02.07.2013
30. Filmfest München 2013

Filmtipps für jeden Tag

Finsterworld
Sandra Hüller, wie ein Mädchen von Boticelli und zugleich Maya Deren, die in Meshes of the Afternoon aus dem Fenster blickt. Finsterworld ist voller Anspielungen und Doppelbödigkeiten
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.)

Filmtipps zum 31. Filmfest München 2013 von der Redaktion

Von artechock-Redaktion

Stein der Geduld (Atiq Rahimi)

Atiq Rahimi hat es tatsäch­lich geschafft seine eigene verdich­tete und poetische Prosa in eine mehr als ange­mes­sene Film­sprache zu über­tragen. Und dabei ein Thema sehens­wert gemacht zu haben, das auf den ersten Blick spröde, anstren­gend und übermäßig politisch korrekt daher­kommt: der Monolog einer afgha­ni­schen Frau, der es erst in dem Moment gelingt von sich, ihrem Leben und ihrer Beziehung zu erzählen, als ihr Mann durch einen Genick­schuss zu einem tempo­rären, im Koma liegenden Pfle­ge­fall geworden ist. Bewegend und mit der wunder­baren Gols­hifteh Farahani in der Haupt­rolle atem­be­rau­bend treffend besetzt. – Axel Timo Purr
(Sa., 06.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 3)

Stories We Tell (Sarah Polley)

Ein Film, den man nicht oft genug empfehlen kann. Ein Film, der nicht nur beim Sehen, sondern auch im Nach­hinein eine wunder­bare, sugges­tive Wirkung entfaltet, über den zu reden man kann nicht aufhören möchte: denn Familie sind wir schließ­lich alle und das mit jedem neuen Blick­winkel, jedem neuen Erzähler eine neue Fami­li­en­ge­schichte entsteht wird nur allzuoft vergessen und wenige erinnern daran. Sarah Polley ist eine, Atom Egoyan, mit dem sie oft zusam­men­ge­ar­beitet hat, ein anderer. – Axel Timo Purr
(Fr., 05.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 1)

Blan­ca­nieves (Pablo Berger)

Schnee­witt­chen in der Stier­kampf­arena. Das Grimm'sche Märchen verlegt ins Spanien der 1910er und ‘20er Jahre. Der Vater ein König der Toreros, der nach einem Stier­kampf an den Rollstuhl gefesselt ist, die Mutter eine engels­gleiche Sängerin, die bei der Geburt stirbt, steht der kleinen Carmen­chita ein schweres Schicksal bevor – komplett mit sadis­ti­scher Stief­mutter, teuf­li­schen Stieren, Zwergen und einem vergif­teten Apfel. Verfilmt im Stil eines Hollywood-Stumm­films. Eine wilde Mischung, die großartig funk­tio­niert. – Claus Schotten (Do. 4.7. 20:00 Uhr, Rio 2)

A Touch of Sin (Jia Zhang-ke)

Jia Zhang-ke ist ein Chronist des modernen China. Seinen inter­na­tio­nalen Durch­bruch erlebte er mit Platform, der Geschichte einer chine­si­schen Provinz­stadt in den 80er Jahren, als erste westliche und markt­wirt­schaft­liche Einflüsse das Leben der Menschen umkrem­peln. In Still Life berich­tete er von den Zers­törungen, die der Bau des Drei-Schluchten-Staudamms in den Menschen hinter­läßt. In A Touch of Sin ist das moderne China schon allge­gen­wärtig: Die Manager fahren westliche Luxus­autos oder schweben im Privatjet auf dem frisch-gebauten Flughafen ein. Moderne Hoch­haus­sied­lungen, Super­schnell­züge, riesige Fabriken und Luxus­ho­tels für die (männ­li­chen) Touristen aus Hongkong und Taiwan bestimmen das Bild. Aber die Moral ist zerstört. Die Menschen wissen sich nur noch durch Mord und Totschlag zu helfen. Die vier Episoden basieren auf realen Vorfällen, die in den letzten Jahren Schlag­zeilen machten. – Claus Schotten
(Do. 4.7. 22:30 Uhr Münchner Freiheit 1)

Everyday (Michael Winter­bottom)

Alltags­be­ob­ach­tung vom Feinsten, Fund­s­tücke von Zärt­lich­keit selbst in den unan­ge­nehmsten Grauzonen und eine Authen­zität, die nur selten durch musik­un­ter­malte Blicke aufs Meer gebrochen wird. Michael Winter­bottom hat für seinen Film über das Gefäng­nis­system in England die semi-doku­men­ta­ri­sche Form gewählt und über einen Zeitraum von fünf Jahren seine Prot­ago­nisten begleitet. Leben, um zu vergehen – und zu vergeben. – Axel Timo Purr
(Mi., 03.07., 12:30 Uhr, City 2; Do., 04.07., 15.00 Uhr Münchner Freiheit 1)

Stiller Sommer (Nana Neul)

Ein sommer­li­cher Bezie­hungs­reigen der Gene­ra­tionen in der Ardeche. Wer bisher glaubte, das können nur die Franzosen, sollte sich Nana Neuls Stiller Sommer ansehen: Eine poetische Kamera, ausge­feilte, glaub­wür­dige Dialoge, nie in die deutsche Klamauk­knautsch­zone abdrif­tender Humor, ein groß­ar­tiges Ensemble und die Erkenntnis, dass nichts so ist, wie es scheint – Axel Timo Purr
(Fr., 05.07., 17:30 Uhr, HFF Kino 1)

Stories We Tell (Sarah Polley)

Sarah Polley ist bekannt als Schau­spie­lerin und Regis­seurin von Spiel­filmen (zuletzt: Take This Waltz). Jetzt hat sie einen Doku­men­tar­film über ihre Familie gemacht. Hat sie wirklich einen Doku­men­tar­film gemacht? Tja, das kann man so oder so sehen. In dem Film lässt sie ihre Fami­li­en­mit­glieder rekon­stru­ieren, ob es sein kann, dass sie von ihrer Mutter als Kuckucksei der Familie aufge­zogen wurde, und speku­lieren, wer ihr Vater sein könnte. Dabei speku­liert sie fleißig selber mit und lässt den Mann, den sie als Kind immer für ihren Vater gehalten hat, einen Erin­ne­rungs­text lesen. Ein tolles Verwirr­spiel über die eigene Herkunft, aber auch über das Erzählen selbst. Never trust her! – Dunja Bialas
(Di., 14:30 Uhr, Atelier 1, Fr., 05.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 1)

Fins­ter­world (Frauke Fins­ter­walder)

Deutsch­land ist ein unge­müt­li­ches Land. Mit einer braunen Vergan­gen­heit. Frauke Fins­ter­walder, bislang Regis­seurin von Doku­men­tar­filmen taucht in ihrem ersten Spielfilm Deutsch­land in ein goldenes Licht und lässt es in eine innere große Dunkel­heit hinein­gleiten. In einer sehr eigen­ar­tigen, dispa­raten und sehr künst­li­chen Erzähl­weise erstellt sie über ein Ensemble von Figuren wie einem Fußpfleger, einer Doku­men­tar­fil­merin, einem Poli­zisten und einer Gruppe von Schul­kin­dern einen Heimat­film in einer Atmo­sphäre zwischen Traum und Alptraum. Die Menschen in Fins­ter­wal­ders Deutsch­land haben Nazi-Deutsch­land nicht vergessen, wie die Indus­tri­ellen, die sich beim Auto­ver­leih ein deutsches Auto verbitten. Irgendwie ist hier alles seltsam verdreht und pervers, wie der Fußpfleger, der die Haut­fetzen seiner betagten Pati­en­tinnen als Würze für seine berühmten Kekse verwendet. Frauke Fins­ter­walder hat ihren eigenen Nachnamen zum Synonym für dieses Alptraum-Land macht, und dabei zu einer Erzähl­weise gefunden, die vers­tö­rend und faszi­nie­rend zugleich ist. – Dunja Bialas
(Di., 02.07., 19:30, Arri; Mi., 03.07., 17:00, HFF Audimaxx; Do., 04.07., 17:30 Uhr, HFF Kino 1)

La grande bellezza (Paolo Sorren­tino)

»Bunga Bunga« tönt es nachts im Rom von Sorren­tino. Jep Gambar­della ist glei­cher­maßen Schrift­steller, Partylöwe, Frau­en­held und Dandy – wobei er aller­dings wegen der vielen nächt­li­chen Partys gar nicht mehr zum Schreiben kommt. Nach­denk­lich geworden, weil er mit seinen 65 Jahren jetzt nun auch nicht mehr der Jüngste ist, beob­achtet er die opulenten Partys, sieht den aufge­don­nerten Frauen in die Tiefe ihrer Falten und weidet sich an dem Reichtum einer geal­terten Jeunesse dorée. Eine bilder­starke Verbeu­gung vor Rom, der eigent­li­chen Heldin des Films, und vor Fellini, dem Schöpfer von La dolce vita. – Dunja Bialas
(Di., 02.07., 19:30, HFF Audimaxx; Do., 04.07., 16:30 Uhr, HFF Audimaxx; Sa., 06.07., 19:30 Uhr, Arri)

Le noir (te) vous va si bien (Jacques Bral)

Jacques Bral hat nicht nur eine Produk­ti­ons­firma mit dem Namen »Film noir«, er ist auch in den 80er Jahren mit seinem program­ma­ti­schen Film noir Polar bekannt geworden. Auch der Titel Le noir (te) vous va si bien ist natürlich eine Anspie­lung auf den Film noir, das krimi­na­lis­ti­sche Genre. Bral, der aus Teheran stammt, erzählt die Geschichte von einem musli­mi­schen Mädchen aus einer Einwan­de­rer­fa­milie, das sich in Paris in einen Barista verliebt, und damit ihren Vater auf den Plan ruft, der die Ehre der Familie retten muss. Jenseits des abseh­baren Plots hat Bral in seiner Geschichte über die Liebe, die Jugend und ihre Träume zu bisweilen sehr zarten und zärt­li­chen Zwischen­tönen gefunden. Der Sound­track von Nathaniel Méchaly lässt dabei die Straßen von Paris in den jazzigen Trom­pe­ten­tönen der Pariser Flaneure baden. C'est très beau et très noir! – Dunja Bialas
(Di., 02.07., 22:00 Uhr, Atelier 1; Do., 04.07., 14:30 Uhr, Münchner Freiheit 4)

Foxfire (Laurent Cantet)

Eine Mädchen­bande macht in den USA der 50er Jahre eine Klein­stadt unsicher. Eine sehr stim­mungs­volle Verfil­mung des gleich­na­migen Romans von Joyce Carol Oates. Passend zum Thema »starke Frauen«. Hier eine ausführ­li­chere Bespre­chung.
(Mi., 03.07., 14:00 Uhr, Atelier 1)

La Danza de la Realidad (Alejandro Jodo­rowsky)

Der Chilene Jodo­rowsky wird gerne auch »Kino-Anarchist« genannt, weil er sich um nichts schert. In seinem ersten Film nach 22 Jahren Abwe­sen­heit (in der Zwischen­zeit hat er ein große Familie bekommen und Comics gezeichnet) geht er den Wurzeln seines Schaffens in seiner Kindheit nach. In seiner Erin­ne­rung hat seine Mutter nur in der Arien­ton­lage gesungen, sein Vater war ein glühender Verehrer von Stalin und machte alles, dass aus dem kleinen Jodo ein harter Mann werde. Regisseur Jodo­rowsky fährt ein Feuerwerk an Ideen und Freaks auf und miss­achtet alle Erzähl­kon­ven­tionen. Ein an Fellini (und Jodo) gemah­nender kraft­voller, wenn auch etwas aus dem Ruder gera­tender Befrei­ungs­schlag. – Dunja Bialas
(Mi., 03.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 3)

Mehr Infor­ma­tionen unter www.filmfest-muenchen.de