16.11.2023

Im Geradeaus verlaufen

Emre und Nemo
So jung wie weise: Emre Und Nemo
(Foto: 22. doxs! Duisburg)

Die 22. doxs! für Kinder und Jugendliche in Duisburg vom 6.-12. November 2023 bot ein themenreiches und formal beachtliches, auch mit politischen Inhalten flankiertes Programm

Von Christel Strobel

IM GERADEAUS VERLAUFEN – das gemein­same Motto der 47. Duis­burger Filmwoche und doxs! Doku­men­tar­filme für Kinder und Jugend­liche, zum 22. Mal im Rahmen der Duis­burger Filmwoche – »versteht sich als Einladung, dort abzu­biegen, wo andere weiter­laufen. Seiner eigenen Intuition zu folgen, statt den Algo­rithmen des Navi­ga­ti­ons­sys­tems. Manchmal braucht es Schlaufen und Umwege, um sich und die Welt neu zu entdecken. Unsere Doku­men­tar­filme proji­zieren genau das. Sie sind Routen­planer gegen die Routine. … Die dies­jäh­rigen Filme stellen junge Prot­ago­nist*innen in den Mittel­punkt, die den Mut haben, ihre Stimme zu erheben und mit beein­dru­ckender Krea­ti­vität um ihre Freiheit und Selbst­be­stim­mung zu kämpfen. Die Themen sind ein Spiegel unserer Zeit. Es geht um Macht­denken, Identität und Zugehö­rig­keit. … Wem gehört der öffent­liche Raum und wer entscheidet über Zugänge?«
IM GERADEAUS VERLAUFEN – das gemein­same Motto macht auf den ersten Blick stutzig, erweist sich aber nach Betrach­tung der ausge­wählten Filme als origi­nelle wie sinnvolle Metapher.

Ein erstes Beispiel ist bereits im Programm »Ab 10 J.« zu sehen:
Skate The City (Regie: Lies van der Auwera, Belgien 2023, 15 Min)
Pippa, ein leiden­schaft­li­ches Skate-Girl, zieht mit Freund und Freundin durch ihre Stadt Antwerpen, immer auf der Suche nach spek­ta­kulären Plätzen, das sind Treppen und Geländer für ihre »Kickflips«. Ihr Spielraum wird aber zunehmend eingeengt durch immer neue Verbots­schilder, die vor allem ihre besten Spots unzu­gäng­lich machen. Pippa kann das nicht verstehen, denn für sie ist »Skaten eine Form von Kunst«. Schließ­lich gehen die drei Skater zum Rathaus, um sich an Ort und Stelle für ihre Rechte im öffent­li­chen Raum Gehör zu verschaffen. Hier beweist Pippa ihren Mut und spricht sehr deutliche Worte. Doch beim verbalen Protest bleibt es nicht – um ihr Anliegen in der Öffent­lich­keit bekannt zu machen, orga­ni­sieren sie einen Skate-Wett­be­werb. Diese drei enga­gierten Skater haben sich nicht »im Geradeaus verlaufen«, sondern verfolgen ihr Ziel mit klarem Blick geradeaus. Mit seinem univer­sellen Thema spricht »Skate the City« nicht nur Skater an und ist schließ­lich auch ein visuelles Erlebnis.

Nicht verlaufen hat sich die grie­chi­sche Land­schild­kröte Testudo Hermanni (Regie: Anthony Svatek, Öster­reich 2023, 7 Min.), sondern über­win­tert im Kühl­schrank bei beständig 5 Grad, und zwar bei der Familie des Regis­seurs, die in der Nähe von Salzburg lebt – die winter­liche Burg gibt gleich ein stim­mungs­volles Entree ab. Die träge, fast starr erschei­nende Schild­kröte wird behutsam aus dem Gemü­se­fach gehoben, dieses frisch versorgt, danach ebenso bedächtig wieder in sein »Winter­quar­tier« gesetzt und geradezu zärtlich mit Salat­blätt­chen bestreut. Das ist ein Vorgang, dem man mit Staunen sieben Minuten folgt – und zum weiteren Studium über dieses Wesen, das bis zu 100 Jahre alt werden kann, angeregt wird…
Nikita Diakur, der 3D-Künstler und Regisseur des Kurzfilms Backflip (12 Min,), hat seinen Traum, einen Rück­wärts­salto, nicht selbst reali­sieren können und dafür einen Avatar entwi­ckelt. Der hüpft, springt und stürzt nun durch den mit Matratzen ausge­legten virtu­ellen Raum. Das ist nur möglich durch die Program­mie­rung von Para­me­tern und den Computer mit genügend Infor­ma­tionen zu versorgen, und mittels künst­li­cher Intel­li­genz, die aus jedem Versuch neue Daten für weitere Erfah­rungen generiert – und schließ­lich unzählige Versuche rund um die Uhr, die den Avatar einem perfekten Rück­wärts­salto näher bringen sollen. Auch wenn es sich um ein künst­li­ches Wesen handelt, das ungelenk wie stürmisch loslegt, aber auch immer wieder mit miss­glückten Sprüngen hart am Boden landet, reagiert das Publikum (ab 12 J.) sehr mensch­lich. Der in Leipzig lebende Regisseur erhielt bereits den Deutschen Kurz­film­preis 2023 für seinen außer­ge­wöhn­li­chen Anima­ti­ons­film.
Linda Und Irina (Frank­reich 2023, Regie: Guillaume Brac, 38 Min.) Eigent­lich ist es eine unbe­schwerte Zeit, so kurz vor den Sommer­fe­rien, die Linda und Irina in dem fran­zö­si­schen Film (Origi­nal­titel: Un Pincement au Coeur) zusammen verbringen. Aber Lindas Familie scheint unstet zu sein, denn sie ziehen schon bald wieder woanders hin. Das ist keine gute Grundlage für den Beginn einer Freund­schaft, noch dazu guckt Linda eher pessi­mis­tisch in die Welt, redet sehr viel darüber und findet, dass sie »einen Fehler gemacht« hat, als sie sich mit Irina anfreun­dete. Das wiederum fordert die dritte Freundin im Bunde zu sehr deut­li­chen Worten an Linda heraus: »Du hast kein Vertrauen und denkst immer, die Leute wollen dir nichts Gutes!« Dies ist nun wieder ein wunder­bares Film­bei­spiel zum inter­pre­tier­baren Thema »Im Geradeaus verlaufen«…

EMRE und NEMO (Schweden 2022, Regie: Andja Arnebäck & Annika Ivarsson, 16 Min.), auch ein Film zum Thema Freund­schaft, wirkt wieder so ganz anders. Hier geht es um zwei junge Musiker, die im Jugend­club beste Freunde geworden sind und die sich schon in ihrem Outfit unter­scheiden: Der »g'standne« Emre sorgt als Rapper auf der Bühne für Stimmung, während Nemo den opulen­teren Bühnen-Auftritt mit Glamrock und Kajal im feinen Gesicht pflegt. Während der Pandemie haben sie ein gemein­sames Konzert orga­ni­siert: »Wenn Dinge schief gehen, brauchst du Menschen, mit denen du darüber lachen kannst.« So jung und so weise, aber keines­wegs abgehoben oder belehrend.
Beide Filme waren für 13-Jährige empfohlen,

Junge Aus Holz (Nieder­lande 2022, Regie: Eva Oester­vald, 25 Min.) thema­ti­siert eine schwie­rige Vater-Sohn-Beziehung. Der 14-jährige Stijn ist das, was man einen »Schwer­erzieh­baren« nennt. Nach einem tätlichen Angriff auf einen Mitschüler ist er von der Schule verwiesen worden und lebt seit der Trennung der Eltern beim Vater. Sie bemühen sich um ein sach­li­ches Verhältnis, das fällt Stijn sichtlich schwer und er rastet schnell wieder aus, aber es ist ihm auch bewusst, dass er sein Verhalten ändern muss. Jetzt steht ein Neustart an einer anderen Schule bevor. Noch wichtiger ist ihm aber, mit seiner Mutter wieder in Kontakt zu kommen. Hand­werk­lich geschickt fertigt Stijn in der Tisch­lerei ein Geschenk für sie an – ein aussichts­rei­cher Versuch. Man wünscht ihm, dass sein Weg geradeaus weiter führt.

Vaterland (Deutsch­land 2023, Regie: Antje Schneider und Carsten Waldbauer, 45 Min.,
ab 16 J.), ebenfalls eine Vater-Sohn-Geschichte, hier eine sehr dyna­mi­sche. Beide sitzen am liebsten im Sattel ihrer Pferde auf ihrer Ranch in Thüringen, trai­nieren das Roping, schwingen die Lassos, und träumen von einer Teilnahme beim Turnier in Las Vegas…
»Vaterland« entstand in der doku.klasse,, einem Projekt von doxs!, das seit fast zehn Jahren in Koope­ra­tion mit ZDF/3sat, Deutsch­land­funk Kultur, der Grimme-Akademie und der FSF Berlin konzi­piert und durch­ge­führt wird. In jeweils eintä­gigen Workshops vor dem doxs!- Festival disku­tieren junge Film­in­ter­es­sierte ab 16 J. mit den Filme­ma­chern und Filme­ma­che­rinnen die einge­reichten Stoffe, was ein Gewinn für beide sein kann – die einen lernen Sehge­wohn­heiten u.a. kennen, die anderen erfahren aus erster Hand, wie filmi­sches Arbeiten funk­tio­niert. Die in der doku­klasse entstan­denen Filme sowie die Erfah­rungen aus den Workshops werden während des doxs!-Festivals präsen­tiert.

Hervor­zu­heben ist nicht zuletzt die gemein­same Eröffnung der Filmwoche Duisburg und doxs! doku­men­tar­filme für kinder und jugend­liche, ein sicht­bares Zeichen des »Film­fes­ti­vals unter einem Dach« mit einem anspruchs­vollen Werk:
Achshav At Ahat Mishelanu von Maya Steinberg (Israel/Deutsch­land 2022
die sehr persön­liche Reise der Filme­ma­cherin zur Grab­stätte von Rabbi Schimon ben Joachai in Galiläa, dem Ort, der ihren Vater so tief beein­druckt hat, dass er sein bishe­riges Leben aufgab und ganz der jüdischen Tradition widmete. Die Tochter, die in Berlin ein ganz anderes Leben führt, versucht, diese Entschei­dung zu – ein Film, der nach­denk­lich macht.)

Tradition bei doxs! hat der Preis der Jugend­jury »Große Klappe«, der zum 13. Mal verliehen wurde, gestiftet von der Bundes­zen­trale für poli­ti­sche Bildung.und dotiert mit 5.000 Euro. 2023 verlieh die Jugndjury ihren Preis an
A History Of The World According To Getty Images
(Richard Misek, Groß­bri­tan­nien / Norwegen 2022, 15 Min.)

Begrün­dung der Jury (Auszug):
»Wir möchten mit ›A History Of The World According To Getty Images‹ einen Film auszeichnen, der in seiner grafisch redu­zierten Ästhetik einen Akt der Rebellion darstellt. (...) Diese Simpli­zität wird unserer Meinung nach dem Ziel des Filmes, verschlos­sene Aufnahmen ans Tages­licht zu bringen, gerecht. Der Film plädiert dafür, Doku­men­ta­tionen wichtiger histo­ri­scher Ereig­nisse nicht zu kapi­ta­li­sieren. (...)
Dadurch, dass der Filme­ma­cher Richard Misek mit seinem Film die Aufnahmen hinter der Paywall von Getty Images hervor­holt, begeht er einen Genie­streich, mit dem der Film gegen die kapi­ta­lis­ti­sche Geldgier dieser Firmen vorgeht. Misek äußert somit Kritik an kommer­zi­ellen Archiven, die sich an eigent­lich öffent­li­chen histo­ri­schen Aufnahmen bedienen, die im Besitz der Allge­mein­heit sein müssten.
Dabei geht der Film über die Kritik an diesen Archiven hinaus und bemängelt zudem den Kapi­ta­lismus hinter dem Geschäft mit Wissen. Er verleitet uns dazu, sich mit dem Urhe­ber­recht im 21. Jahr­hun­dert kritisch ausein­an­der­zu­setzen.«
Daher zeichnen wir »A History Of The World According To Getty Images« als dies­jäh­rigen Gewin­ner­film der Großen Klappe aus.

Tanja Tatlik, doxs!-Leiterin, hat mit ihrem Team ein themen­rei­ches und formal beacht­li­ches Programm orga­ni­siert, verstärkt auch mit poli­ti­schen Inhalten, wovon hier nur ein Eindruck vermit­telt werden kann. Ein Merkmal sind auch die nach jedem Film unter fach­kun­diger Leitung geführten Gespräche mit den Schul­klassen im Kino. Und jede Vorfüh­rung begann mit einem Trailer, der ein geradezu feier­li­ches Ende hatte: »Künstler sein ist keine Arbeit, sondern eine Lebens­be­ru­fung.«
Tanja hierzu: »Der Satz des Jungen aus dem doxs!-Trailer von Zauri Mati­k­asch­vili bleibt mir im Kopf. Ich mag, wie reflek­tiert und selbst­be­wusst er es sagt. Bei Lebens­be­ru­fung denke ich an Über­zeu­gung, Sinn­haf­tig­keit, Erfüllung oder gar Bestim­mung. Etwas, das nicht aus finan­zi­ellem Interesse gemacht wird, sondern aus Leiden­schaft, Den Filmen aus dem dies­jäh­rigen Programm ist die Leiden­schaft für das Filme­ma­chen anzusehen. Das Festival etwa lebt davon, dass es Künster*innen gibt, die auch weiterhin Doku­men­tar­filme für und mit Kindern und Jugend­li­chen machen und sich für ihre Lebens­welten inter­es­sieren.
Und Künstler sein ist eben doch auch Arbeit…Das ist keine neue Erkenntnis, aber ich möchte es hier nochmal betonen.«