63. Berlinale 2013
Eine Krankheit namens Berlinale |
||
Geheimtipp der Berlinale: Das merkwürdige Kätzchen |
»Ich hab' Berlinale« – man sagt das gern, wenn die Leute einen fragen, wie es grad' geht, weil es eigentlich eine präzise Beschreibung liefert. Dann man sagt es so, wie man von einem bösen Virus spricht, der einen grade geschwächt hat. Und tatsächlich: Die Berlinale ist eine Krankheit. Man kommt hier nicht raus, und ist euphorisch und erfüllt, weil man etwas gesehen hat, das man mitnimmt ins gerade begonnene Jahr, das den eigenen Glauben stärkt ans Kino, die Überzeugung, dass anderes wichtiger ist als das immer kurzatmiger werdende Schnaufen, als die Schnappatmung des Kapitalismus, die auch auf einem Filmfestival zu hören ist. Man sieht hier nichts, das die Frage nach dem Sinn des Lebens beantwortet, oder nach dem guten Leben oder wie man es auch nennen will, nichts, das etwas zu dieser Frage zu sagen hat, die doch am Ende die Frage aller Fragen ist in der Kunst. Jedenfalls sieht man nichts, das sie ästhetisch beantwortet.
+ + +
Moral schon, Moralismus noch eher, politische Korrektheiten, biedere Antworten, ja. Aber keine Fragen, keine Irritationen, sehr wenig Neugier. Das ist das eine Symptom dieser Krankheit.
Wir sprechen hier natürlich vom Wettbewerb. Dem Aushängeschild, der Visitenkarte eines Festivals, der Sektion, das sie verortet und und ihren Rang bestimmt im Konzert der anderen.
Ansonsten gab es schon zumindest Ausnahmen, es gab schon solche Filme, die einem etwas zeigten, was man noch nicht hundertfach und besser gesehen hat: Jîn von Reha Erdem etwa, ein großartiger, überaus berührender Film, mit dem die »Generation«-Sektion eröffnet wurde, und der märchenhaft von Politik und einem Land erzählt. Oder Das merkwürdige Kätzchen von Ramon Zürcher, der überraschendste Film der Berlinale (Forum), ein Film, von dem man so gar nichts erwartete, weil er ja noch nicht mal ein Abschlussfilm ist. Das merkwürdige Kätzchen mauserte sich zu »DEM« Geheimtipp schlechthin dieser Berlinale. Dabei profitierte er bestimmt auch davon, dass die Berlinale sonst nicht arg
viel zu bieten hatte.
Es geht um das Wochenende einer Berliner Familie – drei Kinder, Hund und Katze –, und entfaltet das heimliche Ballett des Alltagslebens. Der Film orchestriert das Zusammenspiel seiner Figuren glänzend und mit viel Humor, so wirkt er, als ob die strengen Autorenfilmer der »Berliner Schule« eine Familien-Soap inszenieren würden. Jenny Schily spielt grandios die Hauptrolle: Eine melancholische Mutter, die das ruhige Auge im Hurrikan der Familie
bildet.
Eingereicht wurde der Film, wie man hört, vorbei am derzeitigen dffb-Direktor. Das muss nicht stimmen, wäre auch gute Künstlerlegende – si non e vero e ben trovato. Allemal aber geht zur Zeit gerade die Saat auf, die der seinerzeit so umstrittene Hartmut Bitomsky einst an der dffb gepflanzt hatte.
+ + +
Ein Symptom dieser Krankheit ist Informationsüberfluss, fünf Texte, die man gleichzeitig im Kopf hat, und die sich gegenseitig neutralisieren. Und dazu allgemeine Schreibhemmung. Null Bock. Denn wenn ich hier nichts schreibe während des Festivals, sondern alles nächste Woche nachreiche, im Gegensatz zum manchmal überquellenden Textstrom aus Cannes und Venedig, dann liegt das ja nicht nur an den vielen Menschen und Treffen und Pflichten, die ein Festival zuhause unvergleichbar von dem im Ausland unterscheiden. Es liegt auch daran, dass man hier weniger angeregt wird, dass man nicht schreiben will will will, muss muss muss. Die Berlinale ist eine Krankheit – das heißt auch: Man leidet an Verstopfung.
+ + +
»Ich habe vollstes Vertrauen zu...« – wir wissen: Wenn das die Kanzlerin sagt, dauert es nicht mehr lang bis zum nächsten Rücktritt. Und auch wenn man beides nicht wirklich vergleichen kann, müssen an einigen Orten die Alarmglocken klingeln, wenn der Kulturstaatsminister im Interview erklärt: »Ich stehe zu Dieter Kosslick«. Offenbar ist es nötig, das eigens zu betonen. Und wenn die »BZ« den Satz in der Freitagsausgabe zur Schlagzeile macht, und darunter druckt »Kulturstaatsminister Bernd Neumann verteidigt den in die Kritik geratenen Direktor der Berlinale«, dann heißt das nichts anderes, als: Die Kritik an Kosslick und die Krise der Berlinale hat endlich den Boulevard erreicht.
+ + +
Zigaretten sind reizvoll. Sie sind das für die, die ihnen nicht widerstehen können, sie sind es, weil alles moralisch oder politisch Verbotene sowieso mit erhöhtem Reiz ausgestattet ist, und sie sind es nicht zuletzt, wenn sie im Kino im Mundwinkel eines schönen Mannes oder einer schönen Frau stecken. Wenn sie zum Vorwand dafür werden, dass dieser Mund sich öffnet, dass er sinnliche Rauschwolken ausstößt, sich zu kreisen formt. Oder, wenn das alles zusammen geschieht, und die Zigaretten auch noch zum Anlass einer tollen Geschichte werden. So in diesem Fall: In Elle s'en va von Emmanuelle Bercot spielt Catherine Deneuve Betty, eine Restaurantbesitzerin. Ihr sind die Zigaretten ausgegangen, und so fährt sie los, zuerst nur auf der Suche nach einer Packung, bald aber auch auf der Suche nach deinem neuen Leben. Die Deneuve, immer noch eine der schönsten Frauen des Kinos und bekennende Kettenraucherin spielt diese Betty großartig nuanciert und mit vollem Körpereinsatz – einer weiterer glanzvoller Auftritt dieser großen Diva im Wettbewerb der Berlinale, die sie bereits vor 16 Jahren für ihrer Lebenswerk ausgezeichnet hat.
+ + +
Ein Hund sitzt allein in einer Wohnung. Der Fernseher läuft, und man sieht, wie der Hund auf das Bild aufmerksam wird, hineinblickt. Die Kamera folgt dem Hundeblick auf den Bildschirm. Dort zeigt eine Nachrichtensendung, wie Hunde von Hundefängern gefangen werden, in Käfigen eingepfercht, hingerichtet, die Kadaver entsorgt. Und immer wieder sieht man dem Hund der auf der Mattscheibe die Hunde sieht, mit scheinbar entsetztem Blick – ein bizarrer, absurder Kinoaugenblick, und zugleich ein Schlüsselmoment in diesem Film, in Pardé vom Iraner Jafar Panahi im Wettbewerb, und seine bisher vielleicht politischste Szene. Denn was sieht man wirklich: Man sieht Häscher und Henker im Regierungsauftrag, man sieht Haft und Hinrichtung – also alles das, was ein iranischer Film eigentlich nicht zeigen darf, und dann eben doch, weil es ja nur um Tiere geht.
Jafar Panahi ist inzwischen weltberühmt, aber eigentlich weniger für seine Filme, als dafür, dass gegen ihn vom Mullahregime ein langjähriges Berufsverbot verhängt wurde, das er mit Haft und Schlimmerem bedroht wurde, womöglich bereits Folter hinter sich hat, als er mal eine längere Zeit verschwunden war. In Pardé (»Geschlossener Vorhang«) erzählt er von sich selbst und vom Künstlersein im Iran und auf symbolische indirekte Weise – wie in der erwähnten Hundeszene – wird nichts verschwiegen. Es geht um einen Hund und seinen Herren, einen Filmemacher. Hunde gelten dem Islam als »unrein«, darum ist ihr Besitz verboten. Beide verbarrikadieren sich in einem Haus am Kaspischen Meer, eine junge Frau kommt noch dazu, die sich verstecken muss, weil sie an einer verbotenen Party teilgenommen hat. Diese klaustrophobische Situation wendet sich ins Surreale, als sich Menschen und Hunde als Figuren im Kopf eines Regisseurs entpuppen... Panahi gelingt mit Pardé eine aufregende Verschränkung von Wirklichkeit und Fiktion, und ein hochpolitischer, künstlerisch konsequenter Film, der gewiss bei der Preisverleihung nicht leer ausgehen wird. Trotzdem erntete der Film mehr Respekt, als Enthusiasmus.
+ + +
Wenn die Berlinale, die sich offen als das politischste Filmfestival der Welt vermarktet, am besten ist, dann immer dann, wenn sie Bilder findet wie dieses der Hunde: Wo Filme nicht einfach Botschaften und Ideologien verstärken oder relativieren, wo Aussagen und Thesen verdoppelt werden, sondern wenn sie eine Form finden, die über die bloße These hinausgeht.
Drei weitere Filme dominierten den Wettbewerb an den letzten Tagen: Bruno Dumonts Camille Claudel
1915 über die Bildhauerin und Rodin-Gefährtin und den Moment, als sie ihre Karriere beendete. Eine stille, intensive Betrachtung über eine Künstlerin in der Krise. Danis Tanovic An Episode In the Life of an Iron Picker dreht sich einmal mehr um die Folgen des jugoslawischen Bürgerkriegs: Eine bosnische Roma-Familie lebt vom Schrotthandel. Eines Tages muss die Frau mit Bauchschmerzen ins Hospital. Sie war schwanger, doch das Kind ist tot. Wegen einer
Blutvergiftung muss sie operiert werden, und nun beginnt eine Odyssee, die das paar nach Serbien führt. Tanovic drehte mit Laien, und das merkt man dem Film, an, erst recht weil der Stil des Films halbdokumentarisch ist. Auch problematisch im Hinblick auf sein Thema, aber ungleich eindrucksvoller und intensiver in seiner Inszenierung ist der erste Film aus Kasachstan, der es je in den Berlinale-Wettbewerb geschafft hat: Harmony Lessons von Emir Balgazin
handelt von einem Außenseiter, der in der Schule gehänselt wird, und seinem spannungsvollen Verhältnis zu seinem Mitschüler Borat, einem jugendlichen Mafioso und Anstifter der Hänseleien. Ein harter Film, in dem Regisseur Balgazin offen die Brutalität des kasachischen Alltags zeigt, zugleich stilisiert in einer Form, die von fern an den ähnlich ästhetisierenden Umgang südkoreanischer Filme mit Gewalt erinnert. Und einer der ernsthaften Kandidaten auf den »Goldenen Bären«, der
heute Abend von der Jury von Wong Kar-wai und unter anderem Andreas Dresen vergeben wird.
+ + +
Favorisiert für die Preise scheinen nun neben dem erwähnten Kasachen der chilenische Film Gloria, der Catherine Deneuves Abenteuer insofern ähnelt, als das auch hier eine nicht mehr junge, aber überraschend jung gebliebene und blendend aussehende Frau versucht, ihr Leben nochmal neu anzufangen. Und der rumänische Film Mutter & Sohn von Calin Peter Netzer: Auch hier bringt ein Autounfall eine Kettenreaktion in Gang, einen unaufhaltsamen Strom von Ereignissen. Eine Mutter aus der Oberschicht versucht mit allen unmoralischen Mitteln und viel viel Geld, ihren Sohn aus der drohenden Gefängnishaft zu befreien. Ein intensiv gespielter, dynamischer Film über die moralische Verfassung der Gesellschaft und den unmoralischen Zustand von Justiz und Polizei. Im Zentrum steht aber die Übermutter, die ihren längst erwachsenen Sohn aus einer Zwangslage herauszupauken versucht. Wegen solcher Figuren, die durch ähnliche in den Nebenreihen ergänzt werden – etwa eine dominante argentinische Mama im Forumsfilm La paz, der ihr Sohn erst entkommt, als er am Ende ins Andenhochland Boliviens zieht –, spricht Berlinale-Boss Dieter Kosslick diesmal von einer »Berlinale der Frauen«. Auf den Preis der »besten Darstellerin« darf man daher besonders gespannt sein: Wird Nina Hoss für die Hauptrolle im deutschen Western Gold ihren zweiten Silberbär gewinnen? Oder die Südafrikanerin Rayna Campbell als Layla Fourie in Pia Marais' gleichnamigem Psychothriller? Nicht ohne Preis ausgehen wird jedenfalls die überkandidelt stilisierte, aber auch »typisch österreichisch« sarkastische Farce Paradies: Hoffnung, in der Ulrich Seidl bei der Darstellung eines fetten Teenagergirls im Diätcamp alle Register aus Ästhetizismus und Menschenverachtung zieht. Und sonst? Lassen wir uns überraschen. Wie bei den deutschen Filmen Thomas Arslans und Pia Marais' gelten für diese Preisentscheidung zwei Berlinale-Bauernregeln: Nichts ist, wie es scheint. Und: Es ist nicht alles Gold, was glänzt.
+ + +
Dazu kommt die ehernste Berlinale-Bauern-Regel, die in 10 der letzten zwölf Jahre komplett Bestand hatte, und die immer zumindest zur Hälfte galt: Es gewinnen nur Filme, die an den ersten fünf Tagen in der frühesten Pressevorführung laufen. Also: In the Name of von Malgoska Szumowska, A Long And Happy Life von Boris Khlebnikow, Gloria von Sebastian Lelio, Mutter & Sohn von Calin Peter Netzer und Pardé von Jafar Panahi. Mein persönlicher Tipp: Am Ende wird’s der Rumäne.