12.01.2012

Licht und Schatten

Norwegian Wood von Tran Anh Hung
Der persönlich beste Film 2011:
Norwegian Wood von Tran Anh Hung

Das merkwürdige Filmjahr 2011 und die persönliche Jahresfilm-Liste

Von Rüdiger Suchsland

Wie soll man das Kinojahr 2011 jetzt resü­mieren? Wahr­schein­lich am ehesten so: Licht und Schatten; es war sicher ein durch­wach­senes Jahr, eher schlecht, oder unin­spi­rie­rend, aber es hat dann doch ein paar schöne High­lights gehabt. Selbst im deutschen Kino, auf das man mit guten Gründen schimpfen kann, gab es so einen Genrefilm wie Hell, ein weiteres Debüt Lollipop Monster, einen strengen, aber tollen Autoren­film Im Alter von Ellen von Pia Marais, es gab ein paar sehr gute Doku­men­tar­filme – wenn man an Hoffen­heim – Das Leben ist kein Heimspiel denkt, an Chodor­kowski, an The Green Wave, anstän­dige poli­ti­sche Doku­men­tar­filme. Im inter­na­tio­nalen Kino haben wir zum Beispiel einen neuen Godard gesehen, der endlich mal wieder auch nach Deutsch­land kam: Film Socia­lisme. Zugleich ist es natürlich ein sehr trauriges Jahr gewesen, wo wir einige herbe Verluste zu beklagen hatten – zual­ler­erst muss man da an Michael Althen erinnern, den sehr geschätzten Kollegen, Redakteur und Freund, Film­kri­tiker bei der »Frank­furter Allge­meinen« und früher der »Süddeut­schen«. Dem Kino verloren gingen auch Sidney Lumet, Elizabeth Taylor, Bernd Eichinger – das sind Verluste, die weh tun in diesem Jahr.

+ + +

Unter den Filmen, die in Deutsch­land im Kino gestartet sind, war der für mich persön­lich aller­schönste schönste Film ein Film aus Japan und Vietnam, Norwegian Wood – eine Verfil­mung des Murakami-Romans, den wir unter dem Titel »Naokos Lächeln« kennen.
Sehr stark war dieses Jahr wieder das fran­zö­si­sche Kino gleich mit einer ganzen Reihe von Filmen. Man denke an Potiche, in dem Catherine Deneuve einen fabel­haften Auftritt hat – ein sehr lustiger Film. Überhaupt kommen aus Frank­reich zur Zeit gute Komödien. Auch wenn man an Der Name der Leute denkt – das war ein Über­ra­schungshit in Frank­reich, der im Frühjahr bei uns gestartet ist. Nach­haltig blieb dieser Film in Erin­ne­rung, der auf alle mürbe gewor­denen Gesten verzichtet, und mit »bedeu­tenden« Inhalten frech umgeht, der sie scheinbar bana­li­siert, um ihrer überhaupt erst wieder habhaft zu werden: In Michel Leclercs viel­schich­tiger Komödie geht es um Einsam­keit und mora­li­sche Inte­grität, um Armut und Amoral, um Identität und die Shoah. Die Botschaft lautet: »Scheiß auf die Wurzeln!«; der Humor ist genial, direkt, ohne je vulgär zu werden, aber wenn die jüdischen Großel­tern manchmal plötzlich mitten in einer Szene auftau­chen, die unter deutscher Besatzung Opfer der Verfol­gung wurden, können einem im Kino die Tränen kommen – gerade weil der Film sie nicht zwingend nahelegt. So etwas, das Gegenteil von allem »Holo­kitsch« ist wohl nur in Frank­reich möglich – leider! Was Der Name der Leute über sich selbst hinaus auch lehrt, ist, Gefühle nicht zu verwech­seln mit Senti­men­ta­lität. Es gibt nicht nur falsche und richtige Gefühle, es gibt auch einen richtigen Umgang mit ihnen.

Schließ­lich Yuki & Nina über zwei Zwölf­jäh­rige, der sehr humorvoll, aller­dings dann auch sehr ernst von zwei Freun­dinnen erzählt. Die eine hat eine japa­ni­sche Mutter und soll zurück nach Japan. Es geht also um Trennung, Abschied, ernst­hafte Themen. Ganz groß­ar­tige Filme waren sicher­lich der Sieger der Goldenen Palme in Cannes: The Tree of Life von Terence Malick. Sowie Melan­cholia von Lars von Trier. Und der Berlinale-Sieger Nader und Simin. Das europäi­sche Kino war auch oft enttäu­schend, wenn man an Kauris­mäki denkt, an Mike Leigh, Paolo Sorren­tino.

Redun­danz­pflege. Über den deutschen Film kann man dagegen leider nicht viel Gutes sagen. Der deutsche Film ist so schlecht wie lange nicht. Wenn man einen Film wie Hotel Lux nimmt: Leander Hausmann hat da immerhin wirklich mal etwas Riskantes probiert: Einen Film zu machen, der so ein bisschen den scharfen, erwach­senen Witz eines Billy Wilder oder Ernst Lubitsch erinnert. Und dann aber Bully Herbig, der sich offen­kundig mit Haussman gestritten hat, nicht die Größe besaß, sich einmal auf eine Vision einzu­lassen, die nicht die eigene ist – der hat diesen Film kaputt­ge­macht. Heraus kam ein weich­ge­spülter feiger Zwitter. Und das war nicht Leander Hausmanns Schuld. Auch Matthias Schweig­höfer ist jemand, der jetzt mit What a Man einen unver­dienten Erfolg hingelegt hat. Jetzt will er, wie alle in den Fußstapfen von Til Schweiger marschieren. Aber Schweig­höfer hat keine irgendwie beson­deren Fähig­keiten als Regisseur. Diese ganzen daher­ge­lau­fenen deutschen Komödien, die sind eigent­lich mehr Klamotten, eine Mode, da hat das Kino sich sehr von seinen Ursprüngen entfernt, die ja mal skurrile Komödien waren. Gleich­zeitig haben wir eine inter­na­tio­nale Bedeu­tungs­lo­sig­keit des deutschen Films, die so stark ist wie auch lange nicht. Kein einziges A-Festival mit einem deutschen Film im Wett­be­werb. Dabei gibt es so viel Geld wie noch nie. Mit Geld wird man also den deutschen Film nicht besser machen, sondern eher mit neuen Ideen. Die fehlen aber.

+ + +

Klar zu beob­achten ist ein Versagen der Film­kritik: Die Rolle und Krise der Festivals wird nicht zurei­chend thema­ti­siert, die Rolle der TV-Sender bei der abneh­menden Qualität deutscher Filme, die Verant­wor­tung der Redak­teure. Der völlige Verzicht auf Risiken. Der deutsche Förderung fördert den Sicher­heits­film, Kino, das ange­schnallt mit Airbag existiert. Das passt natürlich zu einer Gesell­schaft, die nur noch ange­schnallt und mit Airbag fährt, und in Nicht­rau­cher­re­stau­rants ihr Bio-Essen verzehrt – wie sollen solche Menschen gute Filme machen? Da muss die Förderung sich verändern, oder man muss sie abschaffen. Und das muss die Film­kritik offensiv zum Thema machen.

+ + +

Zum Abschluß drei Lobende Erwäh­nungen für fünf Guilty Pleasures sind zu erwähnen: Drive von Nicolas Winding Refn für die besten Film­mi­nuten des Jahres (die ersten 12 Minuten inklusive Vorspann), bisher nur auf dem Festival in Cannes zu sehen, wo er den verdienten Regie­preis bekam. Mad Circus von Alex de la Iglesia für die doku­men­ta­ri­schen Exkurse, katho­li­sche Bilder­s­türme aus dem Terror der Wirk­lich­keit. Die Mühle und das Kreuz für die unge­wöhn­lichsten Bilder des Kino­jahres. Die Lieblings-DVD des Jahres ist Apoca­lypse Now (Full Disclo­sure, Steelbook, 3er DVD) Endlich die Möglich­keit, beide Versionen des Films zu verglei­chen, und Unmengen lohnens­wertes Bonus­ma­te­rial. Das Lieblings-Filmbuch: Alexander Kluge: »Das Bohren harter Bretter« (Suhrkamp); dieses Buch enthält alles, was dem deutschen Kino fehlt: Die Kombi­na­tion aus Intel­li­genz, Ironie und Unver­schämt­heit

+ + +

Über Listen kann man ja geteilter Meinung sein. Andrew O’Hehir, höchst geschätzter Kritiker auf »Salon.com« gab am 12.Dezember zusammen mit seiner Liste eine ganz gute Begrün­dung:

»Crafting an annual top-10 list is no doubt a ludicrous exercise, and I’m not promising I’d have given you the same answers a month ago, or will give you the same ones a month from now. But over the years I’ve grown to appre­ciate the fact that it forces critics to stop hiding behind rela­ti­vistic weasel words and high-flown rhetoric, and forces me to defend the murky and indi­vi­dual question of taste. The fact that I — ever so slightly — prefer Corio­lanus to Drive, and Mysteries of Lisbon to Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives, defi­ni­tely tells you something about me as a person and a movie critic. So does the fact that such prominent 2011 films as The Girl with the Dragon Tattoo, Harry Potter and the Deathly Hallows: Part 2, War Horse and The Tree of Life do not appear in my top 20. Which isn’t the same thing, of course, as saying I didn’t like them or would not recommend them. Those are all pretty good movies! If you’re suffi­ci­ently inte­rested, you can now read my 2011 Movie List — ranking virtually every movie I have seen all the way through this year. There are a handful of major 2011 releases I haven’t caught yet and hence are not considered either here or on the crazy-complete list, including The Iron Lady, Mission: Impos­sible – Ghost Protocol, Sherlock Holmes: A Game of Shadows and Extremely Loud and Incre­dibly Close. (As you'll see below, one film that made this list hasn’t yet been released; I've been assured it will open on schedule before the end of the year.)«

Andrew O’Hehirs Filmliste beginnt so: 1.Poetry 2. Melan­cholia 3. Take Shelter 4. Corio­lanus 5. Mysteries of Lisbon 6. A Sepa­ra­tion (not yet reviewed) 7. Drive 8. Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives 9. Meek’s Cutoff 10. Putty Hill

+ + +

Meine persön­liche Jahres­film-Liste:

1. Norwegian Wood 2. Yuki & Nina 3. Le nom des gens 4. The Tree of Life 5. Sucker Punch 6. Wer ist Hanna? 7. Potiche 8. Film Socia­lisme 9. The Mill and the Cross 10. Melan­cholia 11. Never Let Me Go 12. About Elly 13. La Lisière – Am Waldrand 14. Balada triste de trompeta 15. Was Du nicht siehst 16. Heaven 17. La piel que habito 18. Hell 19. Lollipop Monster 20. Womb 21. X-Men 4 22. Hoffen­heim – Das Leben ist kein Heimspiel 23. Im Alter von Ellen 24. The Green Wave 25. Deux de la Vague 26. 10 to 11 27. Bullhead 28. Les amours imagi­n­aires 29. Brownian Movement 30. Kaboom 31. Black Swan 32. Les petits mouchoirs 33. Bad Boy Kummer 34. Nader und Simin 35. Blue Valentine 36. Our Grand Despair 37. I’m Still Here 38. Tuesday after Christmas 39. Meek’s Cutoff 40. Let Me In