Zeit zu leben, Zeit zu sterben |
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Hou Hsiao-hsien |
Von Dunja Bialas
In München hat sich ganz unmerklich eine große Retrospektive niedergelassen, die einzigartig ist und die man keinesfalls verpassen darf: Das Gesamtwerk des taiwanesischen Regisseurs Hou Hsiao-hsiens, abzüglich drei seiner ganz frühen Filme und seines letzten Films The Assassin, der gerade in Cannes mit dem Preis für die Beste Regie ausgezeichnet wurde. Auf 35mm, in einwandfreien Kopien. Die Retrospektive ist ein cineastisches Großprojekt, zu dem sich die Kinematheken und Institutionen der Welt unter der Organisation des Center for Moving Image Arts at Bard College im Bundesstaat New York und mehreren taiwanesischen und chinesischen Kulturstellen zusammengeschlossen haben: Seit einem Jahr touren die Filme von Regiemeister Hou Hsiao-hsien nun schon über den Globus.
Den Auftakt machte letztes Jahr im Juni das Österreichische Filmmuseum in Wien, jetzt, wieder im Juni, ist die Retrospektive im Filmmuseum München zu sehen – als deutschlandweit einzige Gelegenheit. Danach geht es weiter nach London, Brüssel, Tokio und Singapur, davor war sie u.a. in New York, im Harvard Film Archive, im George Eastman House, in Toronto, Vancouver, Los Angeles zu sehen, in der Pariser Kinemathek und auf dem Festival von Rotterdam – sogar europaweit betrachtet ist die Möglichkeit, die Retropsektive zu sehn, also ganz und gar rar. Hingehen!
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Exkurs in die Geschichte Taiwans – Inszenierungen der Unüberwindbarkeit – Subkutan, unterschwellig, somnabul – Die Erzählweisen Hous – Fluchtpunkte, Sehnsuchträume – Der unmerkliche Fluss der Zeit – Epilog: The Assassin
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Hou Hsiao-hsien (Jahrgang 1947) ist einer der bedeutendsten asiatischen Filmemacher. Er ist beeinflusst vom italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague und hat meist improvisierende Filme mit Laiendarstellern gedreht, die einfach nur vom Leben erzählen und vom Verstreichen der Zeit. Hou gilt als Begründer der taiwanesischen »Neuen Welle«. Seit den 80er Jahren bringt sie in das taiwanesische Kino sozialen Realismus und eine stille Ästhetik ein und verleiht ihm eine andere, subtilere Qualität, als dies zuvor mit Märchen, Melodramen und billig produzierten Kung-Fu-Streifen der 60er und 70er Jahre der Fall war.
Die untergründige Melancholie des Realismus' bei Hou erschließt sich besser, wenn man ein paar Dinge über die Geschichte Taiwans weiß. In all seinen Filmen spielt die Historie mit hinein, wie ein existentielles Nebenrauschen, das seit Generationen das Leben bestimmt.
Die Pazifik-Insel Taiwan ist durch die Formosastraße – das ist der frühere Name der Insel, der noch aus der Zeit der portugisischen Kolonialherrschaft im 16. Jahrhundert stammt – vom
chinesischen Festland getrennt. Mitte des 17. Jahrhundert wurde es dann für kurze Zeit Kolonie der Holländer, bis diese durch den Ming-Loyalisten Koxinga vertreiben wurden. Das war dann auch schon der Übergang zur Qing-Dynastie, die bis zur Xinhai-Revolution 1911 andauerte, die wiederum ein Jahr später in die Gründung der Republik China mündete.
Taiwan war ab 1885 unter eigenständiger Verwaltung und entwickelte sich unter ihr zur fortschrittlichsten Provinz Chinas. Zehn Jahre später fiel Taiwan infolge des Chinesisch-Japanischen Kriegs Japan zu. 1937 kam es zum zweiten Krieg zwischen den Staaten, und Taiwan wurde 1945 wieder Teil der Chinesischen Republik. Zwei Jahre später kam es zu einem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand gegen den korrupten Gouverneur Chen Yi. Von da an war das Verhältnis von Festland und Insel für Jahrzehnte beeinträchtigt und begründet, weshalb Taiwan die japanische Kolonialzeit, in der die Insel florierte, in nostalgischer Erinnerung behielt.
Wieder zwei Jahre später, 1949, kamen auf dem Festland die Kommunisten an die Macht, die nationalchinesische Regierung Kuomintang floh nach Taiwan und errichtete eine provisorische Regierung der Republik China. Über Taiwan wurde das Kriegsrecht verhängt, das eine Reiseverbot mit sich brachte: die Taiwanesen durften nun nicht mehr auf das Festland. Es kam zu schweren militärischen Angriffen durch die Volksbefreiungsarmee auf die von Taiwan kontrollierte Inselgruppe Kinmen. Es war 1958, und es herrschte Kriegszustand. Ab Ende der 60er Jahre wurde Taiwan von der von der Kuomintang-Partei ausgerufenen Gegenbewegung zur Kulturrevolution, die »Bewegung zur Renaissance der chinesischen Kultur« beeinflusst. Bis in die 80er Jahre hinein erlebte die Insel das sogenannte »Taiwan Wunder«, einen rasanten wirtschaftlichen Aufstieg. Erst 1987 wurde das Kriegsrecht aufgehoben, und die Bevölkerung Taiwans durfte nach vier Jahrzehnten erstmals wieder auf das Festland reisen.
Das ferne und doch so nahe chinesische Festland bildet einen wichtigen Sehnsuchtshorizont für die Figuren bei Hou. Leichte, provisorische Rattanmöbel zeugen von der Interimssituation, in der sie sich auf der Insel eingerichtet haben, sie sind jederzeit bereit, wieder auf das Festland zurückzugehen. Die steinalte, ihre Kinder überlebende Großmutter in A Time to Live, A Time to Die (Geschichten einer fernen Kindheit), die einen Weg zurück aufs Festland sucht, befindet sich in einer grundsätzlichen Orientierungslosigkeit, die wenig mit Demenz zu tun hat, die mehr eine historische ist. Immer wieder verirrt sie sich auf ihren Streifzügen, erwartet Brücken, wo es keine gibt, die aufs Festland führen sollen.
Es wird keine Grenzüberschreitungen geben. Auch keine heldenhaften Überwindungen des Raums: niemand gelangt je auf das Festland, und wenn es geschieht, weil jemand dort eine Anstellung bekommen hat, wird von diesem nur gesprochen, es gibt keinen Besuch. Hou inszeniert die Unüberwindbarkeit des Raums meisterlich, in scheinbar statischen Einstellungen, in denen sich unmerkliche, ereignislose Veränderungen zutragen, in denen die Zustände der Zeit und des Lebens allmählich in neue hineingleiten.
Hous Erzählweise ist subkutan, ohne Allwissenheit, eher lakonisch-beobachtend. Die Bezüge zum italienischen Neorealismus und der französischen Nouvelle Vague sind offensichtlich, gerade aber auch die Literatur und die Erzählweisen, wie sie der Nouveau Roman hervorgebracht hat, scheinen den Tonfall der Filme vorzugeben. Die Phänomene beobachtend, ohne schon alles zu wissen, mehr beschreibend als erzählend, aber vor allem: darin lange narrative Sequenzen bildend, die nicht aufhören, in die sich immer neue Syntagmen hineinschieben und die nur ganz selten einen Punkt setzen. Den Punkt als Plot Point, der uns sagt: jetzt ist etwas wesentliches passiert. Jetzt ist eine Sequenz abgeschlossen. Das gibt es ganz selten bei Hou, und das ist dann auch oft schon das Ende des Films.
Hous Filme sind Meisterwerke des Unterschwelligen und der Andeutungen. Wenn in A Time to Live, a Time to Die die historischen Ereignisse auf die Insel überschwappen und des Nachts Panzer durch den Ort rollen, als Botschafter der statthabenden militärischen Ereignisse, dann wird hier auf alles Spektakuläre verzichtet, was der Anblick eines Panzers in engen, zivilen Gassen bedeutete. Bei Hou wachen die Figuren durch einen erschütternden Lärm auf, stellen sich ans Fenster, ohne aber vermutlich etwas zu sehen. Vermutlich: Die Kamera bleibt bei Hou auf den Figuren, verweigert deren Perspektivnahme und damit auch womögliche Emotionalisierungen. Am Tag drauf genügt der Kamera-Blick auf den Asphalt, wo sich Kettenspuren ganz und gar deutlich eindrückt haben, um zu wissen.
Hous Filme zu sehen, bedeutet so auch zu dechiffrieren. Dies inmitten einer fast somnambulen Stimmungslage, in der die Zeit auf der Stelle zu treten scheint. Immer wieder sieht man die Protagonisten seiner Filme tagsüber auf ihren Tatami-Matten liegen, in A Summer at Grandpa’s (Große Ferien) verbunden mit einer sommerlichen Schwermütigkeit, die den Enkel erfasst hat. Die Welt ist gebadet in eine stillstehende Zeit. Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse Taiwans wirkt dies wie ein unauflösbarer Widerspruch zwischen dem Leben und der Welt. Im Innehalten des Lebens entwirft Hou in der Totalen Szenerien, die bisweilen wie ein Wimmelbild von Pieter Bruegel erscheinen.
Und dann fährt im Hintergrund ein Zug durchs Bild.
Die Mobilität, die Fahrten, das woanders Hingelangen, ziehen sich wie die Eisenbahnschienen als Grundthema durch die Filme Hous. Immer wieder tauchen Eisenbahnen auf. Dramatisch wie in A Summer at Grandpa’s, wo eines der Kinder fast von einem Zug überfahren wird, meist aber sind sie einfach nur da: Gleise durchziehen die Bilder, sind Fluchtlinien in die Tiefe des Raums. Züge fahren aus dem Bild heraus, auf die vierte Wand zu, direkt auf den Zuschauer. Dies ist Auftakt und Ende von The Green, Green Grass of Home, aus Tunnel aus- und in Tunnel einfahrende Züge. Das Schwarz spuckt aus oder verschluckt die Handlungsträger, die gleiche Tunnel-Rahmung signalisiert die Gleichförmigkeit des Lebens. Dazwischen ist (fast) nichts passiert.
Wie der Außenraum in die Tiefe perspektiviert wird, stellt sich bei Hou der Innenraum grundsätzlich als Verschachtelungen oder Vertiefungen dar, in denen auf mehreren Seins-Ebenen gelebt wird, eine Gleichzeitigkeit des Lebens, die nicht in einem Hintereinander oder in kausaler Verknüpfung erzählt werden kann. Man existiert.
Allerdings mit großer Sehnsucht, die sich allmählich verschiebt. Dust in the Wind (Liebe, Wind, Staub), ein Film der Filme gibt seinen heranwachsenden Protagonisten eine andere Art von Sehnsuchtshorizont. Nicht das (unbekannte) Festland der Eltern und Großeltern ist, wovon sie träumen, sondern vom Kino und den Filmen. In Dust in the Wind werden Kung-Fu-Filme im Kino gesehen, in den Werkstätten daneben sind sie noch hörbar, wie sonst die vorüberfahrenden Züge oder auch die Natur mit dem Blätterrauschen und dem Plätschern der Flüsse. Hier gibt die Tonspur anderer Filme die Atmosphäre, fügt sich mit dem Rattern der Nähmaschinen und dem Lärm der Druckerei in das Hörbild einer Alltäglichkeit.
Oder All the Youthful Days / The Boys from Fengkuei (Die fernen Tage meiner Kindheit), in dem sich die Sehnsucht nach dem Kinobild auch in Äquivalenzen im Raum abbildet. »Buy a book, see a film« ist das Motto der Jugendlichen, die zu illegalen Vorführungen von europäischen Filmen gehen. Kino ist hier auch Verführmittel. In einer Etage eines Rohbaus spannt sich ein glasloses Fenster auf und gibt das Panorama der Stadt frei, exakt in den Proportionen einer Kinoleiwand. Das Mädchen ist beeindruckt, die Äquivalenz selbstredend.
Die Zeit gleitet dahin und verändert sich doch, wird rhythmisiert durch Prüfungen, Mahlzeiten und alltäglichen Handlungen wie etwa gemeinsam die Wohnung zu schrubben, während im Hintergrund der schon todkranke Vater still auf seinem Stuhl verharrt. Tode sind Ereignisse, die eintreten, dies oft, die aber im Zeitfluss immer schon enthalten ist und nur einen Moment lang ein Stutzen, Aufschauen oder Innehalten hervorbringen.
Den unmerklichen Fluss der Zeit kann allein die Realität stoppen. Sie bricht von außen herein und hat viel mit der Situation Taiwans zu tun: wenn das Militär Zugriff erhält. In A Time to Live, a Time to Die passiert es fast, dass der Protagonist des Films auf die Militärakademie geht, aus dem Treiben der Zeit austreten und in eine zielgerichtete Existenz eintreten würde. Gerettet wird er nur durch die Aussicht auf Liebe, die ihn in seiner Welt bleiben lässt. Ein jähes Ende, der Jugend und dem unbekümmerten Verstreichen der Zeit, setzt die Armee jedoch in Dust in the Wind. 387 Tage wird es bis zur Entlassung dauern. »It takes long, even if counting forward«, heißt es lakonisch. In der Welt, die verlassen wird, ist der Bahnhof leer. In einem letzten Blick zeigt sich das Meer, eingeengt zwischen den Bergen.
Hou Hsiao-hsien hat in Cannes nach acht Jahren Vorbereitung seinen jüngsten Film The Assassin vorstellt, ein Film in Art des Wu Xia Pian, des chinesischen Martial Arts, der in der Zeit der Tang-Dynastie (7. bis 10. Jahrhundert) spielt. Seit den späten 1980er Jahren will Hou einen Film aus dieser Zeit drehen. Unter all seinen Filmen, so wird in einer jüngst erschienenen Monographie deutlich, liegt eine Faszination für den Taoismus, in dem die Menschen »wie die Natur« sind. Bezüge zur chinesischen Kultur gibt es oft am Rande in seinem Werk, als kalligraphierender Bruder in A Time to Live oder wenn die Großmutter Silbertaler aus Papier bastelt für die Zeit nach ihrem Tod. Die Tradition der chinesischen Landschaftsmalerei, die bis ins erste Jahrtausend zurückreicht, findet sich als hintergründige Einstellungen seiner Filme, auch ohne explizite Bezüge. Jetzt hat Hou die historischen, weit zurückreichenden Hintergründe in The Assassin in den Vordergrund geholt.
Leider kann der Film nicht während der Retrospektive im Filmmuseum München gezeigt werden, die Verleiher planen aber einen Filmstart für Anfang nächsten Jahres. Bis dahin kann man sich in den Trailer versenken, der offenbart: ein Filmgedicht, in einer langsamen, sich Zeit nehmenden Erzählweise, in der die Szenen aus sich heraus entwickelt werden, lange ohne Schnitt bleiben und in einen filmischen Trance versetzen. Es ist ein langsames Ein- und Ausmaten, in dem von einer in die nächste Szene hineingeglitten wird. Hier ist der Trailer, der trotz seiner Kürze eine Ahnung von der umwerfenden Ästhetik des Films gibt.
Retrospektive Hou Hsiao-hsien, Filmmuseum München, noch bis 21. Juni. Eintritt 4 Euro (3 Euro ermäßigt)
Literatur:
»Der Taiwanesische Film«, Hg. Taipeh-Vertretung in der Bundesrepublik Deutschland, 2002
»Hou Hsiao-hsien«, hg. Richard I. Suchenski, Synema Publikationen 2014