30. Filmfest München 2013
Filmtipps für jeden Tag |
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Sandra Hüller, wie ein Mädchen von Boticelli und zugleich Maya Deren, die in Meshes of the Afternoon aus dem Fenster blickt. Finsterworld ist voller Anspielungen und Doppelbödigkeiten | ||
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
Atiq Rahimi hat es tatsächlich geschafft seine eigene verdichtete und poetische Prosa in eine mehr als angemessene Filmsprache zu übertragen. Und dabei ein Thema sehenswert gemacht zu haben, das auf den ersten Blick spröde, anstrengend und übermäßig politisch korrekt daherkommt: der Monolog einer afghanischen Frau, der es erst in dem Moment gelingt von sich, ihrem Leben und ihrer Beziehung zu erzählen, als ihr Mann durch einen Genickschuss zu einem temporären, im Koma liegenden
Pflegefall geworden ist. Bewegend und mit der wunderbaren Golshifteh Farahani in der Hauptrolle atemberaubend treffend besetzt. – Axel Timo Purr
(Sa., 06.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 3)
Ein Film, den man nicht oft genug empfehlen kann. Ein Film, der nicht nur beim Sehen, sondern auch im Nachhinein eine wunderbare, suggestive Wirkung entfaltet, über den zu reden man kann nicht aufhören möchte: denn Familie sind wir schließlich alle und das mit jedem neuen Blickwinkel, jedem neuen Erzähler eine neue Familiengeschichte entsteht wird nur allzuoft vergessen und wenige erinnern daran. Sarah Polley ist eine, Atom Egoyan, mit dem sie oft zusammengearbeitet hat, ein
anderer. – Axel Timo Purr
(Fr., 05.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 1)
Schneewittchen in der Stierkampfarena. Das Grimm'sche Märchen verlegt ins Spanien der 1910er und ‘20er Jahre. Der Vater ein König der Toreros, der nach einem Stierkampf an den Rollstuhl gefesselt ist, die Mutter eine engelsgleiche Sängerin, die bei der Geburt stirbt, steht der kleinen Carmenchita ein schweres Schicksal bevor – komplett mit sadistischer Stiefmutter, teuflischen Stieren, Zwergen und einem vergifteten Apfel. Verfilmt im Stil eines Hollywood-Stummfilms. Eine wilde Mischung, die großartig funktioniert. – Claus Schotten (Do. 4.7. 20:00 Uhr, Rio 2)
Jia Zhang-ke ist ein Chronist des modernen China. Seinen internationalen Durchbruch erlebte er mit Platform, der Geschichte einer chinesischen Provinzstadt in den 80er Jahren, als erste westliche und marktwirtschaftliche Einflüsse das Leben der Menschen umkrempeln. In Still Life berichtete er von den Zerstörungen, die der Bau des Drei-Schluchten-Staudamms in
den Menschen hinterläßt. In A Touch of Sin ist das moderne China schon allgegenwärtig: Die Manager fahren westliche Luxusautos oder schweben im Privatjet auf dem frisch-gebauten Flughafen ein. Moderne Hochhaussiedlungen, Superschnellzüge, riesige Fabriken und Luxushotels für die (männlichen) Touristen aus Hongkong und Taiwan bestimmen das Bild. Aber die Moral ist zerstört. Die Menschen
wissen sich nur noch durch Mord und Totschlag zu helfen. Die vier Episoden basieren auf realen Vorfällen, die in den letzten Jahren Schlagzeilen machten. – Claus Schotten
(Do. 4.7. 22:30 Uhr Münchner Freiheit 1)
Alltagsbeobachtung vom Feinsten, Fundstücke von Zärtlichkeit selbst in den unangenehmsten Grauzonen und eine Authenzität, die nur selten durch musikuntermalte Blicke aufs Meer gebrochen wird. Michael Winterbottom hat für seinen Film über das Gefängnissystem in England die semi-dokumentarische Form gewählt und über einen Zeitraum von fünf Jahren seine Protagonisten begleitet. Leben, um zu vergehen – und zu vergeben. – Axel Timo
Purr
(Mi., 03.07., 12:30 Uhr, City 2; Do., 04.07., 15.00 Uhr Münchner Freiheit 1)
Ein sommerlicher Beziehungsreigen der Generationen in der Ardeche. Wer bisher glaubte, das können nur die Franzosen, sollte sich Nana Neuls Stiller Sommer ansehen: Eine poetische Kamera, ausgefeilte, glaubwürdige Dialoge, nie in die deutsche Klamaukknautschzone abdriftender Humor, ein großartiges Ensemble und die Erkenntnis, dass nichts so ist, wie es scheint – Axel Timo
Purr
(Fr., 05.07., 17:30 Uhr, HFF Kino 1)
Sarah Polley ist bekannt als Schauspielerin und Regisseurin von Spielfilmen (zuletzt: Take This Waltz). Jetzt hat sie einen Dokumentarfilm über ihre Familie gemacht. Hat sie wirklich einen Dokumentarfilm gemacht? Tja, das kann man so oder so sehen. In dem Film lässt sie ihre Familienmitglieder rekonstruieren, ob es sein kann, dass sie von ihrer Mutter als Kuckucksei der Familie
aufgezogen wurde, und spekulieren, wer ihr Vater sein könnte. Dabei spekuliert sie fleißig selber mit und lässt den Mann, den sie als Kind immer für ihren Vater gehalten hat, einen Erinnerungstext lesen. Ein tolles Verwirrspiel über die eigene Herkunft, aber auch über das Erzählen selbst. Never trust her! – Dunja Bialas
(Di., 14:30 Uhr, Atelier 1, Fr., 05.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 1)
Deutschland ist ein ungemütliches Land. Mit einer braunen Vergangenheit. Frauke Finsterwalder, bislang Regisseurin von Dokumentarfilmen taucht in ihrem ersten Spielfilm Deutschland in ein goldenes Licht und lässt es in eine innere große Dunkelheit hineingleiten. In einer sehr eigenartigen, disparaten und sehr künstlichen Erzählweise erstellt sie über ein Ensemble von Figuren wie einem Fußpfleger, einer Dokumentarfilmerin, einem Polizisten und einer Gruppe von
Schulkindern einen Heimatfilm in einer Atmosphäre zwischen Traum und Alptraum. Die Menschen in Finsterwalders Deutschland haben Nazi-Deutschland nicht vergessen, wie die Industriellen, die sich beim Autoverleih ein deutsches Auto verbitten. Irgendwie ist hier alles seltsam verdreht und pervers, wie der Fußpfleger, der die Hautfetzen seiner betagten Patientinnen als Würze für seine berühmten Kekse verwendet. Frauke Finsterwalder hat ihren eigenen Nachnamen zum Synonym für
dieses Alptraum-Land macht, und dabei zu einer Erzählweise gefunden, die verstörend und faszinierend zugleich ist. – Dunja Bialas
(Di., 02.07., 19:30, Arri; Mi., 03.07., 17:00, HFF Audimaxx; Do., 04.07., 17:30 Uhr, HFF Kino 1)
»Bunga Bunga« tönt es nachts im Rom von Sorrentino. Jep Gambardella ist gleichermaßen Schriftsteller, Partylöwe, Frauenheld und Dandy – wobei er allerdings wegen der vielen nächtlichen Partys gar nicht mehr zum Schreiben kommt. Nachdenklich geworden, weil er mit seinen 65 Jahren jetzt nun auch nicht mehr der Jüngste ist, beobachtet er die opulenten Partys, sieht den aufgedonnerten Frauen in die Tiefe ihrer Falten und weidet sich an dem Reichtum einer gealterten Jeunesse
dorée. Eine bilderstarke Verbeugung vor Rom, der eigentlichen Heldin des Films, und vor Fellini, dem Schöpfer von La dolce vita. – Dunja Bialas
(Di., 02.07., 19:30, HFF Audimaxx; Do., 04.07., 16:30 Uhr, HFF Audimaxx; Sa., 06.07., 19:30 Uhr, Arri)
Jacques Bral hat nicht nur eine Produktionsfirma mit dem Namen »Film noir«, er ist auch in den 80er Jahren mit seinem programmatischen Film noir Polar bekannt geworden. Auch der Titel Le noir (te) vous va si bien ist natürlich eine Anspielung auf den Film noir, das kriminalistische Genre. Bral, der aus Teheran stammt, erzählt die Geschichte von einem muslimischen
Mädchen aus einer Einwandererfamilie, das sich in Paris in einen Barista verliebt, und damit ihren Vater auf den Plan ruft, der die Ehre der Familie retten muss. Jenseits des absehbaren Plots hat Bral in seiner Geschichte über die Liebe, die Jugend und ihre Träume zu bisweilen sehr zarten und zärtlichen Zwischentönen gefunden. Der Soundtrack von Nathaniel Méchaly lässt dabei die Straßen von Paris in den jazzigen Trompetentönen der Pariser Flaneure baden. C'est très beau et très
noir! – Dunja Bialas
(Di., 02.07., 22:00 Uhr, Atelier 1; Do., 04.07., 14:30 Uhr, Münchner Freiheit 4)
Eine Mädchenbande macht in den USA der 50er Jahre eine Kleinstadt unsicher. Eine sehr stimmungsvolle Verfilmung des gleichnamigen Romans von Joyce Carol Oates. Passend zum Thema »starke Frauen«. Hier eine ausführlichere Besprechung.
(Mi., 03.07., 14:00 Uhr, Atelier 1)
Der Chilene Jodorowsky wird gerne auch »Kino-Anarchist« genannt, weil er sich um nichts schert. In seinem ersten Film nach 22 Jahren Abwesenheit (in der Zwischenzeit hat er ein große Familie bekommen und Comics gezeichnet) geht er den Wurzeln seines Schaffens in seiner Kindheit nach. In seiner Erinnerung hat seine Mutter nur in der Arientonlage gesungen, sein Vater war ein glühender Verehrer von Stalin und machte alles, dass aus dem kleinen Jodo ein harter Mann werde. Regisseur
Jodorowsky fährt ein Feuerwerk an Ideen und Freaks auf und missachtet alle Erzählkonventionen. Ein an Fellini (und Jodo) gemahnender kraftvoller, wenn auch etwas aus dem Ruder geratender Befreiungsschlag. – Dunja Bialas
(Mi., 03.07., 15:00 Uhr, Münchner Freiheit 3)
Mehr Informationen unter www.filmfest-muenchen.de