20.02.2014
64. Berlinale 2014

Genre gewinnt

Das finstere Tal
Highlight der Highlights:
Das finstere Tal von Thomas Willmann, nein, Andreas Prochaska
(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH)

Jeden Tag ein Highlight: Filmische Perlen der 64. Berlinale

Von Gregor Torinus

Tag #1: '71 (Wett­be­werb)

Gleich der erste Tag nach der Premiere wartet mit einer großen Über­ra­schung auf. Der britische Kriegs­film '71 entpuppt sich als klarer Tages­fa­vorit. Der Film behandelt den Nord­ir­land­kon­flikt im Jahre 1971. Junge und noch uner­fah­renen britische Soldaten werden nach Belfast geschickt, wo die Lage selbst nach offi­zi­eller Einschät­zung mitt­ler­weile unüber­sicht­lich geworden ist. Die IRA kämpft gegen die briti­schen Besatzer. Belfast selbst ist zwei­ge­teilt in sich bekämp­fende katho­li­sche und protes­tan­ti­sche Iren. Innerhalb der IRA gibt es Macht­kämpfe zwischen der alten Führung und den jungen Wilden. Einige IRA-Mitglieder führen ein doppeltes, wenn nicht sogar ein drei­fa­ches Spiel und liefern heimlich Infor­ma­tionen an die Briten. Am Ende kämpft jeder für seinen eigenen Macht­zu­wachs und gegen alle anderen. In diesem Pulver­fass gehen zwei der jungen briti­schen Soldaten während einer Straßen­durch­su­chung verloren. Einer wird von jungen Iren erschossen, während der zweite in den Gässchen und Hinter­höfen der Stadt um sein Überleben rennt.

Der Nord­ir­land­kon­flikt gehört zu den Themen, die bereits so oft in den Medien behandelt wurden, dass man nicht unbedingt damit rechnet, dass ein neuer Film dem Thema noch wesent­liche neue Facetten abringen könnte. Doch '71 gelingt genau dies, in dem der Film wie ein Brennglas die wahre Komple­xität des Konflikts anhand eines sehr kleinen, aber sehr deutlich gezeigten Ausschnitts, erfahrbar macht. '71 wirkt zudem extrem realis­tisch. Dies gelingt durch die Kombi­na­tion der durch­ge­hend über­zeu­genden Darsteller mit einer fast doku­men­ta­ri­schen Bildäs­thetik. Zu den gestal­te­ri­schen Höhe­punkten des Films gehören die Szenen, welche die mit extremen Gefah­ren­si­tua­tionen verbun­dene Panik erfahrbar machen. Die blitz­artig herum­schwen­kende Kamera spiegelt die reale Einschrän­kung der Erfassung der Umgebung unter einem extremen Adre­na­lin­stoß. Ein pumpender Beat macht das Herzrasen beim Flüchten durch das Straßen­la­by­rinth der Stadt erfahrbar. Nie war der Zuschauer dichter an den Prot­ago­nisten und an dem Geschehen dran. Hier hat jeder schmut­zige Hände und egal, wie eine Ausein­an­der­set­zung konkret ausgeht, gibt es am Ende nur Verlierer.

Tag #2: Das finstere Tal (Berlinale Special)

Auch der erste Berlinale-Samstag hat eine gehörige Über­ra­schung parat. Die deutsch-öster­rei­chi­sche Kopro­duk­tion Das finstere Tal ist nicht nur eines der äußerst raren Beispiele eines gelun­genen deutsch­spra­chigen Genre­films, sondern ausge­rechnet auch noch ein richtiger Western. Der Film des Öster­rei­chers Andreas Prochaska spielt im 19. Jahr­hun­dert in einem winzigen abge­le­genen Dorf in den Alpen. Dort erscheint eines Tages ein Fremder (Sam Riley), der sich Greider nennt und sagt, dass er Ameri­kaner und Fotograf sei und ein Quartier für den Winter suche. Doch über der Gemeinde herrscht der Brenner-Bauer mit seinen sechs Söhnen, die den Fremdem zuerst gleich wieder wegjagen wollen. Erst als Greider ihnen einen Sack voll Gold über­reicht weisen sie im das Haus der Gader-Witwe und deren jungen Tochter Luzi (Paula Beer) zu. Letztere rät Greider den Ort zu verlassen, bevor es zu scheinen anfängt, da er ansonsten nicht mehr vor Winter­ende wegkomme. Doch Greider bleibt auch als es stark zu schneien anfängt. Als kurz hinter­ein­ander zwei Brenner-Brüder unter myste­riösen Umständen umkommen, machen sich die verblie­benen vier Brüder auf die Suche nach dem mutmaß­li­chen Mörder.

Das finstere Tal besticht durch seine dichte, düste Atmo­sphäre. Imposante Alpen­pan­oramen und Einstel­lungen mit gewaltig aufra­genden kahlen Baum­gip­feln schaffen in Verbin­dung mit einem pompösen bedroh­li­chen Sound­track eine langsam zuneh­mende Stimmung des drohenden Unheils. Die Dorf­be­wohner erscheinen als eine fast archai­sche Gemein­schaft an einem voll­kommen aus der Zeit gefal­lenen Ort. Als Greider ihnen die ersten Fotos zeigt, staunen diese Menschen fast so, als seinen sie soeben einem Magier begegnet. Der Film verzichtet fast voll­kommen auf konven­tio­nelle Action, sondern baut äußerst langsam, aber äußerst präzise eine diffus-mystische Stimmung der allge­gen­wär­tigen Bedrohung auf, der man sich immer weniger entziehen kann. Selbst als es irgend­wann zu immer weiter zuneh­menden, abrupten Gewalt­aus­brüchen kommt, behält der Film seine ruhige Gangart bei. Der Film vermit­telt eine Gewalt­tä­tig­keit, Rohheit und Kraft, wie man sie hier­zu­lande nur äußerst selten sieht.

Tag #3: Is the Man Who Is Tall Happy? (Panorama)

Michel Gondrys Doku­men­ta­tion Is the Man Who Is Tall Happy? ist eine höchst unge­wöhn­liche Aufzeich­nung eines Gesprächs, das der fran­zö­si­sche Regisseur über einen Zeitraum von vier Jahren mit dem ameri­ka­ni­schen Sprach­wis­sen­schaftler Noam Chomsky geführt hat. Gondry nimmt die Position des inter­es­sierten Laien ein, wodurch er gewis­ser­maßen das Publikum vertritt, während Chomsky die Rolle des Vermitt­lers inter­es­santer Inhalte zukommt. Das Beson­der­heit dieses filmi­schen Expe­ri­ments liegt darin, dass Gondry fast nie spre­chende Köpfe zeigt, sondern von ihm erstellte animierte Zeich­nungen, die das Gesagte begleiten.

So wird Is the Man Who Is Tall Happy? zu einem einma­ligen Dialog zwischen einem Wissen­schaftler und einem Künstler, wobei ein jeder sich in der Sprache ausdrückt, die ihm am meisten entspricht. Einer­seits ist dies ein perfekt passender Ansatz zu den von dem Lingu­is­tiker Chomsky vermit­telten Inhalten, bei denen eine oft in den Bereich der Philo­so­phie hinein­ra­gende Analyse von funda­men­talen Sprach­struk­turen im Mittel­punkt steht. Ande­rer­seits verkom­pli­ziert dieser Ansatz jedoch teilweise auch das Verstehen des Gesagten, da Gondry sich eben nicht darauf beschränkt, die Gedanken Chomskys anhand möglichst passender Bilder zu illus­trieren. Was er illus­triert, ist, wie das von Chomsky Gesagte bei ihm persön­lich ankommt, was oft wilde Asso­zia­tionen und sogar Miss­ver­s­tänd­nisse beinhaltet. Der Sprach­wis­sen­schaftler Chomsky vermit­telt anhand sehr präziser und zugleich leicht­ver­s­tänd­li­cher, weil äußerst bild­li­cher Sprache, seine Gedanken zu Sprach­struk­turen. Der Künstler Gondry visua­li­siert hingegen mit seinen animierten Zeich­nungen sein Vers­tändnis von Chomskys Thesen. Der besondere Reiz der Doku­men­ta­tion liegt in der gegen­sei­tigen Über­la­ge­rung und Durch­drin­gung von illus­triertem Vers­tändnis und von aufgrund von Abwe­sen­heit von Vers­tändnis entste­henden und mit Fantasie aufge­füllten Brüchen in der Paral­le­lität von Wort und Bild.

Tag #4: The Galapagos Affair: Satan Came to Eden (Berlinale Special)

The Galapagos Affair: Satan Came to Eden ist eine unge­wöhn­liche Doku­men­ta­tion über die ersten Siedler auf der kleinen Galapagos-Insel Floreana. Im Jahre 1929 zogen der Arzt und Nietzsche-Anhänger Friedrich Ritter und seine Geliebte Dora Strauch vom pulsie­renden Berlin auf die damals noch fast unbe­kannte und voll­kommen von Menschen unbe­wohnte Galapagos-Insel. Sie waren nicht nur die ober­fläch­liche Geschäf­tig­keit in der deutschen Haupt­stadt leid, sondern von einer allge­meinen Zivi­li­sa­ti­ons­mü­dig­keit erfasst und suchten ein neues Leben in der Einsam­keit und in der Natur. Umso mehr störte es sie, als kurz nach ihnen noch zwei weitere Parteien nach Floreana zogen: Da kam zum einen die boden­s­tän­dige Familie Wittmer, die mit Ritters hoch­tra­benden philo­so­phi­schen Anwand­lungen gar nichts anfangen konnte. Ihnen folgte eine angeb­liche Baronin, die gleich mit zwei jungen Lieb­ha­bern auftauchte und die davon träumte auf der Insel ein Hotel zu errichten. Schnell kam es zu Ausein­an­der­set­zungen zwischen den drei Parteien. Als eines Tages sowohl die Baronin, als auch einer ihrer Geliebten spurlose verschwunden waren, wollte nicht jeder daran glauben, dass diese über­s­türzt abgereist seien...

The Galapagos Affair verbindet geschickt die Schil­de­rung des Lebens von deutschen Auswan­de­rern in der ersten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts mit einer span­nenden Krimi­nal­ge­schichte. Trotz des beträcht­li­chen zeit­li­chen Abstandes ist die Doku­men­ta­tion äußerst lebendig geraten. Dazu trägt stark die Tatsache bei, dass umfang­rei­ches Doku­men­ta­ti­ons­ma­te­rial zu den betref­fenden Personen erhalten ist. So kommen diese in der Regel selbst zu Wort, in dem äußerst bekannte Schau­spieler wie Cate Blanchett, Diane Kruger, Thomas Kret­sch­mann und Sebastian Koch aus deren Tage­büchern und Briefen vorlesen. Zudem wird das Geschehen anhand zahl­rei­cher Fotos und kurzer Film­auf­nahmen lebendig. Zusätz­lich haben die Regis­seure Dayna Goldfine und Dan Geller eine Reihe von Nach­kommen der ersten Siedler und weitere heute auf den Galapagos-Inseln Lebende inter­viewt. Dabei wird eine über die konkreten damaligen Ereig­nisse hinaus­ge­hende Dimension erreicht. Es geht um grund­sätz­liche Fragen wie die, ob man das Glück wirklich an einem konkreten Ort finden kann. Auch wird gefragt, ob es eine ganz bestimmte Insel­men­ta­lität gibt und ob es ein ganz bestimmter Menschen­schlag ist, der solche abge­le­genen Orte als Heimat wählt. Und wie sieht es mit der zweiten Gene­ra­tion aus, die bereits auf solch einer Insel aufge­wachsen ist? Die Antworten sind durch­ge­hend hoch­in­ter­es­sant.

Tag #5: Bai ri yan huo (Black Coal, Thin Ice) (Wett­be­werb)

Der chine­si­sche Wett­be­werbs­bei­trag und hoch­ver­diente Gewinner des Goldenen Bären Bai ri yan huo (Black Coal, Thin Ice) ist ein düsterer Krimi­nal­film, der in einer nord­chi­ne­si­schen Klein­stadt spielt. Im Jahre 1999 werden in über die gesamte Provinz verstreute Fabriken Leichen­teile gefunden. Bei der Festnahme der mutmaß­li­chen Mörder kommt es zu einer Schießerei, bei der zwei Poli­zisten sterben und ein dritter schwer verletzt wird. Der über­le­bende Polizist, Zhang Zili, wird aus dem Dienst entlassen und arbeitet fortan als Wachmann in einer Fabrik. Fünf Jahre später geschehen wieder ähnliche Morde wie damals. Nun nimmt Zhang auf eigene Faust Ermitt­lungen auf. Er entdeckt, dass alle Opfer eine junge Ange­stellte einer Reinigung kannten. Bei seinen Ermitt­lungen verliebt sich Zhang in die geheim­nis­volle Wu Zhizhen. Doch nicht alles ist so, wie es scheint. Und schon bald darauf gerät Zhang in Lebens­ge­fahr...

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Es gibt so manches an dieser 64. Berlinale, bei dem man sich bei halbwegs klarem Verstand nur ungläubig an den Kopf fassen kann. Dass man sich nicht zu schade war, George Clooney und Matt Damon einzu­laden und deren unter­ir­di­schen Klamauk-Film Monuments Men ausge­rechnet im Wett­be­werbs­pro­gramm unter­zu­bringen – und sei es auch nur außer Konkur­renz – ist immerhin noch nach­voll­ziehbar. Aber wieso musste da auch noch die neueste und so über­flüs­sige, wie miss­glückte Version von Die Schöne und das Biest laufen? Für seinen hoch­not­pein­li­chen Auftritt in diesem zucker­bä­cker­süßen Kitsch-Machwerk dürfte sich Vincent Cassel noch vor seinen Urenkeln schämen. Fast zynisch mutet es zudem an, ausge­rechnet dem bereits über 90 Jahre alten Alain Resnais mit einem »Silbernen Bären für einen Spielfilm, der neue Perspek­tiven eröffnet« auszu­zeichnen. Selbst­ver­s­tänd­lich ist es prin­zi­piell sehr begrüßens­wert, dass der Altmeister auch noch im hohen Alter künst­le­risch aktiv ist. Doch seine so dröge, wie unori­gi­nelle neueste Thea­ter­ver­fil­mung Aimer, boire et chanter (Life of Riley) eröffnet ganz sicher­lich keine neuen Perspek­tiven, sondern wirkt viel eher wie das letzte Röcheln eines einstmals großen Mannes...

Mit Black Coal, Thin Ice verhält es sich da so ganz anders. Zum einen ist natürlich bereits die Tatsache an sich hoch erfreu­lich, dass inzwi­schen auch in China gelungene Genre­filme gedreht werden, und von diesen gab es auf der Berlinale gleich mehrere zu sehen. Doch Black Coal, Thin Ice kann auch außerhalb eines spezi­fi­schen Kontextes alleine aufgrund seiner filmi­schen Quali­täten über­zeugen. Das sehr atmo­sphäri­sche Kriminal-Drama verbindet Anklänge an Motive und Ästhetik des film noir und des Giallo mit einer ganz eigenen Sensi­bi­lität, mit welcher der Film das Leben in einer nord­chi­ne­si­schen Klein­stadt einfängt. So bietet Black Coal, Thin Ice zwar durchaus immer wieder die für die zitierten Genres bezeich­nenden hoch­sti­li­sierten Bild­ein­stel­lungen. Doch zugleich ist der Film weit mehr geerdet und besitzt eine sehr sympa­thi­sche Lässig­keit, die spätes­tens in der genialen letzten Bild­se­quenz voll­kommen deutlich wird. Dies ist ein Thriller, der Bestand haben wird und der zugleich den einzigen klaren Trend der dies­jäh­rigen Berlinale verdeut­licht: Sowohl im deutsch­spra­chigen Raum, als auch in China werden neuer­dings (wieder) inter­na­tional konkur­renz­fähige Genre-Filme gedreht.