66. Berlinale 2016
Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen |
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Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen von Tatjana Turanskyj und Marita Neher | ||
(Foto: Grandfilm GmbH) |
Von Dunja Bialas
Bevor ich jetzt gleich meinen Berlinale-Abschlusskommentar loswerde, muss ich unbedingt den Berlinale-Blog von Dietrich Brüggemann erwähnen, der mir gestern den Abend versüßt hat. Wie unfassbar langweilig ist doch bisweilen, was und wie über die Berlinale berichtet wird! Wie vorhersehbar und eintönig! Immerhin konnte ich mich selbst damit überraschen, dass ich den Eröffnungsfilm Hail, Caesar! im Kreise meiner Co-Kritiker mit der Höchstnote versah. Was aber soll ich nur von der Meinung meines Kollegen Joseph halten, der sagte, der Film sei »too entertaining«?
Sehr aufschlussreich finde ich, was mein geschätzter Artechock-Kollege Rüdiger gestern über die Berlinale schrieb: zu viele Filme, sie würde an Fettsucht leiden. Rüdiger ist mittlerweile bei Folge 18 seines Tagebuchs angekommen.
Der absolute Hit ist im Netz derzeit ein Video, das eine Podiumsdiskussion bei der »Woche der Kritik« zum Thema »Zeitgeist« zeigt. Die »Woche der Kritik« ist eine Parallelveranstaltung zur Berlinale, manche sagen auch »Gegen-Berlinale«, die die Unterzeichner des »Flugblatts für aktivistische Filmkritik« im Mai 2014 ausgerufen haben, also meine damaligen Vorstandskollegen vom Verband der deutschen Filmkritik Jennifer Borrmann, Claus Löser, Frédéric Jaeger, Dennis Vetter und auch ich. Inzwischen sind Jenni und Claus nicht mehr im Vorstand, ich selbst habe nur bei der Filmauswahl mitgewirkt, und Frédéric und Dennis ackern wie die Wahnsinnigen. Für jeden Abend haben sie ein Panel mit zwei bis vier Gästen und oft auch zwei Moderatoren organisiert. Am letzten Abend kam mir das wie eine Talkshow vor, ein ketzerischer Gedanke, der sich einschlich, und den ich nicht mehr los wurde. »Anne Will« und »Günther Jauch«, nur in intelligenter. Politisch sollte es auch immer sein, filmpolitisch oder diskurspolitisch. Einmal begann das Podium regelrecht zu schweben, nach dem syrischen Dokumentarfilm Coma von Sara Fattahi und der Diskussion zum Thema »Macht«, einmal wurde es ausgehebelt, durch den sich den theoretischen Überlegungen widersetzenden Philippe Grandrieux, der eindrucksvoll zur Vorführung seines Films Malgré la nuit Körperdiskurs performte. Der momentane Hit ist die letzte Diskussion mit Tatjana Turanskyj und Marita Neher, die Orientierungslosigkeit ist kein Verbrechen vorstellten und über »Zeitgeist« reden sollten. Im Bild zu sehen ist auch, wie sich Podiumsgast Rainer Knepperges auf seinem Hochstuhl windet. Sein unverhohlener Versuch, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken, scheiterte. Brüggemann schreibt in seinem Blog: »Im ›Forum‹ wird nach dem Film geredet. Lang und extensiv. ›Intensiv‹ hieße vertiefend, ›extensiv‹ heißt verlängernd. Filmgespräche sind fast immer extensiv. Allein die Fragen dauern schon irre lang. Und dann erst die Antworten.«
Eigentlich hat mein Kollege Rüdiger recht: die Berlinale muss verlängert werden, und zwar durch extensive Texte. Die Nachwehen des Festivals dauern an. Dem muss entsprochen werden! Mein Woche-der-Kritik-Kollege Dennis Vetter schrieb heute in einer Mail: Rückmeldung bis zum 30. Februar. Wenn man den Monat verlängern könnte, dann könnte man die Berlinale-Tage wieder reinholen, keine schlechte Idee.
Der längste Tag der Berlinale war natürlich der Tag mit dem längsten Film: der Donnerstag, als Lav Diaz' achtstündiges Filmepos A Lullaby to the Sorrowful Mystery gezeigt wurde. Da hat sich keiner mehr eingekriegt. Filmteams hatten sich im Kinosaal mit ihren Kameras aufgebaut, um die merkwürdige Spezies Cineasten zu filmen, die sich so einen langen Film ansahen, und sie gleich nach Filmende zu interviewen: Wie fühlen Sie sich? In den Filmbesprechungen war dann auffallend oft von der Länge des Films zu lesen, und auch, dass er in Schwarzweiß war. Das erinnert mich an meine erste Begegnung mit Lav Diaz 2006 in Fribourg, als ich den achtstündigen Heremias sah. Die Fragen, die man ihm stellte, waren: »Why in black and white? And why so long?«
Für manche Filmkritik zu A Lullaby to the Sorrowful Mystery bin ich aber auch sehr dankbar, wie die von Verena Lueken in der FAZ, die recherchiert hat und Zusammenhänge erklärt. Im Grunde aber ging es mir eher wie Ekkehard Knörer, der in der taz von der Komplexität des Figurenarsenals spricht und der erzählerischen Dichte, in der man herumtastet wie die Figuren im philippinischen Dschungel.
Interessant ist der Werdegang von Lav Diaz. Erfolg hatte er immer schon gehabt. Fribourg war eines der ersten europäischen Festivals, die ihn zeigten, und zu tun hatte das damit, dass die Frau des damaligen Leiters Martial Knaebel von den Philippinen kam. Sein Programm war damals voll mit philippinischen Filmen, nicht so sehr mit denen der jungen Generation, sondern mit den populären, ganz regulär im Kino gezeigten, jenseits der philippinischen digitalen Welle, die damals über die Festivals hereinschwappte.
Lav Diaz hatte in Fribourg das Zimmer neben meinem bezogen und bekämpfte seinen Jetlag mit einem auf Discolautstärke aufgedrehten Fernseher. Kennengelernt haben wir uns, als ich gegen seine Tür wummerte. Heute freut mich sehr, dass in zwei Tagen 1500 Menschen seinen Film gesehen haben, so viele wie vielleicht sonst weltweit in mehreren Jahren. Und der Preis ist natürlich auch sehr schön. Silberner Bär heißt übrigens auf Tagalog: Osong Pilak!