64. Berlinale 2014
Genre gewinnt |
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Highlight der Highlights: Das finstere Tal von Thomas Willmann, nein, Andreas Prochaska |
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(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH) |
Von Gregor Torinus
Gleich der erste Tag nach der Premiere wartet mit einer großen Überraschung auf. Der britische Kriegsfilm '71 entpuppt sich als klarer Tagesfavorit. Der Film behandelt den Nordirlandkonflikt im Jahre 1971. Junge und noch unerfahrenen britische Soldaten werden nach Belfast geschickt, wo die Lage selbst nach offizieller Einschätzung mittlerweile unübersichtlich geworden ist. Die IRA kämpft gegen die britischen Besatzer. Belfast selbst ist zweigeteilt in sich bekämpfende katholische und protestantische Iren. Innerhalb der IRA gibt es Machtkämpfe zwischen der alten Führung und den jungen Wilden. Einige IRA-Mitglieder führen ein doppeltes, wenn nicht sogar ein dreifaches Spiel und liefern heimlich Informationen an die Briten. Am Ende kämpft jeder für seinen eigenen Machtzuwachs und gegen alle anderen. In diesem Pulverfass gehen zwei der jungen britischen Soldaten während einer Straßendurchsuchung verloren. Einer wird von jungen Iren erschossen, während der zweite in den Gässchen und Hinterhöfen der Stadt um sein Überleben rennt.
Der Nordirlandkonflikt gehört zu den Themen, die bereits so oft in den Medien behandelt wurden, dass man nicht unbedingt damit rechnet, dass ein neuer Film dem Thema noch wesentliche neue Facetten abringen könnte. Doch '71 gelingt genau dies, in dem der Film wie ein Brennglas die wahre Komplexität des Konflikts anhand eines sehr kleinen, aber sehr deutlich gezeigten Ausschnitts, erfahrbar macht. '71 wirkt zudem extrem realistisch. Dies gelingt durch die Kombination der durchgehend überzeugenden Darsteller mit einer fast dokumentarischen Bildästhetik. Zu den gestalterischen Höhepunkten des Films gehören die Szenen, welche die mit extremen Gefahrensituationen verbundene Panik erfahrbar machen. Die blitzartig herumschwenkende Kamera spiegelt die reale Einschränkung der Erfassung der Umgebung unter einem extremen Adrenalinstoß. Ein pumpender Beat macht das Herzrasen beim Flüchten durch das Straßenlabyrinth der Stadt erfahrbar. Nie war der Zuschauer dichter an den Protagonisten und an dem Geschehen dran. Hier hat jeder schmutzige Hände und egal, wie eine Auseinandersetzung konkret ausgeht, gibt es am Ende nur Verlierer.
Auch der erste Berlinale-Samstag hat eine gehörige Überraschung parat. Die deutsch-österreichische Koproduktion Das finstere Tal ist nicht nur eines der äußerst raren Beispiele eines gelungenen deutschsprachigen Genrefilms, sondern ausgerechnet auch noch ein richtiger Western. Der Film des Österreichers Andreas Prochaska spielt im 19. Jahrhundert in einem winzigen abgelegenen Dorf in den Alpen. Dort erscheint eines Tages ein Fremder (Sam Riley), der sich Greider nennt und sagt, dass er Amerikaner und Fotograf sei und ein Quartier für den Winter suche. Doch über der Gemeinde herrscht der Brenner-Bauer mit seinen sechs Söhnen, die den Fremdem zuerst gleich wieder wegjagen wollen. Erst als Greider ihnen einen Sack voll Gold überreicht weisen sie im das Haus der Gader-Witwe und deren jungen Tochter Luzi (Paula Beer) zu. Letztere rät Greider den Ort zu verlassen, bevor es zu scheinen anfängt, da er ansonsten nicht mehr vor Winterende wegkomme. Doch Greider bleibt auch als es stark zu schneien anfängt. Als kurz hintereinander zwei Brenner-Brüder unter mysteriösen Umständen umkommen, machen sich die verbliebenen vier Brüder auf die Suche nach dem mutmaßlichen Mörder.
Das finstere Tal besticht durch seine dichte, düste Atmosphäre. Imposante Alpenpanoramen und Einstellungen mit gewaltig aufragenden kahlen Baumgipfeln schaffen in Verbindung mit einem pompösen bedrohlichen Soundtrack eine langsam zunehmende Stimmung des drohenden Unheils. Die Dorfbewohner erscheinen als eine fast archaische Gemeinschaft an einem vollkommen aus der Zeit gefallenen Ort. Als Greider ihnen die ersten Fotos zeigt, staunen diese Menschen fast so, als seinen sie soeben einem Magier begegnet. Der Film verzichtet fast vollkommen auf konventionelle Action, sondern baut äußerst langsam, aber äußerst präzise eine diffus-mystische Stimmung der allgegenwärtigen Bedrohung auf, der man sich immer weniger entziehen kann. Selbst als es irgendwann zu immer weiter zunehmenden, abrupten Gewaltausbrüchen kommt, behält der Film seine ruhige Gangart bei. Der Film vermittelt eine Gewalttätigkeit, Rohheit und Kraft, wie man sie hierzulande nur äußerst selten sieht.
Michel Gondrys Dokumentation Is the Man Who Is Tall Happy? ist eine höchst ungewöhnliche Aufzeichnung eines Gesprächs, das der französische Regisseur über einen Zeitraum von vier Jahren mit dem amerikanischen Sprachwissenschaftler Noam Chomsky geführt hat. Gondry nimmt die Position des interessierten Laien ein, wodurch er gewissermaßen das Publikum vertritt, während Chomsky die Rolle des Vermittlers interessanter Inhalte zukommt. Das Besonderheit dieses filmischen Experiments liegt darin, dass Gondry fast nie sprechende Köpfe zeigt, sondern von ihm erstellte animierte Zeichnungen, die das Gesagte begleiten.
So wird Is the Man Who Is Tall Happy? zu einem einmaligen Dialog zwischen einem Wissenschaftler und einem Künstler, wobei ein jeder sich in der Sprache ausdrückt, die ihm am meisten entspricht. Einerseits ist dies ein perfekt passender Ansatz zu den von dem Linguistiker Chomsky vermittelten Inhalten, bei denen eine oft in den Bereich der Philosophie hineinragende Analyse von fundamentalen Sprachstrukturen im Mittelpunkt steht. Andererseits verkompliziert dieser Ansatz jedoch teilweise auch das Verstehen des Gesagten, da Gondry sich eben nicht darauf beschränkt, die Gedanken Chomskys anhand möglichst passender Bilder zu illustrieren. Was er illustriert, ist, wie das von Chomsky Gesagte bei ihm persönlich ankommt, was oft wilde Assoziationen und sogar Missverständnisse beinhaltet. Der Sprachwissenschaftler Chomsky vermittelt anhand sehr präziser und zugleich leichtverständlicher, weil äußerst bildlicher Sprache, seine Gedanken zu Sprachstrukturen. Der Künstler Gondry visualisiert hingegen mit seinen animierten Zeichnungen sein Verständnis von Chomskys Thesen. Der besondere Reiz der Dokumentation liegt in der gegenseitigen Überlagerung und Durchdringung von illustriertem Verständnis und von aufgrund von Abwesenheit von Verständnis entstehenden und mit Fantasie aufgefüllten Brüchen in der Parallelität von Wort und Bild.
The Galapagos Affair: Satan Came to Eden ist eine ungewöhnliche Dokumentation über die ersten Siedler auf der kleinen Galapagos-Insel Floreana. Im Jahre 1929 zogen der Arzt und Nietzsche-Anhänger Friedrich Ritter und seine Geliebte Dora Strauch vom pulsierenden Berlin auf die damals noch fast unbekannte und vollkommen von Menschen unbewohnte Galapagos-Insel. Sie waren nicht nur die oberflächliche Geschäftigkeit in der deutschen Hauptstadt leid, sondern von einer allgemeinen Zivilisationsmüdigkeit erfasst und suchten ein neues Leben in der Einsamkeit und in der Natur. Umso mehr störte es sie, als kurz nach ihnen noch zwei weitere Parteien nach Floreana zogen: Da kam zum einen die bodenständige Familie Wittmer, die mit Ritters hochtrabenden philosophischen Anwandlungen gar nichts anfangen konnte. Ihnen folgte eine angebliche Baronin, die gleich mit zwei jungen Liebhabern auftauchte und die davon träumte auf der Insel ein Hotel zu errichten. Schnell kam es zu Auseinandersetzungen zwischen den drei Parteien. Als eines Tages sowohl die Baronin, als auch einer ihrer Geliebten spurlose verschwunden waren, wollte nicht jeder daran glauben, dass diese überstürzt abgereist seien...
The Galapagos Affair verbindet geschickt die Schilderung des Lebens von deutschen Auswanderern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einer spannenden Kriminalgeschichte. Trotz des beträchtlichen zeitlichen Abstandes ist die Dokumentation äußerst lebendig geraten. Dazu trägt stark die Tatsache bei, dass umfangreiches Dokumentationsmaterial zu den betreffenden Personen erhalten ist. So kommen diese in der Regel selbst zu Wort, in dem äußerst bekannte Schauspieler wie Cate Blanchett, Diane Kruger, Thomas Kretschmann und Sebastian Koch aus deren Tagebüchern und Briefen vorlesen. Zudem wird das Geschehen anhand zahlreicher Fotos und kurzer Filmaufnahmen lebendig. Zusätzlich haben die Regisseure Dayna Goldfine und Dan Geller eine Reihe von Nachkommen der ersten Siedler und weitere heute auf den Galapagos-Inseln Lebende interviewt. Dabei wird eine über die konkreten damaligen Ereignisse hinausgehende Dimension erreicht. Es geht um grundsätzliche Fragen wie die, ob man das Glück wirklich an einem konkreten Ort finden kann. Auch wird gefragt, ob es eine ganz bestimmte Inselmentalität gibt und ob es ein ganz bestimmter Menschenschlag ist, der solche abgelegenen Orte als Heimat wählt. Und wie sieht es mit der zweiten Generation aus, die bereits auf solch einer Insel aufgewachsen ist? Die Antworten sind durchgehend hochinteressant.
Der chinesische Wettbewerbsbeitrag und hochverdiente Gewinner des Goldenen Bären Bai ri yan huo (Black Coal, Thin Ice) ist ein düsterer Kriminalfilm, der in einer nordchinesischen Kleinstadt spielt. Im Jahre 1999 werden in über die gesamte Provinz verstreute Fabriken Leichenteile gefunden. Bei der Festnahme der mutmaßlichen Mörder kommt es zu einer Schießerei, bei der zwei Polizisten sterben und ein dritter schwer verletzt wird. Der überlebende Polizist, Zhang Zili, wird aus dem Dienst entlassen und arbeitet fortan als Wachmann in einer Fabrik. Fünf Jahre später geschehen wieder ähnliche Morde wie damals. Nun nimmt Zhang auf eigene Faust Ermittlungen auf. Er entdeckt, dass alle Opfer eine junge Angestellte einer Reinigung kannten. Bei seinen Ermittlungen verliebt sich Zhang in die geheimnisvolle Wu Zhizhen. Doch nicht alles ist so, wie es scheint. Und schon bald darauf gerät Zhang in Lebensgefahr...
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Es gibt so manches an dieser 64. Berlinale, bei dem man sich bei halbwegs klarem Verstand nur ungläubig an den Kopf fassen kann. Dass man sich nicht zu schade war, George Clooney und Matt Damon einzuladen und deren unterirdischen Klamauk-Film Monuments Men ausgerechnet im Wettbewerbsprogramm unterzubringen – und sei es auch nur außer Konkurrenz – ist immerhin noch nachvollziehbar. Aber wieso musste da auch noch die neueste und so überflüssige, wie missglückte Version von Die Schöne und das Biest laufen? Für seinen hochnotpeinlichen Auftritt in diesem zuckerbäckersüßen Kitsch-Machwerk dürfte sich Vincent Cassel noch vor seinen Urenkeln schämen. Fast zynisch mutet es zudem an, ausgerechnet dem bereits über 90 Jahre alten Alain Resnais mit einem »Silbernen Bären für einen Spielfilm, der neue Perspektiven eröffnet« auszuzeichnen. Selbstverständlich ist es prinzipiell sehr begrüßenswert, dass der Altmeister auch noch im hohen Alter künstlerisch aktiv ist. Doch seine so dröge, wie unoriginelle neueste Theaterverfilmung Aimer, boire et chanter (Life of Riley) eröffnet ganz sicherlich keine neuen Perspektiven, sondern wirkt viel eher wie das letzte Röcheln eines einstmals großen Mannes...
Mit Black Coal, Thin Ice verhält es sich da so ganz anders. Zum einen ist natürlich bereits die Tatsache an sich hoch erfreulich, dass inzwischen auch in China gelungene Genrefilme gedreht werden, und von diesen gab es auf der Berlinale gleich mehrere zu sehen. Doch Black Coal, Thin Ice kann auch außerhalb eines spezifischen Kontextes alleine aufgrund seiner filmischen Qualitäten überzeugen. Das sehr atmosphärische Kriminal-Drama verbindet Anklänge an Motive und Ästhetik des film noir und des Giallo mit einer ganz eigenen Sensibilität, mit welcher der Film das Leben in einer nordchinesischen Kleinstadt einfängt. So bietet Black Coal, Thin Ice zwar durchaus immer wieder die für die zitierten Genres bezeichnenden hochstilisierten Bildeinstellungen. Doch zugleich ist der Film weit mehr geerdet und besitzt eine sehr sympathische Lässigkeit, die spätestens in der genialen letzten Bildsequenz vollkommen deutlich wird. Dies ist ein Thriller, der Bestand haben wird und der zugleich den einzigen klaren Trend der diesjährigen Berlinale verdeutlicht: Sowohl im deutschsprachigen Raum, als auch in China werden neuerdings (wieder) international konkurrenzfähige Genre-Filme gedreht.