KINO MÜNCHEN FILM AKTUELL ARCHIV FORUM LINKS SITEMAP
München 2006 03.08.2006
 
 
Keine Lust und keine Reue
Rückblick auf das Filmfest München 2006

Eine Frau zelebriert ihre Rache:
SYMPATHY FOR LADY VENGANCE

 
 
 
 

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Bring ihn aus seinem vertrauten Rhythmus, und er reagiert schnell verstört oder unwirsch.
Slebstverständlich war es die einzig richtige Entscheidung, mit dem diesjährigen Filmfest München der Fußball-WM auszuweichen. Alles andere wäre - mal von logistischen Fragen wie der Unterbringung der Gäste ganz abgesehen - für ein erklärtes Publikumsfestival grenzsuizidaler Unfug gewesen.
Trotzdem: Die Verschiebung nach hinten hat dem Filmfest auch nicht wirklich gutgetan. Zum einen, weil die meisten wohl einen Gutteil unseres ungeahnt großen Euphorie-Reservoirs im Zuge der WM doch ziemlich gründlich ausgeschöpft hatten, und es nicht leicht war, jetzt schon wieder - und für ein solch deutlich insuläreres Ereignis - einen neuen Begeisterungsschub aufzubringen. Zum anderen, und entscheidender, aber einfach, weil man halt doch auch übers Jahr hinweg eine innere Uhr hat, und auf dieser der über Jahre hinweg angewöhnte Zeitpunkt fürs Münchner Filmfest und das damit verbundene "Freuen Sie sich jetzt!" schon durch war. Im unterbewussten Kalender war man schon beim Eintrag "Sommer!!!" angelangt, vom Wetter auch prächtigst bestätigt. War ähnlich wie Geburtstag ein, zwei Monate später nachfeiern: Geht schon, wenn's sein muss, aber es wirkt viel weniger wichtig, viel beliebiger als zum eigentlich gegebenen Zeitpunkt - man hat sich innerlich schon damit abgefunden, dass es auch mal ein Jahr ausfallen könnte, und dass das gar nicht so tragisch wäre.
(Dass ab Mitte des "normalen" Filmfests zeitgleich auch noch das etwas vorverlegte Fantasy Filmfest mit einem der stärksten Programme seit Jahren anlief, half im übrigen auch nicht, sich wirklich auf das Ereignis zu konzentrieren.)

Kurz: Man wurde nie so recht den Eindruck los, dass insgesamt das entscheidende Quäntchen Lust fehlte, dass vielem eher ein "going through the motions" anhaftete als dass es von einem inneren, freudigen Bedürfnis angetrieben würde.
Freilich ist so ein Eindruck höchst selektiv und subjektiv. Und er wäre bei mir wohl auch so zumindest deutlich weniger stark entstanden, wenn osteuropäisches Kino und das Gesamtwerk des Makhmalbaf-Clans - zwei der Schwerpunkte dieses Jahr - nicht so ganz und gar nicht meine cineastischen Baustellen wären. Immerhin machten Vorstellungen und Feiern tatsächlich einen spürbar weniger stark besuchten Anschein als in den letzten Jahren, und diverse Freunde und Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, hatten auch das Gefühl, dass diesmal das richtige Prickeln von vornherein gefehlt hat. Insofern war's also zumindest ein INTERsubjektiver, selektiver Eindruck...

Das Gute daran aber war, wie angenehm positiv man sich dann vom eigentlichen Programm überraschen lassen konnte. Denn zugegeben: Ein zum Enthusiasmus-Mangel ebenfalls beitragender Faktor war, dass der Vorab-Blick auf's Filmangebot bei mir nur eine sehr kleine "Sehen muss!"-Liste gezeitigt hatte. (Wie gesagt: Selektiv, subjektiv, weil Osteuropa und Makhmalbafs nicht meins, und von Mike Figgis die meisten Filme schon gesehen, meist auch gemocht, aber wenig Drang, sie jetzt nochmal alle in der Gesamtschau zu gucken...)
Was wohl auch mit ein Verschulden des Katalogs und des Programmmagazins war: Freilich sind die Bedingungen, unter denen die entstehen, zwangsläufig nicht optimal, da sich die Redaktionen bei sowas fast immer auf (oft genug spärliche) Informationen aus zweiter Hand stützen müssen. Aber diesmal wurden etliche Filme doch sehr unter Wert angekündigt, wurde in den Texten vieles glatter, langweiliger, belangloser geschrieben als es war, selten herausgestellt, was einen Film besonders machte, zu wenig Lust auf Entdeckungen geschürt. Dass die Informationen dann oft nicht nur zweifelhaft, sondern teils der deutsche und englische Katalogtext direkt sich widersprechend waren (siehe z.B. ART SCHOOL CONFIDENTIAL), war dann erst recht nicht hilfreich.

Geringe Erwartungen lassen sich gut übertreffen

So also waren die Erwartungen erstmal ziemlich niedrig angesetzt. Aber dann, siehe da!: Unter rund zwei Dutzend Filmen (zugegeben, nicht gerade Rekordsumme für ein Filmfest, aber es war wie gesagt parallell Fantasy Filmfest) nur ein für mich wirklich ärgerlicher Film. Und das war der Eröffnungsfilm WINTERREISE, über den ich anderntags ja bereits genug gegiftet habe. Sonst aber war selbst unter den Filmen, in die mich ohne große Lust mehr die Gunst oder Ungunst des Terminplans verschlagen hatte als die großen Erwartungen, keiner, dessen Besuch ich nachher bereut hätte. Und das spricht dann doch sehr für die Programmauswahl.
Klar, da war auch der ein oder andere, bei dem es rückblickend genauso wenig zu bereuen gewesen wäre, ihn NICHT gesehen zu haben. Aber jeder davon hatte IRGENDWAS, das ihn auszeichnete: Die in recht unattraktivem HD-Video-Look gedrehte New Yorker Beziehungs- und Psychoanaylse-Komödie THE TREATMENT zum Beispiel, auch wenn's insgesamt in Richtung Woody Allen für Arme ging, die stets wunderbare Famke Janssen. Oder der eine Tick zu zähflüssige, wenngleich schön düstere, argentinische Thriller EL AURA einen sehr interessanten Umgang mit der Musik - melodisch amorph, harmonisch lange, lange auf einzelnen Harmonien ruhend, diese Flächen aber klanglich und manchmal durch Reibungstöne aber ständig unter Spannung haltend. Und wenn Deepa Methas WATER letztlich zu gediegen, zu rührselig, zu sehr auf die "message" und zu wenig auf die Realität des Schmerzes konzentriert war, so fing er doch an mit großem Gespür für die kleinen Details, Randbeobachtungen, Stimmungen, Texturen, die einer eigentlich zu bewusst KONSTRUIERTEN Geschichte eine sinnliche Wahrhaftigkeit geben können.
Oder, wieder auf die andere Seite des Globus, der französische MEURTRIÈRES: Klar, inzwischen sind solche Filme schon ein eigenes Genre, über zwei Mädchen, die von der Gesellschaft die Schnauze voll haben, deren Freundschaft zum Katalysator wird und deren zielloses Road-Movie-Mäandern durchs Land in mörderischer Gewaltentladung gipfelt. Und Patrick Grandperrets Film gewinnt diesem Genre keine grundlegend neuen Facetten ab. (Wobei man zu seiner Ehrenrettung sagen muss, dass Grandperret mit MEURTRIÈRES ein Projekt realisierte, an dem Maurice Pialat schon in den 1970ern zu arbeiten begonnen hatte, also lang vor BAISE-MOI und Co.) Aber er hat zwei Hauptdarstellerinnen, die den konkreten Moment immer fesselnd machen, auch wo er im Prinzip altbekannt und ausgelutscht sein müsste.

Bei MEURTRIÈRES ist's schon schwer - zum Glück aber auch nicht wirklich nötig - zu sagen, ob er noch in die "Nicht bereut"- oder schon in die "Schön, mit nur ein paar Wermutstropfen"-Kategorie fällt. Dies gehobene Mittelfeld war beim diesjährigen Filmfest (oder zumindest meiner persönlichen Auswahl aus dessen Angebot) besonders gut vertreten. Und an dieser "Preisklasse" kann man vielleicht besser als an allem anderen ablesen, dass das Festival unter Andreas Ströhl prinzipiell auf dem richtigen Kurs ist.
Meisterwerke sind eher Glückssache für ein Festival wie das Münchner: Ein Filmjahrgang muss sie überhaupt erstmal bieten, und dann müssen sie herzubekommen sein, was bei allen, die mit großen Namen verbunden sind, heutzutage hauptsächlich eine Frage von Verleihpolitik, PR-Kampagne und günstigem Timing ist.
Der Mittelbau hingegen ist, weil er aus einem größeren Pool schöpfen kann, meist weniger von äußeren Zwängen diktiert, läßt mehr auf den wahren "Geschmack" eines Festivals schließen. Und da lassen die diversen Reihen freilich nach wie vor die "Handschrift" ihrer großteils langjährigen Betreuer erkennen, aber die Gesamtausrichtung auch zunehmend den Einfluss des (nicht mehr ganz) neuen Leiters. Was sich da weiterhin abzeichnet ist nicht nur die grundsätzliche, schon in den letzten Jahren beschriebene (und sicher unter anderem auch ganz pragmatisch durch den Kollaps des Kirch-Imperiums bedingte) Trendwende von einem Branchentreff für deutsche Fernsehschaffende mit Kino-Deckmäntelchen und -Anhängsel wieder hin zu einem echten FILMfest. Sondern auch eine alles in allem gute Nase für eine Art von Kino, die dem nicht übertrieben avantgarde-freundlichen Münchner Publikum zumutbar ist, ohne zu sehr in dem faden, bildungsbürgerlichen, studienratsbeglückenden Betroffenheits-Weltkino-Filmpampf abzusaufen, der inzwischen nicht nur eine eigene Art, sondern eine regelrechte eigene Geschäftsform von Kino darstellt, die vermutlich nur existiert, weil es a) weltweit entsprechende Fördertöpfe und b) einen permanenten, internationalen Bedarf von Filmfestivals an Abspielfutter gibt. Und natürlich c) einen unerschöpflichen Vorrat von Leuten mit Problemen und Mitteilungswillen, die solche Filme machen.
(Ich wage zudem die Prognose, dass sich das Ganze mit dem ja doch irgendwann mal absehbaren Abschied Klaus Eders vom Filmfest nochmal merklich in Richtung eines vielfältigeren, lebendigeren, ästhetisch innovativeren Cineastentums entwickeln könnte, dürfte, sollte. Müsste.)

Irgendwas ist immer

Jedenfalls: Eine besonders dankbare Fundgrube für das obere Mittelfeld, für schöne Filme mit nur leichten Macken war, einmal mehr, die bewährte American Independents-Reihe. Da gab's z.B. Andrew Bujalskis MUTUAL APPRECIATION, der in bewusster LoFi-Ästhetik ein wirklich schön treffendes Stimmungsbild hintuschte von der New Yorker Möchtegern-Jungkünstler-Szene, wo alle kreativ sind und intellektuell, aber auch latent verhaltensgestört. Alle mit den großen Träumen und den kaum vorhandenen realen Ergebnissen, Erfolgen. Und die Hauptfiguren auch noch mit einer schwierigen potentiellen Dreiecksgeschichte beschäftigt, an der aber schön undramatisch rumerzählt wird. Insgesamt war's mir dann nur um ein, zwei Viertelstündchen zu geschwätzig, und es nährte sich zunehmend der Verdacht, dass eine der großen Qualitäten des Films, nämlich dass er die Figuren und das Milieu mit einem liebevollen, aber insgeheim doch auch entlarvenden Blick zeigt, ein unbeabsichtigtes Zufallsprodukt ist und dass Bujalski selbst viel tiefer in der porträtierten, eigenwilligen Daseinsform drinsteckt als zunächst vermutet. Was ja letztlich aber auch ganz wurscht wäre. Absicht oder nicht - es zählt, was da ist.
(Ich hätte den Film übrigens auch gern mit Bujalskis Vorgängerwerk FUNNY HA HA verglichen, aber bei dem schlug, wie bei so manch anderem Streifen, der Fluch des viel zu kleinen Akkreditierten-Kartenkontingents zu. Gewiss, reguläres Publikum geht vor, aber ich wage zu behaupten, dass bei etlichen Filmen der zu erwartende Andrang einfach schlecht eingeschätzt wurde und man sie oft grade zu den "Hauptgeschäftszeiten" in zu kleine Säle programmiert hatte. Das Problem war zumindest viel eklatanter spürbar als in den letzten Jahren, obwohl der Publikumszuspruch insgesamt eher unter dem gewohnten Niveau zu liegen schien...)

Ziemlich groß war bei den American Indies NEIL YOUNG - HEART OF GOLD. Der hatte alles, was einen perfekten Konzertfilm ausmacht: Einen bedeutenden Performer auf der Bühne, mit einer seiner wichtigeren, Karriere-Höhe- oder Wendepunkte markierenden Shows. Und dann eine Regie, die einem das Gefühl vermittelt, wirklich dabei zu sein, allerdings als besonders privilegierter Zuschauer. Das hat Jonathan Demme schon mal epochal bei STOP MAKING SENSE hinbekommen, und hier ist's ähnlich: Nur am Anfang wird kurz die Szene bereitet, das Konzert in Nashville und damit in der US-Musik-Historio-Geografie verortet, werden die Musiker vorgestellt und in ein paar kurzen ihrer Aussagen deutlich, dass "Prairie Wind" (das Album, dem trotz des leicht irreführenden Titels der Hauptteil des Konzerts gewidmet ist) für Young eine sehr akute Auseinandersetzung mit Sterblichkeit und Tod war. Dann filmt Demme "nur" das Konzert ab - und viele werden wieder sagen, das sei ja nichts Besonderes. Aber die Kunst liegt zum einen überhaupt darin, sich als Regisseur zurückzuhalten und eben nicht dauernd Zeugs wie Interviews oder Backstageimpressionen reinzuschneiden, das den Film "interessanter" machen soll, aber nur ablenkt von dem, worum's eigentlich geht, nämlich der Musik und der Konzertsituation. Und zum anderen hat Demme ein zwar an der Oberfläche völlig unspektakulär scheinendes, aber in Wahrheit enorm beeindruckendes Gespür und Wissen für den Kern der Musik. Seine Inszenierung der Songs ist nie beliebig, seine Kamera ist immer da, wo gerade das Wichtige geschieht.
Alles super also; mein Problem damit war lediglich persönlicher Natur: Ich schätze Neil Young sehr, aber ich kann mir selten mehr als eine dreiviertel Stunde seiner Musik am Stück anhören, ohne dass es mir dann vorerst wieder genug damit ist.

Ein weiterer "Glücklich, aber dann doch nicht rundum"-Film hätte eigentlich in die American Indies-Reihe gehört, war aber irgendwie im "Internationalen Programm" gelandet: Terry Zwigoffs Comic-Verfilmung ART SCHOOL CONFIDENTIAL nach Daniel Clowes. Die vertändelt und verfranst sich leider in ihrer zweiten Hälfte ein bisschen in einem Krimi-Plot und verliert das Tempo und die Gag-Fülle ihres Auftakts. Aber bis dahin schafft er (und das mit filmisch sehr bieder scheinenden Mitteln), was wirklich nicht leicht hinzubekommen ist: Ein gelungene Satire. Hier auf den Kunst(hochschul)betrieb und die ihn bevölkernden Typen. Die ihm selbstverständlich als Klischee- und Witzfiguren dienen, aber eben nie so, dass sie einen Rest an Menschlichkeit und vor allem Glaubwürdigkeit verlören.
13 (TZAMETI) hingegen war eins der unbestrittenen Highlights des Festivals, verdankte das aber ganz und gar seinem famosen Mittelteil - seinen Auftakt und sein Ende scheinen um den eher etwas verlegen und ziellos herumgesponnen, damit ein kompletter Spielfilm draus wird. Sein Kern aber ist schlicht ein perverses Russisches Roulette-Varianten Turnier als Wettveranstaltung - und wie er das, in Schwarz-weiß und Breitwand, mit einer grandios ranzligen, schmutzigen Atmosphäre, einem unerbittlichen Rhyhtmus und unglaublichen Typen, Physiognomien konsequent und beinhart durchinszeniert, das ist einsame Klasse. Und wird dann vollends atemberaubend, wenn er zwischendurch Momente der Ruhe, des Wartens und der bizarren Melancholie, schrägen Schönheit einschiebt. Eigentlich auch kein Wunder, dass er da zum Schluss nichts mehr hat, mit dem er das toppen könnte.
Der ganz umgekehrte Bogen zu ART SCHOOL CONFIDENTIAL, nämlich erst pfui (na ja: nicht so toll halt), dann hui, war aber beim Abschlussfilm LONELY HEARTS - ein Remake von HONEYMOON KILLERS - zu erleben: Der lief am Anfang noch eher unrund, wo er zu sehr einen auf film noir zu machen versuchte und doch nur bei schlecht wiedergekäuten Klischees des Genres landete. Und wo der Fokus noch mehr auf der Figur des Detektivs lag, den ein komplett unüberzeugender John Travolta spielt, der permanent nur neben sich zu stehen scheint. Aber je mehr dann das Heiratsschwindler- und Mörderpärchen ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, und je weniger sich Regisseur Todd Robinson für Genre-Einkleidung interssierte, je mehr ihm die Psychologie der Figuren zur Hauptsache wird, um so spannender wurde das Ganze. Vor allem Salma Hayeks manipulativer, grenzpsychotischer, von einer buchstäblich mörderischen Sucht nach "Liebe" (oder dem, was sie dafür hält) getriebener Charakter wird zu viel mehr als nur einer femme fatale. Und wann immer LONELY HEARTS sich traut, es schafft dahin zu gehen, wo's wirklich wehzutun beginnt, dann wird er packend und manchmal auch für mehr als nur einen Moment groß.

Die Filmwelt zu Gast bei Freunden

Man darf trotzdem davon ausgehen, dass es LONELY HEARTS nicht in erster Linie wegen seiner filmischen Qualitäten zum Abschlussfilm gebracht hatte, sondern weil er - gerade auch als Gegengewicht zum Eröffnungsfilm - den für Aufmerksamkeit bei Mainstream-Publikum und Boulevard-Presse unabdingbaren, sogenannten "Hauch von Hollywood" versprach. Und vermutlich den Hauch von (am Ende unerfüllter - schluchz!) Hoffnung, dass Salma Hayek München einen kleinen Besuch abstatten könnte. Na ja, immerhin war dann James "Tony Soprano" Gandolfini da - ich hab' ihn aber leider verpasst.
Überhaupt kann man sich über die Gästeliste dieses Jahr wirklich nicht beschweren, höchstens darüber, dass das Filmfest damit nicht hinreichend hausieren gegangen ist. Grade die Publikumsgespräche im Gasteig hätte man deutlich lauter zu Markte tragen können und müssen. Da gab's z.B. selbst gestandene, beim Filmfest akkreditierte Terry Gilliam-Verehrer, die nicht mitbekommen hatten, dass der Meister in der Stadt war. Dass mal wieder ausgerechnet Robert Fischer dessen öffentliches Gespräch leiten musste und es mal wieder mehr zur Selbstdarstellung nutzte und weitgehend von Publikumsfragen abgeschirmt hielt ist ein anderes Thema. Dafür nahm Gilliam ihn dann auch immer wieder auf den Arm, womit Fischer nicht allzu souverän umgehen kann. Und immerhin gab's unter all den längst bekannten Kamellen zu Gilliams Karriere, bei seinen Monty Python-Tagen angefangen, die Fischer brav chronologisch und mit dem Unterton des Besserwissers abfragte (man wartet ja immer drauf, dass er mal einen Interviewpartner korrigiert und sagt: "Nein, was sie damals WIRKLICH wollten war doch..."), dann doch auch eine brandaktuelle und sehr hoffnungsfrohe Nachricht: Die Rechte an Gilliams spektakulär gescheiterten Don Quichote-Projekt (siehe LOST IN LA MANCHA) sind nach langem juristischem Streit offenbar wieder zurück im Besitz der Produktionsfirma, und es gibt zumindest eine gewisse Chance, dass er seinen Traumfilm doch noch eines Tages vollenden wird können. Wetten sollte man zwar besser noch nicht darauf abschließen, aber immerhin...
Und sehr schön auch der Auftritt von Jonathan Demme, einem unserer langjährigen Favoriten (und das schon lang vor, aber noch mehr nach SILENCE OF THE LAMBS), der im Sommertags-Freizeit-Outfit inklusive kurzer Hosen auftauchte, weil er sich's ein bisschen zu lang an der Isar gutgehen lassen und keine Zeit mehr zum Umziehen hatte. Was eben einer der großen Vorteile des Münchner Filmfests ist: Es geht für die internationalen Gäste um keine großen Preise, der Medien- wie der Zaungastsauftrieb ist nicht so groß, die Atmosphäre halbwegs familiär, und es ist Sommer, und so sind die meisten dann doch ziemlich entspannt, auskunftsfreudig und zugänglich.

Ortstermin

Aber zurück zu den Filmen selbst. Bzw.: So ganz läßt sich das ja nicht trennen, die Filme und die Umstände der Vorführung speziell wenn die Filmemacher anwesend sind. Und dafür sind Filmfestivals ja auch da - Kontext zu liefern.
Wohl kein Film hat auf dem Filmfest München diesmal so davon profitiert wie die Doku JOURNEY TO JUSTICE. Sie hätte anderswo vermutlich nicht viel Aufsehen erregt, ihrer bieder-amerikanischen Machart wegen und insbesondere angesichts seines unsäglichen Musikeinsatzes (emotionalisierend gemeint, aber für jeden mit auch nur Ansätzen von Geschmack allein insofern gefühlserregend, als er Wut angesichts solch unangebrachten Kitschs entfachte). Aber sie hatte eine starke Geschichte zu erzählen, und zwar letztlich eine Münchner Geschichte: Howard Triest war ein Bub aus einer assimiliert-jüdischen Münchner Familie, die wie so viele andere plötzlich aus ihrem gewohnten Leben gerissen wurde und vor dem Nazi-Terror quer durch Europa fliehen musste. Nur er und seine Schwester haben es bis in die USA geschafft, Eltern und Großeltern wurden ermordet. Als GI ist er nach Deutschland zurückgekehrt, war Übersetzer bei den Nürnberger Prozessen (genauer: für den Psychiater, der die Angeklagten Nazi-Größen im Gefängnis befragte). 1947 kam er ins zerstörte München und hat dort umfangreiches 16mm-Filmmaterial gedreht. Viel Mitleid für die deutsche Bevölkerung konnte er damals nicht aufbringen, empfand die Zerbombungen als angemessene Bestrafung für das Volk der Mörder seiner und so vieler anderer Familien. Anlässlich des Drehs von JOURNEY TO JUSTICE kehrte er in die Wohnung seiner Kindheit zurück und schloss Freundschaft mit dem nun dort lebenden, jungen deutschen Paar.
Was den Film besonders machte, abgesehen davon, dass die Bahn von Triests Schicksal einen so geradezu drehbuchreifen Bogen durch das 20. Jahrhundert zieht, war ihn in München und in Anwesenheit Triests und seiner Schwester zu sehen. Das große Problem aller Holocaust-Dokus (und letzlich aller historischen Dokus) ist ja immer, dass sie diese letzte Bastion der Wahrnehmung nicht durchbrechen können, die das Gezeigte zu etwas Fernem, Fremden macht. Man WEIß, dass es sich um Realität handelt, aber man FÜHLT es nicht. Zur eigenen Lebenswirklichkeit fehlt ein entscheidender, kaum zu überwindender Schritt. Und genau den half diese Münchner Vorführung von JOURNEY TO JUSTICE, wo die Orte und Menschen, um die es ging in so unmittelbarer Nähe waren, zu gehen.
Im Anschluss gab es dann noch Triests 16mm-Aufnahmen aus dem zerbombten München zu sehen, stumm (bzw. nur mit Triests Live-Kommentar) und in voller Länger. Auch wenn denen Dramaturgie abging: Da war noch mehr zu spüren, welch ein Gespür von Wahrhaftigkeit, welch - freilich gebrochener, selektiver, transformierter - Blick wenigstens auf ein winziges Teilstück einer vergangenen Realität möglich ist, wenn man sich traut die Dokumente sprechen zu lassen. Anstatt wie JOURNEY TO JUSTICE dauernd versucht, narrativ wie emotional jedes dem Publikum verabreichte Bisschen an Information zu kontrollieren und zu lenken.

Man muss dem Film aber zugute halten, dass er von einem Bekannten der Familie Triest gemacht wurde, Steve Palackdharry, dessen bisherige Arbeiten vor allem für das US-Public Broadcasting-Fernsehen entstanden. Der also aus einer gewissen Doku-Tradition kommt, die vorsichtig formuliert nicht gerade zu den reflektiertesten und avantgardistischsten gehören. Ein Mann zudem, der nicht den Eindruck machte, dass er sich selbst für einen großen Meister des Mediums hält, sondern der einfach im Rahmen seiner Möglichkeiten aus seiner Sicht so verantwortungsvoll und engagiert mit dem (ihm zunächst eher fremden) Stoff umgegangen ist, wie er konnte.
Bei allem, was ich gerade Negatives über die Machart gesagt habe, merkt man dem Film doch zumindest die Redlichkeit und Bemühtheit seines Regisseurs an. In der Hinsicht gibt ihm der teils unbeholfene Einsatz der dokumentarfilmerischen Mittel dann auch wieder etwas Menschliches.
Aber keine Frage: Besser noch sind Könner ihres Metiers. Dass beim Dokumentarfilm das Können sehr oft grade in der Zurückhaltung und Genauigkeit besteht, ließ sich schön an MEIN ANDERES LEBEN - DER HOCHSTAPLERFILM beobachten. Ein Film über vier Hochstapler/Trickbetrüger, dessen Kunst zunächst einfach darin besteht, besonders exemplarische (aber krasse) Vertreter dieser Spezies aufgestöbert zu haben (alle zum Zeitpunkt der Interviews bereits inhaftiert) und sie erstaunlich offen zum Reden zu bringen. Außer etwas suggestivem Licht gibt es um diese "talking heads" herum auch gar nicht viel Inszenierung, lediglich in zwei Fällen gibt es noch zusätzliche Gespräche mit Menschen, die ein bisschen Außenperspektive dazu liefern, was bei einem dieser Fälle - wo der Täter völlig reuelos, eiskalt, überheblich geblieben scheint - auch dringend notwendig ist, da hier eins der Opfer zu Wort kommt. Denn auch wenn man Anfangs noch über die meisten dieser Münchhausen-Geschichten sich zu amüsieren bereit ist, wird dann doch mehr und mehr klar, dass die ganze Angelegenheit so lustig nicht ist. Und das ist dann das zweite Kunststück des Films von Alexander Adolph: Dass er ohne Kommentar oder "Experten"-Stimmen einen soweit bringt die tieferen Implikationen hinter dem Anekdotischen zu begreifen. Die psychischen Wunden und Narben, die solche Persönlichkeitsstrukturen hervorbringen; das, was ihr Verhalten, ihre Methoden und ihr Erfolg über die Mechanismen des menschlichen Umgangs, menschlichen Vertrauens, der Gier und der Autoritätshörigkeit sagen. Und wie fließend teils die Übergänge sind von den Con-Games, Pyramidenspielchen und Luftschloß-Bausparverträgen der Hochstapler zu dem Funktionieren unserer heutigen normalen Wirtschaft. Wenn an unserem derzeitigen Kapitalismus noch viel "normal" zu nennen ist.

Überraschung! Oder auch nicht...

Irgendwann weiter oben hatte dieser Text mal Anflüge eines roten Fadens. Da ging's um Erwartungen ans Filmfest-Programm und eine ungefähre Rangfolge der Filme nach Gefallen. Man gestatte mir, die ausgefransten Enden dieses Fadens so unelegant wieder aufzugreifen und - da der HOCHSTAPLERFILM ohnehin schon auf dieses Terrain führt - nunmehr zur Premium-Auslese unter der diesjährigen Film-Ernte zu kommen.
Die schönste Entdeckung für mich war CONGORAMA. Wohlgemerkt: Nicht der schönste Film. Aber jener, von dem ich am wenigsten erwartet hatte und dann am meisten glücklich überrascht wurde. Hätte zwar gar nicht SO unerwartet kommen müssen, denn der Film kam aus der Mini-Québec-Reihe und es wurde zudem gemunkelt, es handele sich um einen von Ströhls persönlichen Favoriten. Und wenn man was in den letzten Jahren lernen konnte, dann: a) dass die Kanadier es meistens drauf haben mit dem Filmemachen, so ein bisschen die Österreicher Nordamerikas sind (seltsamer und nicht übertrieben tragfähiger Vergleich, zugegeben, aber was er sagen soll: sie sind ein im internationalen kulturellen Bewusstsein nicht allzu präsentes Land, bringen dann aber immer wieder eine erstaunliche Menge sehenswerter und unprätentiös profunder Filme raus, mit einer ganz eigenen, etwas verschrobenen Sichtweise und Ästhetik). Und b) dass Andreas Ströhl keinen ganz verkehrten Geschmack hat.
So oder so: CONGORAMA fand ich einen im allerbesten Sinne romanhaften Film. Einer der zwar sehr auf "Handlung" fixiert ist, nicht auf Impressionen; dem aber dabei das Erzählen überhaupt nicht das mechanisierte, ritualisierte Durchrattern eines Plots ist; einer, bei dem nicht erzählt wird, um die Frage zu beantworten "Und was passiert dann?". Sondern ein Film, wo alles, was geschieht oder enthüllt wird, ein neuer Mosaikstein für ein immer größer werdendes Panorama ist, ein Knoten in einem immer dichter werdenden Beziehungsgeflecht.
Zwei Brüder (die aber anfangs nicht wissen, dass sie Brüder sind), zwei Weltausstellungen (in Brüssel und Montreal), daselbst ein Congo-Pavillion und damit die Querverbindung zu Kolonial- und Missionshistorie, die Suche nach einem Elektroantrieb für Autos, Diamanten zweifelhafter Herkunft, ein Strauß auf der Straße - das und mehr bringt CONGORAMA unter einen Hut, ohne je überbordend, überdreht, ungeordnet, beliebig oder gewollt zu wirken, sich stets einen eher zurückhaltenden, aber treffsicheren Humor bewahrend. Und weil eben all diese Elemente und die Erlebnisse seiner Protagonisten vor allem dazu da sind, dem Film immer mehr Ebenen, Vielschichtigkeit zu geben, weil sie sich zu einer Welt und Weltsicht häufen, kann CONGORAMA sich auch sparen, dramaturgische Wendepunkte und Enthüllungen mit großer Emotions-Geste auszuerzählen. Auch da bleibt er verschmitzt, intelligent, diskret und dadurch umso wirkungsvoller. Und sehr, sehr sympathisch.

Als unerwartete Entdeckung war CONGORAMA jedoch eher eine Ausnahmeerscheinung. Lag's nur an meiner zu kleinen und vorurteilsbehafteten Filmauswahl, war's Zeichen für sowas wie einen Trend? Aber jedenfalls fanden sich die größten Filmerlebnisse dieses Filmfests in meinen Augen zumeist nicht im Verborgenen, in den obskuren Winkeln des Programms. Sondern ziemlich da, wo ich sie auch vorher erhofft hatte, und in Gefilden, für die das Festival eine schöne Platform darstellte, die man aber auch unabhängig davon beachtet und abgegrast hätte. Soll heißen: Filme von hinreichend bekannten Regisseuren, überwiegend mit regulärem Kinostart.
Wohl noch die größte Überraschung war, als wie wunderbar sich Nicole Holfceners FRIENDS WITH MONEY entpuppte. Okay, dass man einen Film mit Catherine Keenre UND Frances McDormand irgendwie lieben müssen würde (werden müsste? wessten mürde?), das war abzusehen. Aber dass er auch von den Schauspielerinnen abgesehen noch ein wirklich schöner Film sein würde - wer hätt's gedacht? Es ist vor allem aber ein wunderbarer Film über die Rücksichtnahme - ein Thema das er in all seinen Episoden und Parallellhandlungen in einer anderen Variante durchspielt, ohne dass er das je explizit aussprechen würde. Es geht um eine Gruppe von Freundinnen in Los Angeles; die einzige die weder einen Partner noch ein deutlich überdurchschnittliches Einkommen hat ist die von Jennifer Aniston dargestellte Figur - und schon dies ironische Casting (Aniston ist die einzige der Darstellerinnen, die in Hollywood "A-List"-Starstatus genießt) zeigt, dass der Film deutlich cleverer ist, als sein Frauenkomödien-Marketing suggerieren möchte.
FRIENDS WITH MONEY fängt wirklich perfekt die Atmosphäre in den reicheren Vierteln von Los Angeles ein. Mit seinen Themen Rücksicht und Geld ist er dann auch sehr schnell und ohne das ausdrücklich zum zentralen dramatischen Konflikt machen zu müssen bei den Spannungen, die in dieser zwiespältigen (und für die USA so symbolhaften) Stadt permanent unterschwellig gären. Und damit ist der Film dann auch - ziemlich sicher ohne Absicht, definitiv ohne großes Aufhebens, ganz nebenbei und grade dadurch aber so viel treffender und tiefer - jener Film über L.A., der der heillos überkonstruierte, zeigefingerschwenkende, papierne Botschaftsträger CRASH (mit seinem lachhaften Oscar-Sieg) letztes Jahr so gern sein wollte.

Normal ist das nicht

"Great Expectations" hatte ich vorab bei Terry Gilliams TIDELAND, und was über die gelinde gesagt kontroverse Aufnahme bei anderen Festivals zu hören gewesen war hatte meine Neugier nur angestachelt.
Wobei ebenso vorher klar war, in welcher Hinsicht die Erwartungen lieber nicht zu hoch gesteckt werden sollten: Gilliam war noch nie ein Meister des Rhythmus, war noch nie ein begnadeter Erzähler, und das Psychologische nicht sein rechteigentliches Metier.
Das merkt man auch TIDELAND an, und zumindest nach dem ersten Anschauen blieb der Eindruck, dass Gilliam im Schneideraum nochmal radikal hätte Hand anlegen und im Dienst des Ganzen auf Kosten mancher Einzelsequenz, des ein oder anderen Exzesses hätte straffen dürfen. Obwohl seit Jahren der erste seiner Filme, bei dem er wieder mal volle kreative Kontrolle hatte und mit dem er selbst rundum zufrieden scheint, gehört er eher nicht zu seinen Werken für die Ewigkeit.
Aber, und das ist ein dickes Aber: Es ist ein Film, der einen in ein wirklich ganz eigenes Universum mitnimmt. In eine Welt, die nur schwer mit der anderer Filme vergleichbar und die unvergesslich ist. TIDELAND liegt annähernd in der selben Galaxie wie THE REFLECTING SKIN, "Alice in Wonderland", die Filme Jan Svankmajers und der Quay Brothers, die "southern gothic"-Storys von Joe R. Lansdale - so man sich all das in ein und der selben Galaxie vorstellen kann -, hat da aber eine spezielle Ecke für sich gepachtet.
Zu sagen, dass die 10-jährige Jeliza-Rose (sensationell: Jodelle Ferland) im Mittelpunkt des Films steht, wäre eine ziemliche Untertreibung: Sie IST der Film, er kennt keine Minute ohne sie. Jeliza-Rose hat zwei ziemlich fertige Junkies als Eltern, bereitet ihrem Papi (Jeff Bridges) auch immer brav und gewissenhaft seine Heroin-Spritze vor, bis dann eines Tages die Mutter (Jennifer Tilly, kaum wiederzuerkennen, in einem schnell beendeten Gastspiel) plötzlich dahinscheidet und der Vater Hals über Kopf sich und das Mädchen in den nächsten Bus packt und zum abgelegenen Haus der Großmutter inmitten einer endlosen Weizenfeld-Landschaft flüchtet. Großmutter ist aber auch nirgends mehr zu finden, und es dauert keine Woche, da wacht der Vater in der neuen vergammelten, vermüllten Behausung ebenfalls aus einem Heroin-High nicht mehr auf. (Jeff Bridges verbringt rund dreiviertel des Films in unterschiedlich Stadien dekorativer Verwesung.) Jeliza-Rose hat dann nur noch sich, ihre Fantasie-Welt, die sie mit ihrer Sammlung ramponierter Barbiepuppen-Köpfe teilt - und zwei SEHR eigenwillige Nachbarn vom nächsten Anwesen.
Das Schöne und Spannende an TIDELAND ist, wie konsequent er die Perspektive des Mädchens zu seiner eigenen macht. Es gibt keine Normalität in der Welt dieses Films. Oder, besser gesagt: Es gibt keine Normalität außerhalb des nach gewöhnlichen Maßstäben beurteilt ziemlich kranken und verrückten Unsiversums, das Jeliza-Rose bewohnt. Aber das Kind hat keine Vergleichswerte, es kennt nichts anderes, und deshalb hat es auch nie gelernt, mit Abscheu, Grausen, Angst zu reagieren. Drogenspritzen aufziehen ist für das Mädchen so normal wie für andere Geschirrabräumen nach dem Essen; das Leben unter unhygienischen Umständen und Ernährung ausschließlich durch Erdnussbutter empfindet es nicht als ungesund, als Verwahrlosung; den Tod kann sie weder fürchten noch begreifen. Und dass Realität und Fantasie nahtlos ineinander übergehen, ist für sie selbstverständlich.
Ziemlich genau diesen Blick teilt auch der Film, und das macht ihn erst wirklich radikal. TIDELAND bietet eine der am wenigsten verhätschelten, romantisierten, zugleich hoffnungsvollsten und erschreckendsten Darstellungen der Robustheit von Kinder-Psychen, die es je im Kino zu sehen gab. Nur in ein paar Bereichen weiß er zwangsläufig mehr als die knapp präpubertäre Jeliza-Rose. Und da hält Gilliam seine Verfilmung des Romans von Mitch Cullin sehr gekonnt auf der Kippe zu Territorien, wo's wirklich unangenehm, schmerzhaft, zerstörerisch werden könnte.
Denn TIDELAND ist, wage ich zu behaupten, der erste Gilliam-Film, in dem Fantasie, Imagination kein schlicht positiv besetzter Rückzugsraum vor den Zumutungen der Realität sind, sondern wo die Verabschiedung von äußeren Instanzen ein durchaus bedrohliches Potential entwickelt und auch zum Ausbruch kommen lässt. Am Ende des Films bleibt kein Zweifel, dass es Sachen gibt, die ein Kind lernen muss, damit es nicht zur Gefahr für sich und andere wird. Dass man die Wirklichkeit nicht beliebig um- und wegfantasieren kann, ohne irgendwann realen Menschen realen Schaden zuzufügen. Im letzten Bild von TIDELAND bleiben Jeliza-Roses große, tiefe Kinderaugen noch eine Weile stehen, während der Rest der Leinwand schon im Dunkel versinkt. Es ist das bei weitem unheimlichste Bild des Films.

Weil wir grade beim Realitätsverlust sind: Was passte da besser als Richard Linklaters A SCANNER DARKLY. Wenn der Film einen Fehler hat, dann dass er eine ZU getreue Verfilmung des gleichnamigen Philip K. Dick-Romans ist. Da stellt sich zum einen die Frage nach dem "Warum überhaupt einen Film?", zum anderen muss man bereit sein, auch alles in Kauf zu nehmen, was das Buch schwierig, manchmal anstrengend, etwas hermetisch und zeitgebunden macht. Das ist dann aber eben zugleich auch die große Stärke - wenn man Dick für mehr hält als nur einen Konzeptlieferanten, der er für bisherig Kino-Adaptionen seiner Werke stets bloß war. A SCANNER DARKLY ist der erste Philip K. Dick-Film, der wirklich der Atmosphär und dem Geist seiner Vorlage völlig gerecht wird.
Das fängt damit an, dass die Landschaft des Films keine durchdesignte Science Fiction-Kulisse ist sondern das nur minimalst verfremdete Kalifornien. Und es endet damit, dass vor dem Abspann Dicks originale Widmung des Romans erscheint: A SCANNER DARKLY hat er als Reaktion darauf geschrieben, dass viele seiner Freunde und Bekannten durch Drogen gestorben oder psychisch irreparabel geschädigt worden waren. Das Buch ist vielleicht die eindringlichste (nur leicht) metaphorische literarische Beschreibung überhaupt des Zustands von Parnoia, Identitätsauflösung und Desorientierung der aktiven Partizipanten der "psychedelischen" Ära.
Dass Linklater in seiner Adaption einmal mehr das Realfilm-zu-Zeichentrickfilm-Verfahren zum Einsatz bringt, das er bei WAKING LIFE zum ersten Mal für einen Spielfilm fruchtbar machte, passt ideal zu der semi-realen Welt, die er darstellt. Der Look, das Flottieren und Sich-gegeneinander-Verschieben der Bildebenen wurde jedoch diesmal deutlich beruhigt, man hat weniger mit einem Gefühl von Seh-Krankheit zu kämpfen. Und der Schauspielerleistungen seines großartigen Casts (Robert Downey, Jr. for President!) tut's keinen Abbruch.
Aber wie gesagt: Was A SCANNER DARKLY auszeichnet und zugleich problematisch macht ist seine Bereitschaft, Dick wirklich Ernst und beim Wort zu nehmen. Wie der Roman ist auch der Film eher eine Zustandsbeschreibung als eine Geschichte, und wie der Roman nimmt einen auch der Film dahin mit, wo Paranoia und Ziellosigkeit, wo pseudo-erleuchtete Wort-Entladungen und Verlust von Persönlichkeitsgrenzen als Phänomene des Dauer-Drogenkonsums nicht bloß beschrieben, sondern wirklich erfahrbar werden, wo man sie als Leser/Zuschauer auch ein Stück durchleben und aushalten muss.
Anders gesagt: A SCANNER DARKLY ist die erste Philip K. Dick-Verfilmung, die sich wie ihre Vorlage wirklich traut, immer mal wieder komplett aufzuhören, als Unterhaltung zu funktionieren. Man muss das nicht mögen - aber es für einen Fehler, ein Versehen, ein Versagen zu halten heißt, Dicks Bedeutung nicht verstanden zu haben.

Platz! (Eins und zwei.)

Genau das Gegenteil zum Realitätsverlust, zur Realitätsflucht stellte - und damit kommen wir endlich, Fanfare!, zu DEN zwei größten Filmerlebnissen während dieses Filmfests für mich - das Gegenteil stellte also Steven Soderberghs BUBBLE dar.
Der ist eine Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit US-amerikanischer Kleinstädte (hier Parkersburg, West Virginia) und mit Fragen nach deren Darstellbarkeit im Kino.
Wohlgemerkt: Der Film ist kein naiver Versuch einer Realitätsabbildung, er ist - fast unausgesprochen, aber unverkennbar - ein praktizierter Diskurs ÜBER "Imitation of Life".
Dazu gehört essentiell, dass BUBBLE der erste US-amerikanische Film ist, der sich wirklich tiefere Gedanken macht über seinen Einsatz von HD-Video-Kameras. Der sie nicht benutzt, als gebe es da ästhetisch keinen Unterschied zu 35mm-Film, oder mit digitalen Verfremdungseffekten arbeitet. Soderbergh spürt den Farben, Texturen, Lichtstimmungen nach, die sich in diesem neuen Aufzeichnungsmedium anders, "besser" einfangen lassen als mit Film. Und entdeckt sie eben in den US-Kleinstädten, in dem tristen Grau ihrer Straßen, den Pastelleinrichtungen ihrer Häuser, dem kalten Neon in ihren Geschäften.
Es ist kein Zufall, dass die Protagonisten von BUBBLE in einer Fabrik für Puppen arbeiten, und dass Soderbergh so oft, groß und ausführlich in Szene setzt, wie die Gummiköpfe eingefärbt und angemalt werden: BUBBLE ist nicht zuletzt ein Film über Hauttöne - die hier so ungeschminkt rüberkommen wie vielleicht noch in keinem US-Film.
Bei der Inszenierung des unausgelebten, unausgesprochenen und schließlich tödlichen Liebsdreiecks zwischen einer älteren, dicklichen Fabrikarbeiterin, einem jungen Slack-Kollegen und einer neuen, hübschen Mitarbeiterin (die so nett, wie sie erst scheint, bei weitem nicht ist) vermeidet Soderbergh jeden Pseudo-Dokumentarismus, wie ihn z.B. die Dardenne-Brüder in einem Film wie L'ENFANT praktizieren. BUBBLE - die wohl vollkommenste Symbiose von Soderberghs zwei "Modi" bisher: seiner Künstler-Persona als massenkompatibler (Genre-)Erzähler und der des experimentierfreudigen Arthouse-Filmemachers - ist in sehr präzisen, oft bewusst distanzierend-artifiziellen Breitwand-Einstellungen kadriert, hat auch zwei richtiggehend surreale Einsprengsel. Der Film lebt von, spielt mit seiner ständigen Spannung zwischen der Alltäglichkeit seines Schauplatzes, seiner Charaktere und der Künstlichkeit des Apparts Kino und seiner Erzählgewohnheiten. (Was alles nur wirklich wahrnehmbar wird, wenn man BUBBLE auf der großen Leinwand sieht.)
Was den Film so großartig macht ist, dass dieses Experiment in beiden Richtungen fruchtet: Seinem mundänen Sujet gibt die Inszenierung etwas Überlebensgroßes, eine allgemeingültige Tragik. Dem Erzählen, dem "Genre" aber gibt die Wahrhaftigkeit der Orte und Menschen (Laiendarsteller allesamt) immer wieder den entscheidenden Stich, das entscheidende Moment, das überraschend anders und viel überzeugender ist als das Pendant, das nur aus den Gewohnheiten der Fiktion gesponnen wurde: Atemberaubend zum Beispiel, wie völlig verschieden von allen bisherigen filmischen Polizeiverhören das gegen Ende von BUBBLE aussieht, sich anhört, und wieviel stimmiger und berührender es doch ist.
Was Soderbergh zeigt, ist die von den Künsten und Medien weitgehend übergangene (oder: verdrängte?) Existenzform wohl der großen Mehrheit der US-Amerikaner. Sein Bild davon ist sehr stimmig, wirkt sehr authentisch - und ist von Anfang an erschreckend trostlos. Mag sein, dass es nur die Angstfantasien von uns hochnäsigen Großstädtern sind, aber man kann sich bei BUBBLE nur zu gut vorstellen, wie bei einem Menschen, der in jener Welt Sinn und Liebe sucht die Frustration zu einer Blase anschwillt, die irgendwann platzen muss.

Ähnlich geht's ja den Menschen in den Filmen von Park Chan-Wook. Nur dass da die Frage nach dem Sinn und der Liebe deutlich mehr kosmische als soziale Dimensionen haben, und dass die Gewalt viel methodischer, konsequenter und, na ja, gewaltiger in ihnen heranreift, bevor sie sich entlädt.
Tja, und damit wären wir dann endlich bei DEM einen Film angekommen, für den ich ohne langes Zögern den ganzen Rest des Filmfest-Programms hingäbe, wenn die Welt zu evakuieren und nur Platz zur Rettung eines einzigen Werks wäre.
Vorhang auf für: SYMPATHY FOR LADY VENGEANCE. Der hat für mich nicht bloß alles andere der Festivalwoche übertroffen - er hat so ziemlich alles regelrecht pulverisiert, was ich in den letzten ein, zwei Jahren auf Leinwänden gesehen habe.
Dass ein Film, dem sowas gelingt, von Park Chan-Wook kommt, war einerseits keine Überraschung (er - oder höchstens noch Takashi Miike - ist derzeit einfach der aussichtsreichste Kandidat für sowas). Andereseits hätte ich nicht wirklich geglaubt, dass Park mir nochmal dieses Gefühl völliger Überwältigung, ja fast eines Neuanfangs des Kinos geben können würde, das er mir damals mit SYMPATHY FOR MR. VENGEANCE versetzt hatte, als ich durch den großartigen, aber doch ungleich konventioneller gelagerten JOINT SECURITY AREA noch nicht im Ansatz darauf vorbereitet war, was für ein Hammer mich da erwarten würde. Diesmal aber dachte ich, durch MR. VENGEANCE und OLD BOY (den ich toll finde, der mich aber nicht dermaßen umgehauen hatte) eingermaßen gewappnet zu sein.
Denkste.
LADY VENGEANCE ist nochmal ein ganz anderes Level; das ist von Parks Umgang mit filmischem Erzählen her seine bisherigen Hochseilakte noch um Jonglagen rückwärts auf dem Einrad im Kopfstand erweitert. Ohne, dass es schwierig wirkte.
Das aber ist es, was ich an Park allgemein und diesem Film speziell so unglaublich und umwerfend finde: Er nimmt sehr einfache Geschichten (hier vom Rachefeldzug einer - zu Unrecht - wegen Kindesentführung und -mord inhaftierten jungen Frau) und erzählt sie auf Weisen, die neu definieren, wie Kinonarration funktioniert und was man mit ihr anstellen kann. Und das trotz aller formalen Innovation und Experimentation nie als leeres ästhetisches l'art pour l'art-Spiel, und nie nach irgendeinem bloß vom Kopf diktierten System.
Es geht ihm um große Themen, und Park ist nicht nur auf verquere Weise ein bedeutender Kino-Humanist, er ist der vielleicht stärkste Empath, den das Medium derzeit weltweit hat: LADY VENGEANCE dreht sich nicht nur um Rache, um die Frage nach Selbstjustiz und nach Vergebung. Expliziter noch als in den beiden vorangegangenen Teilen der Rache-Trilogie steht im Hintergrund auch die Frage danach, ob es irgendeine höhere, sprich religiös-metaphysische Instanz gibt in diesem Kosmos, bei der sich der Mensch seines Tuns vergewissern könnte. Und ob, so oder so, Geborgenheit zwischen den Menschen möglich ist - wobei dabei in diesem Film erstmals das Thema Familie (und Mutterschaft) im Vordergrund steht.
Gewalt ist in Parks Filmen so wichtig, weil sie Schmerz und Leid schafft (und oft auch daraus entsteht), und das Mit-Leid die entscheidenste Komponente seiner Kunst ist.
Ich wüsste derzeit niemand, der formale Innovation und Experimentierfreude nicht nur mit solcher Virtuosität, eleganten "Musikalität" und Schönheit verbände, sondern bei dem sie auch noch so im Dienst einer eigenen, profunden (aber sich stetig tastend weiterentwickelnden) Weltsicht, einer Auseinandersetzung mit solch fundamentalen Themen stünden UND der bei alldem auch noch so emotional zu Werke geht - der Kino nie mit einem rationalen Medium, einer Dozier- und Diskutieranstalt verwechselt.
Kann man von Film mehr erwarten? Ich war rückblickend jedenfalls doch ganz froh, dass ich LADY VENGEANCE entgegen meiner ursprünglichen Pläne (die vom oben erwähnten Kartenkontingent-Problem durchkreuzt wurden) erst an einem der letzten Festivaltage gesehen habe.
Es ist ein Film, nachdem mir erstmal eine Weile all die braven Klimmzüge, das hübsche Häkeldeckchen-Handwerk, welche der Rest der filmschaffenden Welt üblicherweise auf der Leinwand veranstaltet, ziemlich klein und unwichtig vorkamen.
Eine Lehre zum Mitnehmen und ein weiteres Argument für die Freuden des soliden Mittelbaus also: Die wirklich großen Filme sind für Festivals eigentlich gar nicht geeignet.

Thomas Willmann

  top
   
 
 
[KINO MÜNCHEN] [FILM AKTUELL] [ARCHIV] [FORUM] [LINKS] [SITEMAP] [HOME]