»Ich liebe es, im Kino zu lügen« |
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Ziegen zeigen Wahrheit |
Von Dunja Bialas
Das Hämmern hört überhaupt nicht mehr auf. Wumm, wumm, wumm, schlagen die Pranken an die verschlossenen Eisentüren. Rebellion der eingesperrten Löwen im kanadischen Safari-Park. Vorher haben wir einen von ihnen gesehen. Seine aschblonde Mähne hing ihm traurig ins Gesicht. Der König der Tiere, ohne Würde, seines Stolzes beraubt.
Jedes Bild im Film des Kanadiers Denis Côté birgt in sich den Skandal. Bestiaire, deutsch »Bestiarium«, ist eine Bildersammlung von exotischen Tieren in der Gefangenschaft. Der Film beginnt im Winter, die Tiere sind in ihre Zellen gesperrt. Klare Anzeichen von Hospitalismus sind erkennbar: die Lamas, die den Zaun entlang streifen, hin und her. Der Kondor, der nur noch einen Flügel hat. Dazu die Zoowärter, die wie Gefängniswächter regungslos vor den Käfigtüren der Tiere verharren. Jedes Bild transportiert genügend Potential, um alle Brigitte Bardots der Welt gegen die Tierhaltung im Safari-Park aufzubringen. Wie aber hat Denis Côté dann überhaupt diesen Film machen können, so ganz ohne versteckte Kamera? Mit, im Gegenteil, sorgfältig kadrierten Bildern, die der Schönheit des Schrecklichen eine Bühne ausgefeilter Ästhetik bereithalten.
Denis Côté ist sichtlich erfreut, als ihm nach der Vorstellung seines Films die empörten Zuschauerreaktionen entgegenfliegen. Es dauert eine ganze Weile, bis er verständlich machen kann: Was hier wie eine Dokumentation skandalöser Zustände in einem nordamerikanischen Tierpark aussieht, ist in Wirklichkeit eine Fiktion über Tierhaltung, aufgeladen mit Interpretationsangeboten an den Zuschauer. »Interpretationsangebote« ist im Fall von Denis Côté allerdings etwas euphemistisch formuliert. Er stellt dem Zuschauer Fallen, und dieser kann gar nicht anders, als in jene hineinzutappen, vom Regisseur gefangen genommen zu werden wie die Tiere im Käfig.
Klar seien die Bilder nicht nur Fake. Klar habe er die Aufnahmen im Zoo gemacht, sie sich von der Zooaufsicht autorisieren lassen. Sie entsprechen also einer »Wahrheit«, einer Wirklichkeit, wie man sie vorfinden kann. Aber – der Ton zu den Bildern sei fast gänzlich im Studio entstanden, so Côté, es ist ein synthetischer Ton, der die Bilder mit der Konnotation »Gefangenschaft« auflädt. Haben wir wirklich gesehen, dass die Pranken der Löwen gegen die verschlossene Eisentür schlagen? Woher nehmen wir die Formulierung, sie seien aufgebracht oder traurig? Die Zoowärter habe er angewiesen, in eine bestimmte Richtung zu gucken, dazu nichts zu tun. Im Montagezusammenhang ergibt dies: sie sind teilnahmslos, unerbittlich, herzlos. »Ich liebe es, im Kino zu lügen«, sagt Côté augenzwinkernd. Mit seinen Lügen wolle er den Zuschauer dazu bringen, das Gesehene zu revidieren, die Aufnahmen als Trugbilder zu erkennen und die eigene Wahrnehmung als Interpretation zu hinterfragen. Darum ging es ihm in diesem Film, und dies ist ihm gelungen. Die Schönheit des Schreckens, die seine Bilder in sich tragen, hätten ein Signal sein können für die Hinterfotzigkeit seines Vorhabens: Zu Beginn des Films sehen wir eine Zeichenklasse, die ein ausgestopftes Reh abzeichnet. Tiere im Gestaltungswillen des Menschen, die Bilder davon. Nichts anderes heißt schließlich »Bestiarium«: das Bild gewordene Tier, mit einer Legende dazu, um das Bild zu verstehen.
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Das Hinterfragen von Bildern zog sich durch viele der Dokumentarfilme, die auf der diesjährigen Berlinale zu sehen waren. Das Hinterfragen von Bildern, oder ganz allgemein: das Hinterfragen.
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No Man’s Zone des Japaners Fujiwara Toshi durchmisst die Sperrzone um Fukushima. Der Film beginnt am Meer, zeigt die Zerstörung des Ortes durch den Tsunami. Hier wurde nicht aufgeräumt, es wird auch nicht mehr aufgeräumt werden. Unzählige Leichen vermutet der Filmemacher unter den Trümmern, die Tragödie ist offensichtlich. Toshi hat einen Off-Kommentar geschrieben, spricht mit ruhiger, manchmal verebbender Stimme seine Reflexionen aus. Er reist weiter, ins Landesinnere. Wir kommen in Orte, die noch zur Hälfte stehen, die außerhalb der Reichweite des Tsunamis lagen, die nur das Erdbeben abbekommen haben. Toshi unterhält sich mit Menschen, die gekommen sind, um ein paar Sachen aus den noch zur Hälfte stehenden Häusern zu holen. Sie sprechen darüber, wieviel es kosten würde, die Häuser zu renovieren. Die Entschädigung durch die Regierung wird nicht langen. Dennoch: ihr Haus versehen sie mit einem Schild: »Ich bin der Eigentümer dieses Hauses. Nicht abreißen.« Eine Anweisung für den Abrisstrupp, der in wenigen Tagen in den Ort kommen wird, und zerstören wird, was bereits zerstört ist. An anderen Häusern ist zu lesen: »Ich bin der Eigentümer dieses Hauses. Abreißen.«
Toshi nimmt sich viel Zeit für die Menschen, die er antrifft. Es sind nur wenige Begegnungen, die stellvertretend stehen für all die anderen Menschen, die abwesend sind aus den Orten. Toshi schält aus dem Gesprochenen nicht das dramatische Einzelschicksal der Betroffenen; durch die Ruhe und die Art der Fragestellung erhalten die Aussagen der Menschen eine Allgemeingültigkeit, die über das Gesagte hinausgeht. Weiter geht es, weiter weg von Fukushima, an den Rand der evakuierten Zone, in die Region, die erst ganz spät in die Sperrzone kam. Es ist eine ländliche Gegend, es ist Frühling, die Natur steht in voller Blüte. Das Trügerische der Bilder: die Katastrophe ist nun unsichtbar geworden, dabei ist die Radioaktivität um ein Vielfaches höher als in der Region rund um Fukushima. Nur das Wissen darüber kann die Bilder umkehren, kann ihnen das Idyllische nehmen.
No Man’s Zone war einer der drei »Fukushima«-Filme, die auf der Berlinale zu sehen waren. Anders als Nuclear Nation sucht er nicht die Menschen auf und ihre Schicksale, sondern befragt das Verlassene, das von dem vergangenen Leben der Menschen dort zeugt, macht anders als durch die Worte der in Nuclear Nation Befragten den Verlust durch Bilder sichtbar. Durch die Leere der Städte. Durch die Stille der Landschaft. Durch das grelle Zwitschern der Vögel, das überlaute Summen der Insekten in der nicht mehr kultivierten Natur. No Man’s Zone ist ein filmischer Film, einer der auf die Bilder setzt und auf den Ton, Nuclear Nation dazu ist der dokumentarische Film, einer, der Bestandsaufnahmen macht und die Berichte der Menschen sammelt, eine unermessliche Vielzahl an Schicksalen. Auch in No Man’s Zone geht es um das Lügen. In diesem Fall log einem die Natur ins Gesicht. Das Bild auch hier ein trügerisches. Die Katastrophe ist unsichtbar.
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Bilder revidieren, Gehörtes hinterfragen, recherchieren, nachhaken. Dem Gehörten misstrauen, das Gesehene anzweifeln: Romuald Karmakar und Philipp Scheffner, so unterschiedlich ihre Filme sind, interessieren sich für ähnliche Zusammenhänge.
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Scheffner hat in Revision, so heißt sein Film, einen Mordfall rekonstruiert, der sich vor 20 Jahren an der deutsch-polnischen Grenze abspielte. Zwei Rumänen, die mit einem Flüchtlingstross über die grüne Grenze kamen, wurden von Jägern im Morgengrauen erschossen. War es ein Jagdunfall? War es ein Angriff auf die Unerwünschten, auf diejenigen, deren Haus später abgefackelt werden wird? Scheffner trifft die Familie, den Anwalt des einen Angeklagten. Aber ihm geht es nicht wirklich darum, einen Fall wieder aufzurollen. Scheffners Filme haben immer etwas Spekulatives, etwas, das von dem Vorgefundenen ausgehend hinter die Tatsachen blickt. Seine Filme reflektieren die verborgenen Zusammenhänge, revidieren die angebliche Wirklichkeit, um andere Wirklichkeiten anzutreffen. Die dem Althergebrachten etwas entgegenhalten. Wirklichkeit, so erkennen wir bei Scheffner, ist Ansichtssache. Manche sehen nur das, was sie sehen wollen. Andere Blicke aber bringen andere Wirklichkeiten hervor.
Das Hinterfragen ist zentral in dem Film, den Romuald Karmakar im Panorama vorstellte. Angriff auf die Demokratie – Eine Intervention heisst sein Film ganz akademisch. Zehn Frauen und Männer treten in alphabetischer Reihenfolge vor ein Mikrophon und lassen das Stakkato ihrer Gedanken ertönen. Sie sind Teilnehmer eines Symposiums, das im Dezember 2011 in Berlin stattfand über den Zustand unserer Demokratie. Karmakar, der selbst Teilnehmer an diesem Symposium war, hat die Aufnahmen, die die Veranstalter zu Dokumentationszwecken machten, zu einem Film montiert. Ähnlich wie seine Sprechfilme Hamburger Lektionen und Das Himmler-Projekt, steht hier allein das gesprochene Wort, die Sprache und seine Sprecher im Raum. In der Montage hat Karmakar alles Ablenkende herausgeschnitten, das Klatschen, die Zuschauer, das Auf und Ab auf der Bühne durch die Teilnehmer, das Warten zwischen den Beiträgen: volle Konzentration auf den Inhalt. Manche »Interventionen« sind sehr elaboriert und abstrakt, andere sind anschaulich-konkret, immer geht es darum: Was können wir wissen über die Zusammenhänge von Wirtschaft und Gesellschaft? Welchen Aussagen können wir vertrauen? Sind wir nicht schon längst zur Paradoxie des unmündigen Bürgers degradiert worden? Nachfragen, nachfragen, nachfragen!, heißt einer der Appelle der Vortragenden. Karmakar spricht mit dem, was seine Sprache ist: er zeigt den Symposiumsteilnehmern einen Film. Zu sehen ist eine Alpenwiese, Ziegen, die in unterschiedlichen Konstellationen grasen. Ganz vorne hat sich eine auf einem Stückchen Erde niedergelassen. Die Ziegen grasen, die eine liegt. So geht das eine Weile. Dann kommt Bewegung in das Bild: Eine Ziege bewegt sich nach vorne, zuerst zögerlich, dann folgen die anderen Ziegen ihr. Die Bewegung geht zum unteren Bildrand, bis sie verschwindet. Auch die Ziege, die lag, ist ihnen gefolgt, das Bild ist leer. Der Film heißt: »Ralph N. Elliott entdeckte, dass die Bewegung der Märkte allein durch das psychische Verhalten der Marktteilnehmer wiedergegeben wird.« Schöner als Karmaker kann man nicht visualisieren, was sich im Verborgenen abspielt.