälden, sondern inein­ander morphend. Es sind acht Porträts, die sich immer wieder konkre­ti­sieren, sich vorstellen und Bezie­hungen zuein­ander angeben, bevor sie wieder verschwinden. Was definiert Persön­lich­keit? Was ist künstlich, was nicht? Es sind Low-Poly-3D-Charak­tere, deren Gesichter mit dem Headshot einer realen Person verschmelzen.
In The New Flesh von Rupert Jörg sind Chatbots der Ansicht, dass es sinnvoll und nötig für die Menschen ist, volls­tändig mit einer virtu­ellen Welt zu verschmelzen. Aber selbst ihnen kommen Zweifel, sie fangen an zu hallu­zi­nieren und landen schließ­lich bei der Frage, inwiefern die Mensch­heit eigent­lich überhaupt ein Exis­tenz­recht hat. Auch hier fließen Bilder inein­ander, Körper verschmelzen, aber die Bilder, die eine KI erschaffen hat, sind grotesk verzerrt, das »Inein­ander-Aufgehen« wirkt vers­tö­rend.
Paul Valentins A piano plays in another room and it’s raining zeigt keine Körper, sondern hyper­rea­lis­ti­sche, compu­ter­ge­nerierte Räume, mit einer Fülle von Refe­renzen an Filme, Malerei und Compu­ter­spielen. Das Gefühl in ihnen ist unheim­lich, irgendwie beklem­mend und nost­al­gisch. Valentin war schon 2020 mit »Sleeping Ride to the Airport« vertreten. Ein bisschen erinnert seine Arbeit mit den Film­re­fe­renzen und den Kame­ra­be­we­gungen ohne Kame­ra­person, also das »Wie wir Film sehen«, an Clarke, obwohl der Ansatz ein ganz anderer ist.

Auch Leila Fatima Keitas Arbeit Wenn du wir sagst – meinst du nicht mich betrachtet, wie Filme aussehen, also was uns gezeigt wird, hinter­fragt aber dabei besonders, wer diese Bilder macht, also wer die Macht des Erzählens hat und welche Narrative wir von ihnen vorge­setzt bekommen. Ausgang­punkt ist für sie ihr Gefühl von Trauer und Isolation bei dem Konsum vermeint­lich progres­siver Stoffe.
Ayala Shoshana Guy sucht in ihrem eigenen Erleben, ihrer eigenen Biografie. In I will take your shadow folgt sie den Brüdern Jancsi und Bandi, die 1939-40 auf der Flucht vor den Nazis Wien verlassen. Die Regis­seurin, die Enkelin von Jancsi, macht sich auf die Suche nach dem Uner­zählten, das aber immer präsent ist.

An einen großen Doku­men­ta­risten, der zum Schluss auch eher seine Heimstatt in Gale­rieräumen als im Kino gefunden hat, knüpft die Arbeit von Johanna Seggelke und Carlotta Wachotsch Der Geschmack des Lebens an. Sie stellen Harun Farockis Der Geschmack des Lebens von 1979 ihre eigene Reise an Orte im heutigen West-Berlin gegenüber, die schon Farocki gefilmt hat. Auch hier, ähnlich wie bei Clarke, der die wichtigen Orte der europäi­schen Linken etwa 100 Jahre später sucht, schauen die beiden, wie sich die Menschen fast 40 Jahre später dort bewegen.

Das ausführ­liche Programm mit allen Künstler*innen gibt es hier. Die Ausstel­lung ist geöffnet: Mi., Fr. – So. 11:00-18:00 Uhr / Do. 13:00-20:00 Uhr / Eröffnung: 10.10., 18:00-22:00 Uhr / Preis­ver­lei­hung: 15.10., 16:00 Uhr.

Der VIDEODOX-Förder­preis ist mit 1.000 Euro dotiert. Preis­stifter ist Medi­en­künstler und Filme­ma­cher Peider Defilla von B.O.A. Video­film­kunst.