Wo Pommes???
Wo Pommes??? |
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Konkrete Geschichten erzählen... | ||
(Foto: W-Film) |
Von Nora Moschuering
Ich fühle mich wie ein großer Matsch, ein warmer, sehr großer Klops, eine Art Knödel mit zu viel Flüssigkeit, der so nachweihnachtlich durch den Raum wabert. Und in diesem Stadium trifft es mich umso härter, dass es ausgerechnet ein Tanzfilm ist, den die Pommes als ersten Dokumentarfilm des neuen Jahres bespricht. »Tanz! Tanzt! Sonst sind wir verloren« ist ein Zitat der Tänzerin und Choreografin Pina Bausch, das Zitat passt auch zu der Protagonistin in Kaehrs Film, der Solistin an der Züricher Oper: Giulia Tonelli. Tanz ist für sie essentiell, ebenso wie die Geburt ihres Sohnes. Parallel dazu habe ich mir die Tage auch die französische Serie: L’Opéra – DANCING IN PARIS angesehen, in der natürlich dramatische Intrigen, Unfälle, Liebe und andere, normalerweise lebensverändernde Großdramen massenweise über die Charaktere hereinbrechen, der es aber gelingt, die Freude und Leidenschaft für das Tanzen zu vermitteln. Bei einer Figur spielt dabei auch der Wunsch nach einem Kind eine große Rolle.
Fiktionale Filme über Tanz haben immer den »Vorteil«, dass die Choreografie eines Tanzstückes von Anfang an mit der Kamera abgestimmt werden kann: es wird für die Kamera getanzt, die Kamera kann sich mit den Tänzer*innen bewegen. Sie wird im besten Fall bei der Choreografie mitgedacht, im schönsten Fall wird sie zur Mittänzerin. Es gibt viele Musikvideos, in denen die Tänzer*innen vor einer Art Publikum zu stehen scheinen, sich also relativ frontal verhalten. Dabei wird die Kamera entweder ignoriert oder es wird mit ihr, respektive mit uns, kommuniziert. Vielleicht bewegt sich die Kamera auch mal ein wenig, in einigen Videos lösen sich die theaterhaften Aufstellungen auch auf und die Tänzer*innen bewegen sich um die Kamera. Und manchmal kommt es vor, dass die Kamera zu einem eigenständigen Körper wird, also selber zur Tänzerin, die mit ihren Bewegungen etwas erzählt, z.B. hier »The Lone Dining Society«: »Inverted Odysseus« und ich bilde mir ein, dass das bei Gaspar Noés Climax – den ich mir aber kein zweites Mal geben möchte – auch passiert.
Aber zurück zum Dokumentarfilm, denn der arbeitet meist etwas anders, besonders wenn er beobachtend ist, und das ist Becoming Giulia zu einem großen Teil. Wenn die Kamera beobachtet, bedeutet das, dass sie möglichst nicht auffallen will. Die Rolle der Kamera kann dann nicht die einer Mittänzerin sein, weil sie versucht, nicht im Weg zu sein. Das kann dazu führen, dass sie ehrfürchtig außen vor ist, also in der Distanz bleibt, vielleicht ein Tableau aufnimmt – im einfachsten Fall die gesamte Bühne – sie also zu einer Zuschauerin auf einem richtig guten Platz wird, auch das passiert bei Becoming Giulia oder sie versucht, vorsichtig mitzugehen, auch das passiert bei Becoming Giulia. Die Kamera ist hier ab und an sehr nahe und man fragt sich, wie das möglich ist. Zu vermuten ist, dass es sich um ein kleines Drehteam gehandelt hat, und die Regisseurin, die selber Tänzerin gewesen ist, sich in einer ihr bekannten Umgebung bewegt hat. Teilweise hat sie auch selber Kamera gemacht.
Becoming Giulia ist dabei sehr »klassisch« aufgebaut, Giulia sagt das selber im Film: Sie will mit ihrem Tanz konkrete Geschichten erzählen und weniger experimentelle oder abstrakte. Und so ist auch der Film eine Heldinnengeschichte: Giulia kommt drei Monate nach der Geburt ihres Sohnes an die Oper zurück, um zu arbeiten. Anders als in der Fiktion von L’Opéra wird sie begrüßt und unterstützt, es stellt sich aber heraus, dass die Strukturen und das Verständnis dafür hier, wie auch anderswo, aber hier sicher besonders, noch kaum existieren. Sie muss sich also immer wieder um andere Zeiten, Pläne oder Kinder-Betreuung Sorgen machen, schafft es aber, sich Verbündete zu suchen, wie die Tänzerin, Choreografin und Mutter Cathy Marston.
Was, wenn das Kind krank ist? Sich Dinge verschieben? Das Kind weint, wenn man geht? Die Probenzeiten schlecht zum Alltag passen? Es gibt schnell geschnittene Abfolgen, in denen man von zu Hause in die Oper und zurück springt und ein bisschen von der Hektik mitbekommt. Wir begleiten Giulia durch ihre Wohnung, mit dem kleinen Sohn, beim Kochen, Kind abholen, organisieren, trainieren, auf der Probebühne, hinter der Bühne, auf der Bühne, sehen sie mit den Kolleg*innen, dem Partner, ihren Eltern und belauscht Gespräche, z.B. mit anderen Tänzerinnen, die sie dafür bewundern, dass sie etwas gewagt hat, was sie sich selber nicht (zu)trauen würden. Das hat was Ermutigendes, aber sicher auch Einschüchterndes für Giulia, die auffällt durch ihre enorme Disziplin, sowohl in der Rolle als Mutter, als auch als Tänzerin. Es fehlt ihr auch nicht an Ambitionen, Ehrgeiz und Neugierde. Sie will Neues ausprobieren und sich weiterentwickeln. Manchmal, meint Giulia im Film, wird genau das Müttern vorgeworfen, ganz so als wäre Mutterschaft ausreichend für den Rest, als wäre damit alles erreicht. Was ist es denn: Dieses Giulia-Sein, ihre Identität? Eines ist klar: zu ihr gehört jetzt unverrückbar der Sohn, aber auch, nach wie vor, der Tanz.
Natürlich ist eine Geburt etwas Körperliches, das fordert, schmerzt, die verändert, wie man tanzt, z.B. auch wo man gehoben werden kann – zumindest drei Monate nach der Entbindung (Achtung: Beckenboden). Natürlich ist der Tanz etwas Körperliches und etwas, bei dem man Regeln folgt, das man aber auch immer individuell mit dem füllt, was man selber ist. Man ist nicht »nur« Gefäß, man ist Künstler*in und als solche interpretiert man und bringt Eigenes hinein, Persönliches, Erfahrungen: Ein Kind kann Kunst verändern und Kunst braucht Veränderung!
Frauen brauchen auch neue Rollen. Wie bei L’Opéra folgt man einer charismatischen Person: Szenen mit Tanz und Musik wechseln sich mit ruhigeren Alltags-Szenen ab. Das kontrastiert schon inhaltlich mit Stücken wie »Romeo und Julia« (schöne Namensähnlichkeit), in denen nie zu einem Alltag gefunden wird, denn der spielt in vielen dramatischen Geschichten keine Rolle: sie sind zu Ende, wenn die Liebe verloren geht oder gefunden wurde. Wer hat dem Alltag eigentlich so lange seine Dramatik abgesprochen, besonders im fiktionalen Film? Und wie viel »Alltag« steckt überhaupt in einem Leben mit Kind? Tonelli im Film: »Ein Kind gibt einem eine unglaubliche Kraft. Gerade daraus kann man schöpfen. Jacobo war eine Erweiterung für mein Leben. Eine Erweiterung für mich als Mensch. Er hat mich kompletter gemacht. Er gab mir das Gefühl, dass ich die Welt erobern könne. Er gab mir eine Kraft, die ich zuvor nicht hatte.«
Dann lernt Giulia Cathy Marston kennen und arbeitet mit ihr an dem Stück: »Ein scharlachroter Buchstabe«, in ihm geht es um eine Frau, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt. Cathy, ebenfalls Mutter, und Giulia tauschen sich über ihre Erfahrungen aus, gemeinsam entwickeln sie das Stück. Ihre Zusammenarbeit, das gemeinsame Schaffen, unterscheidet sich dabei stark von der Arbeit mit den meist männlichen Choreografen, die man davor sieht.
Zurück zur Kamera: wie schon beschrieben ist die Kamera nah dran oder direkt frontal vor der Bühne, den Tanz beobachtet sie aber auch von hinter der Bühne, von der Seite, also aus einer anderen Perspektive als die der Zuschauer*innen im Opernsaal. Eine Verschiebung, ein Positionswechsel, den wir mit ihr machen. Die Kamera ist eben auch die Tänzerin-Kollegin, die sie drei Jahre begleitet hat.
Giulia Tonelli ist 2022 zum zweiten Mal Mutter geworden und Cathy Marston wird 2023/24 Ballettdirektorin und Chefchoreografin des Balletts in Zürich.