34. Filmfest München 2017
Hangover |
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Nur fünf Minuten Musical: im Programm verstecktes Meisterwerk A Fábrica de Nada von Pedro Pinho | ||
(Foto: Grandfilm GmbH) |
Von Dunja Bialas
Über das Branchenpublikum des Münchner Filmfests wurde an dieser Stelle ja schon geschrieben. Über dessen Ungeduld, über dessen Ignoranz. Der Geldbeutel ist dick und sitzt tief in der Tasche. Das soll so bleiben, deshalb will man in München auch immer die Erfolgsnachrichten. Erfolg heißt Geld, und das Rezept heißt: Wer hat, dem wird gegeben.
Das Filmfest München macht mit seinen drei Kuratoren Florian Borchmeyer, Christoph Gröner und Bernhard Karl ein erstaunlich mutiges Programm. Wenn man zurückdenkt an die Zeit, als Andreas Ströhl noch seine privaten Vorlieben ins Programm hieven konnte, zeigt sich, wie un-weichgespült, auch kompromisslos die Reihen sind außerhalb der deutschen Reihe, die Premieren verlangt. Aber selbst hier konnte man starke Filmsprachen entdecken: RP Kahls A Thought of Ecstasy war ein im Zwischenbereich von Kunst und, ja, nehmen wir das P-Wort in den Mund, Pornographie angesiedelter Fieberfilm, irgendwo zwischen Bruno Dumonts 29 Palms und den Streifen von Eckhart Schmidt, die oft auch etwas Seifiges an sich haben. Der lange Sommer der Theorie von Irene von Alberti gab dazu den Kontrapunkt: Eine flirrende Wort- und Sinnsuche, Utopie einer anderen Existenz, mit dokumentarischen Interview-Momenten und Film im Film, ohne Angst, dass die Figuren zu künstlich sein könnten. Gäbe es einen Kult-Comic über die WGs im Stil der 68er, Der lange Sommer der Theorie wäre seine Verfilmung. Zwei Filme mit zwei unterschiedlichen Gedanken, beide gleichermaßen ideenreich und kompromisslos in ihrer Ausführung. Starkes Kino aus Deutschland, das wachmacht. Und zumindest hier profitiert München vom Tiefschlaf, in dem sich die Berlinale befindet.
Das Münchner Filmfest ist ein Publikumsfest, was erstmal nichts weiter heißt, als dass auf Premieren, die das Programm bisweilen in der Not qualitativ nach unten drücken, verzichtet werden kann. In Teilen aber liest sich das Filmfest-Programm wie die Preview-Reihe der anderen beiden Sommer-Filmfestivals der Region, des Fünf-Seen-Filmfestivals und der Münchner Filmkunstwochen, die dem Publikum vorab Filme der kommenden Saison zeigen. Dass so The Beguiled in einer Filmfest-Pressevorführung wenige Tage vor Kinostart zu sehen war, hat eventuell auch etwas mit der PR-Maschine des Verleihs zu tun. Was dann vielleicht aber auch die Sofia-Coppola-Retro erst möglich gemacht hat. No hard feelings.
Die Frage, die sich nach dem Filmfest wie in einem Moment des Hangover jedoch ergibt, ist, ob das Filmfest nicht die spannenden Ecken seines Programms (absichtlich?) im Dunkeln hält. Zu sehr wird das »Spotlight«, wie eine Filmfest-Reihe heißt (von der hinter vorgehaltener Hand sogar aus dem inner circle abgeraten wird), für die Öffentlichkeit auf die bekannten Namen oder gar Stars gerichtet. Filme ans Licht zu zerren, die man für die Münchner Presse oder das Publikum als eher unbequem einschätzen würde, könnte die Aufgabe einer anderen Art der Pressearbeit sein. So war es mehr oder minder Zufall, in dem umfangreichen Programm ohne Vorrecherche glücksbringende Entdeckungen gemacht zu haben. Und es stellt sich das für das Filmfest durchaus schmeichelhafte Gefühl ein, dass einem wohl viele spannende Filme des Programms durch die Lappen gegangen sind.
Nicht ganz unschuldig ist dabei das Heft, das seit letztem Jahr den Katalog ersetzt. Es bietet ohne Filmographie oder Biographie der Regisseure kaum Orientierung. Für das Filmfest, das zusammenträgt, was woanders schon lief, wäre es ein leichtes, den Ort der Weltpremiere oder die gewonnenen Preise aufzuführen, auch das gäbe zumindest Ahnung, wo die Filme anzusiedeln seien. Über die Inhaltsangaben müssen wir nämlich nicht reden, die sind, mit Verlaub gesagt, inhaltsleer. Teils sind sie falsch, teils irreführend, geben kaum ästhetische Anhaltspunkte. Obwohl sie die Kuratoren laut Impressum selbst verfasst haben.
So verstecken sich dann die Meisterwerke zwischen beschriebenem Papier. Ein Beispiel: A Fábrica de Nada des Portugiesen Pedro Pinho. Der Film ist ein Grenzgänger zwischen Fiktion und Dokumentarfilm, eine Parabel mit Genreanleihen an das Musical und den Politthriller, mit Film-im-Film-Momenten. Übrig blieb im Katalog: ein Musical. Es gibt genau eine einzige kurze Musical-Szene, die ist eine halbe Stunde vor Ende des dreistündigen Films, und ich habe viele gesprochen, die nicht den Mumm hatten, ein derart langes portugiesisches Musical zu riskieren. Dabei gereicht der Film an Miguel Gomes' Aquele Querido Mês de Agosto heran, und er ist einer der reichsten, schönsten und verzweifeltsten Filme zur Finanzkrise mit einem diskursführenden Proletariat. Dieses versucht, eine Fabrik zu retten, die ihre Bestimmung verloren hat: die Fabrik des Nichts. Der Film gewann den Cinevision Award des Filmfests, aber der späte Spieltermin um 22:30 Uhr nach Festivalschluss hat ihm bestimmt kaum noch Zuschauer eingebracht.
Denn natürlich geht es um Zuschauer. Ein Festival in der Größenordnung des Filmfests ist einem gewissen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt, das geht ja jetzt auch auf die kleinen Festivals los. Das ist der Neoliberalismus der Kultur. Das erklärt auch, warum man die Presse nicht auf die fast ungewöhnlichen Kinematographien ansetzt, lieber beim Bewährten, Bekannten bleibt. Die Zuschauer des Festivals wiegen stärker als sein Programm. Und obwohl man es bietet, traut man es dem Zuschauer nicht zu. Das ist die Paradoxie des Filmfests.
Es muss ja auch nicht immer sperrig oder experimentell sein, um gut zu sein. São Jorge des Portugiesen Marco Martins befasste sich ebenfalls mit der Finanzkrise, auf wuchtig-direkte Art des Genre-Kinos. Dessen Hauptdarsteller Nuno Lopes, in Venedig mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet, durchläuft zuerst als Boxer, dann als Schuldeneintreiber eine Tour de Force durch die randständigen Bezirke Lissabons. Die Kamera richtet sich immer wieder auf die architektonischen Labyrinthe der trostlosen und verfallenen Vorstädte. Er ist das Vehikel, das durch die heruntergekommene Sozialität führt, einer, der sich selbst an den Abgrund bringt, und gleichzeitig versucht, seine kaputte Familie wieder zusammenzubringen. Starkes Erzählkino auf hohem filmischen Niveau, das nicht gleichgültig lässt, das man hierzulande jedoch vergebens im Kino erwarten wird. Für portugiesische Filme gibt es eben kein Publikum an den Kinokassen, und schon gar nicht für portugiesisches Genre.
Das Filmfest hat sich als Schule des Sehens versucht, mit der Platzierung von Claire Denis' Un beau soleil intérieur als Eröffnungsfilm. Vielleicht hat man aber auch nur darauf gehofft, mit dem Film Juliette Binoche nach München zu bringen. Am verkaterten Day after (apropos: wie schön, dass Hong Sang-soo so viele Filme dreht, The Day After war nun schon mein dritter in diesem Jahr und wieder einmal reinste Poesie der Wiederholung), am Tag danach also stellt sich der Verdacht ein, dass das Filmfest gar nicht weiß, wie gut sein Programm ist. Sich aus der selbstverschuldeten Dunkelheit herauszuholen, sollte ihm nächstes Jahr einen Versuch wert sein.