![Boris Galanter](galanter/Galanter.jpg) |
BIO-FILMOGRAPHIE
Boris Galanter
Geboren 1935
in Kiev. Studium am Dovenko-Studio Kiev. Er erregte mit seinem ersten
Film Bumerang Aufsehen.
1968 dreht er Die besten Tage unseres Lebens. Er kommt aus Kirgisien nach
Sverdlovsk. Sofort bekommt er Schwierigkeiten mit den Zensoren in Moskau.
Der Film wird nicht abgenommen, muß immer wieder geschnitten werden,
und so bleibt es. Mit jedem seiner in Sverd-lovsk gedrehten Filme gerät
er in die Mühlen der Filmbürokratie. Die Filme landen im Regal,
werden nicht gezeigt. Völlig entmutigt verläßt er Sverd-lovsk
und zieht nach Moskau. Er dreht noch einige wenige Filme: einen zweiteiligen
Dokumentarfilm über die Tänzerin Maja Plisetskaja, er beginnt
einen über den Cellisten Rostropoviè, dreht einen Spielfilm
und stirbt 1990 an einer unheilbaren Krankheit.
Mit Galanter kommt eine für Sverdlovsk neue Art Auffassung von Dokumentarfilm
ins Studio - der künstlerische Dokumentarfilm (siehe Interview mit
Boris apiro). Auch seine Helden sind wie die seiner Studiokollegen
einfache Leute - Bauern, Sportler, Arbeiter, Konstrukteure und Flieger.
Da ist er nicht außergewöhnlich.
Außergewöhnlich ist er in seiner Subjektivität, seiner
Suche nach Stoffen, die in sich einen Konflikt bergen oder einen Prozeß
beschreiben, nach Helden, die sich in Entscheidungssituationen befinden
und die bereit sind, sich in der Vielschichtigkeit ihrer Persönlichkeit
zu zeigen, der Nähe des Filmemachers zu den Porträtierten und
in der Vielfalt seines handwerklichen Instrumentariums. Seine Filme tragen
in sich immer eine Spannung und eine unbestimmbare Trauer. Sie sind poetisch
und elegisch, von großer Schlichtheit und Musikalität.
Ihm blieb eine offizielle Anerkennung im Land immer versagt, und im Ausland
war er völlig unbekannt.
Den Zensoren galt er als störrisch, unbelehrbar und unbeeinflußbar.
Sie förderten ihn nicht, sondern behinderten ihn ständig. Aber
auch auf seine Kollegen blieben seine Arbeiten anscheinend ohne Einfluß.
Niemand hat seine experimentellen Versuche weitergeführt oder seine
ästhetischen Herausforderungen angenommen.
Natalja Manski und Tamara Trampe
Interview von Tamara Trampe mit Boris A. apiro
über Boris Galanter:
Boris Galanter
wurde in Kiev geboren und begann seine Laufbahn im Dovenko-Studio.
Dort arbeitete er einige Zeit und bewarb sich dann am VGIK, an der Filmhochschule
in Moskau. Aus einigen, unterdessen bekannten Gründen, wurde er nicht
angenommen, aus Gründen, die mit seiner ethnischen Herkunft zu tun
hatten, Sie wissen, was damit gemeint ist. Er blieb also im Dovenko-Studio,
bis er und seine Freunde eine Einladung vom damaligen Vorsitzenden des
Staatlichen Filmkomitees Kirgisiens erhielten, in Kirgisien zu arbeiten.
Kirgisien gehörte damals zur Sowjetunion, und den Vorsitz des Filmkomitees
hatte ein kluger, tüchtiger und begabter Beamter übernommen,
der beschlossen hatte, talentierte Filmleute in seinem Land zu versammeln.
Und das machte er auch. Damals kamen nicht nur interessante Dokumentaristen
nach Kirgisien, sondern auch interessante Spielfilmregisseure und Kameramänner.
Andrej Konèalovski drehte dort seinen Film "Erster Lehrer",
Chrabrovitski machte einen Film, Jurij Sokol war dort, ein zu dieser Zeit
sehr bekannter Kameramann, der heute in Australien arbeitet - mit einem
Wort, im damaligen Frunse versammelte sich eine große Gruppe begabter
Künstler, die aus Moskau, aus Leningrad, aus Kiev kamen und unter
den Fittichen dieses umsichtigen Beamten den kirgisischen Dokumentarfilm
zu einer hohen Blüte und Reife führten. Auf den Protest seiner
Kollegen, die ihm vorwarfen, aus der ganzen Sowjetunion Filmemacher einzuladen,
statt die nationalen Kader zu fördern, soll er geantwortet haben:
Ich werde die Leute Filme machen lassen, die Filme machen können,
weil sie begabt sind und nicht, weil sie Schlitzaugen haben. - Das war
zu diesen Zeiten ganz schön mutig, wie Sie sich denken können.
Boris Galanter drehte mit seinen Freunden einige sehr interessante Filme,
die in der Presse und der Filmkritik Beachtung fanden, z.B. "Bumerang"
war ein damals sehr bekannter Film. Zu Anfang der sechziger Jahre erreichte
der Dokumentarfilm allgemein ein hohes Niveau - in Polen, in der Tschechoslowakei,
bei uns. Ich erinnere mich, wir trafen uns zu Seminaren, zeigten uns gegenseitig
unsere Filme und tauschten Erfahrungen aus, es war eine sehr spannende
Zeit. Boris genoß bereits in seinen Kreisen einen hohen Grad von
Bekanntheit und Ansehen.
Auch hier im Sverdlovsker Studio ging es mit dem Film bergauf, wie im
ganzen Land. Anfangs sollten hier nur Dokumentar- und Lehrfilme hergestellt
werden, doch schon während des Krieges wurde ein Spielfilm gedreht.
Das Studio war 1943 gegründet worden. Nach Stalins Tod, nachdem Chrustschov
an die Macht gekommen war, beschloß man, das Studio neu zu organisieren.
Seine geografische Lage in der Mitte Russlands, im Ural, der Grenze zwischen
Europa und Asien, verlieh ihm Gewicht und Bedeutung, es sollte vergrößert
werden, jährlich acht bis zehn Spielfilme produzieren und die Produktion
von Dokumentar- und Lehrfilmen erhöhen. In der Folge wurden hier
regelmäßig Wochenschauen gedreht, eine Masse von Dokumentarfilmen,
dieses Studio wurde zu einem einzigartigem Kombinat, in dem alle Genres
des Films hergestellt wurden: Spielfilme, Dokumentarfilme, populär-wissenschaftliche,
wunderbare Trickfilme, die in der ganzen Union berühmt waren und
die hier heute noch gemacht werden. Der Oskarpreisträger Aleksandr
Petrov und sein Film "Der alte Mann und das Meer" haben zum
Beispiel ihre Wurzeln hier.
Boris wurde also eingeladen, hier zu arbeiten.
In der Leitung der Dokumentarfilmabteilung saßen damals ebenfalls
kluge Beamte, die mit neuen talentierten Leuten das künstlerische
Niveau des Dokumentarfilms in ihrem Studio heben wollten und sich auf
der Suche nach ihnen im ganzen Lande umsahen. Da der kirgisische Film
in dieser Zeit Furore machte, richteten sich alle Blicke auf ihn, und
so stieß man auf Boris. Er kam her und hat praktisch länger
als zehn Jahre hier gearbeitet. Er kam mit seiner Familie, seiner Frau
und einem kleinen Kind, und sie richteten sich hier ein. Und so wie unser
erster gemeinsamer Film hieß: "Die besten Tage unseres Lebens",
so waren diese zehn Jahre die besten unseres Lebens, für ihn und
für mich. Er drehte eine riesige Menge von Dokumentarfilmen, die
von der Kritik hoch gewürdigt wurden. Hier erhielt sein Talent alle
Möglichkeiten, sich zu entfalten. Er war schon, als er herkam, ein
interessanter junger Mann, doch hier wurde aus ihm eine Persönlichkeit
und ein großer Meister seines Fachs.
Soviel zu seiner Zeit hier in Sverdlovsk.
Tamara Trampe: Auf der Liste seiner Filme sehe ich drei, die zwei Titel
haben. Warum haben sie zwei Titel?
Das politische
Tauwetter dieser Jahre war ziemlich schnell beendet, und die Filmproduktion
geriet zunehmend wieder unter das Diktat des Staatlichen Filmkomitees
in Moskau. Das störte und behinderte die Arbeit vieler Künstler
und verkürzte damit ihr Leben. Wir müssen nicht weit gehen und
brauchen uns nur an das Schicksal Eisensteins zu erinnern.
Jetzt überschwemmte eine neue Welle der Repression das Land, und
jede Filmabnahme von Boris wurde zu einem großen Problem. Die Probleme
bestanden darin, daß Boris talentiert und sein Blick auf die Dinge
und das Leben ungewöhnlich war. Und das paßte den Moskauer
Beamten und Funktionären nicht. Da gab es z.B. einen gewissen Mifontov,
er leitete die Abteilung für den russischen Film im Staatlichen Moskauer
Filmkomitee. Ich weiß nicht, wer heute noch seinen Namen kennt,
höchstwahrscheinlich nur seine Verwandten, während viele Menschen
sich an Boris erinnern und sein Werk studieren. Dieser Mifontov hatte
sich auf Boris und seine Filme eingeschossen, so wie Bolakov zu
seiner Zeit auf Eisenstein, den er gequält und gequält und schließlich
vernichtet hatte. Doch wer erinnert sich heute noch an Bolakov,
während die ganze Welt Eisensteins Filme kennt!
Bei jeder neuen Filmabnahme bekam Boris eine Menge von Auflagen, er sollte
den Film überarbeiten, umschneiden, Einstellungen herausschneiden...
Das war, als verlangte man von ihm, einen lebendigen Organismus zu verstümmeln,
seine Gedanken zu entstellen. Boris drückte sich jedes Mal davor,
verschleppte diese Arbeiten so lange es ging, bis dann das Studio einschritt:
Sie werden mit dem Film nicht fertig, machen Sie endlich die Änderungen,
sonst erfüllen wir unseren Plan nicht, können Ihre Mitarbeiter
nicht bezahlen usw. usw.
Tamara Trampe: Gab es da nicht mit seinem Film "Kosinka"
eine besondere Geschichte?
Jeder seiner
Filme hatte seine besondere und einmalige Geschichte. In "Kosinka"
ging es darum, einen Film über einen vorbildlichen Kolchosleiter
zu machen. Wir begannen zu suchen. Gerüchteweise hatten wir von einem
guten Kolchos bei Perm gehört, er wurde Boris für den Film vorgeschlagen.
Boris hatte in Perm Freunde und Kollegen beim Fernsehen und rief sie an:
Was für ein Mensch ist der Leiter dieses Kolchos? - Oh, antwortete
man ihm, das ist ein origineller Bursche, kein Durchschnitt, einer, der
sich seine eigenen Gedanken macht und seine eigenen Positionen vertritt,
sein Verhältnis zur Bezirksleitung ist dementsprechend schlecht.
-
Zu jeder Zeit gab es in Rußland Menschen, die versuchten, ihre geistige
Unabhängigkeit zu bewahren, sich der Obrigkeit nicht fügten
und nach ihrem Gutdünken lebten.
Was Boris über den Kolchosleiter hörte, gefiel ihm: Ein selbstständiger
Mann mit schlechten Beziehungen zur Bezirksleitung, die ihm aber nicht
an den Karren fahren kann, weil er ein Held der sozialistischen Arbeit
ist und sein Kolchos vorbildlich arbeitet. Er fuhr zu ihm, um ihn sich
genauer anzusehen.
Begeistert kam er zurück. Der Mann hieß Aleksandr Sergeeviè
- wie Puschkin, pflegte er zu scherzen. Sein spezielles Hobby waren Pferde,
sein Kolchos züchtete nebenher reinrassige Rennpferde. Das brachte
nicht viel ein, Geld machte der Kolchos mit Gemüse und Milchprodukten.
Boris war von diesem Mann hingerissen, von seinem Auftreten, seiner Art
zu denken, seinem Engagement und seiner Energie, von seiner männlichen
Kraft und Schönheit, und er war fest entschlossen, ihn zum Helden
seines Films zu machen.
Das Drehbuch wurde zur Produktion freigegeben. Es ergab sich, daß
der Film im Winter gedreht wurde, und dieser Winter war besonders rauh,
fürchterlich kalt, ein Winter, wie es ihn nur aller zwanzig Jahre
gibt, Fröste von 35 bis 40 Grad.
Wir kamen also in diesem Kolchos an, Aleksandr Sergeeviè empfing
uns herzlich, begrüßte enthusiastisch unsere Absicht, einen
Film zu machen, stellte aber sofort eine Bedingung: Nicht über ihn!
Es gäbe in seinem Kolchos viele bewundernswerte Menschen, unter ihnen
sollte Boris sich seine Helden aussuchen. Am besten wäre, er würde
einen Film über seine Pferdchen machen. Er sei bereit, uns auf jede
Weise zu unterstützen, doch wenn wir ihm nicht gefielen, dann könne
uns auch kein Minister helfen. Es war klar, wir hatten es hier mit einem
eigenwilligen Charakter zu tun. Wir bemühten uns, ihm zu gefallen,
und Boris mit seinem Charme gelang das.
In den damaligen Zeiten wurden Drehbücher oft so geschrieben, daß
sie die eigentlichen Absichten des Künstlers verhüllten. Diese
Notwendigkeit, sich verschlüsselt auszudrücken, hatte nicht
nur Nachteile. Sie provozierte die Fantasie und führte zu unkonventionellen
und überraschenden Lösungen. Das ist in reaktionären Epochen
immer so und bringt oft interessante künstlerische Resultate.
Boris beschloß, einen Film über das menschliche Leben zu machen,
über unser aller Leben, über unsere Gesellschaft. Hier ist die
Elite, da ist das einfache Volk. Wer gibt wem wieviel? Hier haben wir
ehrgeizige Menschen, die große Ziele verfolgen, und da die schlichten
Arbeitsbienen, die ihre täglichen Pflichten erfüllen ohne daran
zu denken, die Sterne vom Himmel zu holen, und auch sie sind unserer Achtung
wert.
Im Zentrum des Drehbuchs stand ein Pferdepfleger, ein einfacher Pferdepfleger,
dreiundsiebzig Jahre alt, ein schöner malerischer Großvater
mit Bart. Er hatte ein Pferd namens Kosinka, ein einfaches Arbeitspferd,
und seine Aufgabe in unserem Film bestand darin, den feurigen Rennpferden,
diesen Preisträgern aller möglichen Wettbewerbe, beizubringen,
rhythmisch im Schritt zu gehen.
Wir fuhren zu dem 15 km entfernten Drehort - es war wie gesagt, furchtbar
kalt - und besichtigten zuerst die Pferdeställe. Zu dieser Zeit gab
es in der Sowjetunion Wohnungen, die tausend Mal schlechter waren als
diese Pferdeställe. Sie waren blitzsauber, gekachelt, hatten fließend
heißes und kaltes Wasser, die Pferde waren gestriegelt, ihr Fell
glänzte, wunderschöne Pferde.
Der Kolchosleiter empfing uns gastfreundlich, bewirtete uns mit Tee und
verblüffte uns damit, daß er über die Pferde sprach wie
über eine geliebte Frau. Er nannte ihre Namen, erläuterte uns
ihre Genealogie, erzählte, in welche Länder sie verkauft wurden:
nach Amerika, England, Deutschland... Als wir die Preise hörten,
konnten wir nicht verstehen, daß die Zucht unrentabel sein sollte.
Die Dollars müßten sie abliefern, sagte der Kolchosleiter,
und man dränge sie, die Zucht einzustellen, doch lieber würde
er sich umbringen.
Wir drehten also einen Film über diese wunderbaren Pferde und den
alten Pferdepfleger, das wurde alles sehr poetisch und reich an Metaphern.
Der alte Mann war an sich sehr interessant. Er hatte noch unter dem Zaren
als Soldat gedient, er erzählte viel, sang uns längst vergessene
Lieder vor usw.
Der Film
beginnt damit, wie die Pferde über den Hippodrom jagen. Wir drehten
sie aus einem offenen Jeep. Lange wollte man uns diese "Inszenierung"
nicht erlauben: es waren ungefähr 35 Grad minus, der Boden war gefroren
und vereist, die Pferde entwickeln eine Schnelligkeit von 50 bis 60 km/h
und hätten zu Schaden kommen können. Schließlich willigte
man ein und wir drehten großartige Bilder, die Pferde rasten direkt
auf meine Kamera zu, ihre Nüstern dampften, Boris trieb mich zu immer
näheren Aufnahmen an, und wir erhielten Einstellungen von ungeheurer
Kraft und Dynamik.
Danach Schnitt. Stille. Winter...
Boris legte immer einen ungeheueren Wert auf die Bildgestaltung seiner
Filme, auf ihre Plastik. Wir beschlossen, den Film grafisch zu gestalten:
die weiße Reinheit des Schnees, die jungfräuliche Unberührtheit
der Natur und vor diesem Hintergrund die Pferde, ihre schnaubenden Nüstern,
ihre jagenden Hufe. Der alte Pferdehüter, die großen Augen
seiner Enkeltochter und das liebe Arbeitspferd Kosinka, das uns in dem
Film als Spielpferd diente, d.h. "schauspielerische Aufgaben"
übernahm.
Anfangs machte uns der Frost sehr zu schaffen, doch dann gewöhnten
wir uns an ihn, und wenn wir abends im Hotel erschienen, klirrten wir
mit unserer Kleidung wie Ritter mit ihren Schildern, wir warfen sie ab
und dampften vor Kraft und Lebensfreude.
Die erste Variante des Films wurde in Moskau nicht abgenommen. Das hatte
mehrere Gründe. Unter anderem warf man uns wegen der Jahrmarktszenen
vor: Wollen Sie etwa darauf anspielen, daß unser ganzes Land am
Halfter geführt wird? - Dann gefiel ihnen ein Lied nicht. Unser Pferdepfleger
hatte ein sehr schönes altes Soldatenlied für uns gesungen:
von einem jungen Burschen, der zur Armee gehen und dort 25 Jahre dienen
muß, seine Braut und seine Verwandten weinen, er hat es schwer als
Soldat usw. usf. Das Lied mußte entfernt werden, obwohl es sich
darin um ein Soldatenschicksal aus der Zarenzeit handelte. Der Film mußte
auch umbenannt werden. Er hieß erst "agovik" und
danach "Kosinka".
Tamara Trampe: Bei den beiden Filmen "Die letzten Spiele"
und "Kosinka" fallen mir die Dynamik auf, die Expressivität,
mit der sie gedreht sind, und in "Kosinka " natürlich die
grafische Bildgestaltung. Und die Trauer. In allem drückt sich eine
unbestimmte Trauer aus: in den Pferden, dem alten Mann, der Natur, der
Stille...
Nun, sagen
wir, der Film ist in Moll gedreht.
Tamara Trampe: In "Die letzten Spielen" müßte
diese Trauer vorhanden sein, doch da gibt es sie nicht. Für den einen
Film hat Galanter das Drehbuch geschrieben, für den anderen Gureviè
und noch irgend jemand. Diese beiden haben fest an dem Thema geklebt,
das an sich nicht so interessant ist - die Menschen werden älter,
sie sterben, na und, das ist normal - und ich hatte den Eindruck, Galanter
war bemüht, dieses Thema zu umgehen, bzw. es anders anzugehen, er
ist ihm mit Bewegung begegnet. Das ist das Interessanteste an diesem Film
- die Kameraarbeit und der Schnitt. Und dabei stört ständig
das Thema. Da sitzt immer dieser unbewegliche Mann, der sozusagen das
Thema demonstrieren muß, und hält die Bewegung auf.
Ich kann
Ihnen dazu folgendes sagen: Anfangs war der ganze Film etwas anders gedacht
gewesen. Boris hatte sich immer für Menschen und menschliche Schicksale
interessiert, die gebrochen waren oder einen bestimmten psychologischen
Wendepunkt erreicht hatten; die Geologen würden sagen: die sich in
tektonischer Bewegung befanden. Boris war der Überzeugung, daß
sich ein Mensch in Streß-Situationen stärker entblößt
und öffnet als in glatten, normalen. Das betrifft nicht nur seinen
Film "Die letzten Spiele", sondern auch "Die besten Tage
unseres Lebens". Hier geht es um dasselbe Thema: die Trennung des
Menschen von seinem geliebten Beruf, von der Sache, die sein Leben ausgemacht
hat. Es handelt sich ja nicht nur darum: Weil einer alt ist, muß
er gehen, sondern darum, daß er den Inhalt seines Lebens verliert.
In "Die besten Tagen unseres Lebens" wird dieses Thema in der
ärztlichen Kommission abgehandelt, und als plastischen Ausdruck haben
wir für das, was geschieht, frontale Kompositionen gewählt,
weiße Tische, Männer in Weiß, den Göttern gleich,
die entscheiden, ob dieser Mensch leben darf oder nicht. Denn wenn er
nicht mehr fliegen, seinen Beruf nicht mehr ausüben darf, empfindet
er das wie sein Todesurteil. Dabei geht es nicht ums Geld, obwohl er natürlich
in so einem Fall auch seinen Verdienst verliert. Wie mag dem jungen Mann
zumute sein, dem das ärztliche Gericht sagt: Du darfst nicht mehr
fliegen, nie wieder! -
Zu diesem Thema der Trennung befragte Boris in "Die besten Tage unseres
Lebens" einen ausgemusterten Flugzeugkapitän: Was werden Sie
jetzt machen? - Ich weiß es nicht. Ich kann nichts. Ich kann nur
fliegen, und ich will nur fliegen. - Und zu dem jungen Mann sagte er:
Es gibt doch so viele Berufe, auf welchen werden Sie umsatteln? - Ich
will fliegen, ich will nur fliegen! -
Also hier geht es um mehr, als nur mit einer Tätigkeit sein täglich
Brot zu verdienen. Das ist das Thema von Boris: die Sehnsucht des Menschen
nach etwas, das über den Alltag hinausreicht, jeder hat einen Traum,
eine Vision. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, wie man sagt. Dieses
Thema verfolgt Boris auch in "Die letzten Spiele". Nicht zufällig
haben wir in diesem Film eine ganze Reihe von berühmten Sportlern,
die abtreten müssen. Darüber wollte Boris noch einen Film drehen,
der leider nicht zustande kam. Im Sport gibt es viele Tragödien.
Um hier etwas Großes zu erreichen, muß man sich total einbringen,
alles andere aufgeben, aber bereits mit 35, manchmal schon mit 25, ist
man am Ende und wird aussortiert und interessiert niemanden mehr. Das
ist eine riesige Tragödie.
Vor einem
Monat hatte mich Nikolaj Durakov aus "Die letzten Spielen" zu
einem Treffen eingeladen. Bei der Gelegenheit sagte er: "Boris hat
seine Hand immer sehr sorgsam über mich gehalten, er hat immer sehr
genau gefühlt, was in mir vorging." - Es gibt Menschen, die
können sich sehr gut verbal ausdrücken, es gibt andere, die
können es nicht. Bei ihnen muß man am Ausdruck ihrer Augen,
ihres Gesichts, an ihrer Körpersprache, an vielen kleinen Nuancen
erraten, was in ihnen vorgeht. Und das konnte Boris. Er hatte ja keine
Schauspieler vor sich, denen er Anweisungen geben konnte, sondern mußte
mit den Menschen umgehen, die sozusagen das Leben selbst vor seine Kamera
gestellt hatte. Er hatte die wunderbare Begabung, sich in jeden Menschen
einfühlen zu können. Bei Nikolaj hatte er sofort begriffen:
Der wird nicht viel sagen, aber was hat er für ausdrucksstarke, traurige
Augen! Also Großaufnahmen, Großaufnahmen. Doch in diesem Menschen
verbarg sich außerdem eine unheimliche explosive Kraft. Er war Champion
im russischen Hockey. Er begann langsam, langsam, aber wenn er einmal
losstürmte, konnte ihn keiner einholen. Ausgehend von diesen Gegebenheiten,
wählten wir also unsere künstlerischen Mittel, diesen Menschen
darzustellen.
Ich muß
noch einmal betonen, daß Boris immer sehr viel Wert auf den plastischen
Ausdruck dessen legte, was er zeigen wollte. Wir grübelten und suchten
immer sehr lange nach den geeigneten optischen Mitteln. Schon bei unserem
ersten Film "Die besten Tage unseres Lebens" war das so. Lange
wußten wir nicht, wie wir den Flugplatz drehen sollten, wie wir
erreichen konnten, daß die Flugzeuge wie lebendige Vögel wirkten
und der Flugplatz wie die Welt, die die Menschen eigentlich nicht verlassen
wollen. Wir drehten schließlich die Episode, sahen sie uns auf der
Leinwand an und sagten: Nein, das ist es nicht! - Wir drehten die ganze
Episode noch einmal. Vorher hatten wir Gemälde und Bilder studiert,
doch die Episode gelang uns erst, als wir den Einfall hatten, sie mit
langer Brennweite zu drehen. Sie wissen, damit erreicht man den Eindruck
einer verkürzten Perspektive und schwebenden Bewegung. Wir drehten
auf dem Flugplatz Vnukovo. Wir verlängerten die Brennweite immer
mehr und hatten schließlich den gewünschten verfremdenden Effekt:
die großen silbernen Vögel, einander überlagernd und freigebend,
eigenartige Bildkompositionen entstanden, wir hatten uns eine Fülle
neuer plastischer Ausdrucksformen geschaffen. Ich will mich nicht loben,
doch ich glaube, ich bin einer der Ersten, der Flugzeugstarts und -landungen
mit langer Brennweite gedreht hat. Später konnte man das oft sehen,
in Spielfilmen wie in Dokumentarfilmen, doch wir machten das im Jahr 1964.
Auch bei "Die letzten Spiele" befriedigte uns das anfänglich
gedrehte Material nicht. Irgend etwas fehlte uns. Boris sagte: Ich muß
einen Weg finden, die Schnelligkeit, die Dynamik dieses Menschen Nikolaj
Durakov sichtbar zu machen.
Unser Studio besaß zwei Objektive von Carl Zeiss, Kriegsbeute, mit
denen hatte sicher schon Leni Riefenstahl die Nürnberger Aufmärsche
gedreht, nun, wenn nicht mit denen, so doch mit ähnlichen. Es handelte
sich um Objektive mit einer 450iger Brennweite und einer 650iger Brennweite,
und sie hatten ein Diafragma. Bei uns gab es solche Objektive erst viel
später. Mit diesen Objektiven erreichte man eine vielfache Beschleunigung
der Bewegung, und wir erhielten die Effekte, die wir brauchten.
Tamara Trampe: Ich habe den Eindruck, daß Boris Galanter in seinen
Filmen immer versuchte, die Grenzen des Dokumentarfilms zu überschreiten.
Natürlich,
natürlich. Boris lehnte die Kategorisierung in Dokumentar- und Spielfilme
ohnehin ab, für ihn waren beide Formen, wenn sie gelangen, Kunstwerke,
und er sah den Unterschied zwischen ihnen nur darin, daß in den
einen Schauspieler und in den anderen keine Schauspieler vor der Kamera
standen. Deshalb war er der Meinung, Dokumentarfilme verlangten nach den
gleichen Spielregeln und dem gleichen künstlerischen Aufwand wie
Spielfilme. Auch im Dokumentarfilm existieren unterschiedliche Genres,
gibt es Komödien und Tragödien, kann man ebenso bewegend Liebe,
Freundschaft und Haß, Geburt und Tod darstellen wie im Spielfilm,
im Theater oder in der Literatur. Boris war ein Vertreter des künstlerischen
Dokumentarfilms. Daher rührte die große Aufmerksamkeit, die
er dem Standpunkt und der Bewegung der Kamera schenkte, der Plastik seiner
Bilder, jedes Detail in seinen Einstellungen war durchdacht, nichts war
zufällig. Er achtete auf die Kleidung seiner Helden und darauf, vor
welchem Hintergrund er sie drehte, auf die Beleuchtung und die Bildkomposition
- Dinge, um die man sich üblicherweise nur im Spielfilm kümmert.
Sein Film "Jahrmarkt" wirkt wie ein echter Spielfilm. Er bekam
vom zentralen Fernsehstudio den Auftrag, ein buntes Programm zum Neuen
Jahr zu drehen. Daraus wurde etwas völlig Unerwartetes. Dieser Film
war wie die erste Schwalbe, die erste Verheißung eines pantomimischen
Musicals. Boris hatte versucht, aus der sonst üblichen Aneinanderreihung
von musikalischen, pantomimischen und Ballettnummern ein neues Genre zu
schaffen, indem er sie miteinander verflochten hatte. Wir haben voller
Begeisterung am "Jahrmarkt" gearbeitet, wir hatten erstklassige
Szenenbildner, die uns ein fantasievolles, luftiges, großzügig
interpretierbares Bühenbild schufen. Sie schminkten sogar die Schauspieler
selbst.
Tamara Trampe: Verfilmte Bühnenstücke wirken in der Regel
immer irgendwie tot. Man fühlt immer die Distanz zwischen Bühne
und Zuschauer. Wie ist es Boris gelungen, aus diesem Bühnenprogramm
einen richtigen Film zu machen?
Ich sagte
es schon: Wir haben die Kamera nicht einfach hingestellt und gedreht,
was man uns angeboten hat. Ein guter Ballettmeister - er ging später
nach Frankreich - hatte das Programm inszeniert. Wir waren bei allen Proben
dabei, die übrigens ein Genuß für uns waren, und haben
dann das Geschehen mit rein filmischen Mitteln aufgelöst und miteinander
verbunden, so daß ein neues eigenwilliges Filmgenre entstanden ist.
Tamara Trampe: Welche Eigenschaft von Boris war für Sie in Ihrer
Zusammenarbeit mit ihm am wichtigsten? Und wenn Sie heute jungen beginnenden
Dokumentaristen etwas mit auf den Weg geben könnten - was würden
Sie als das Wichtigste in diesem Beruf bezeichnen?
Zuerst möchte
ich einige Worte über die menschlichen Qualitäten von Boris
sagen, sie sind ja untrennbar mit seinen Qualitäten als Künstler
verbunden.
Er gehört für mich zu den reinsten, talentiertesten und klügsten
Menschen. Er war sehr gütig. Sein Verhältnis zu anderen war
bestimmt von Takt und Verständnis. Ich weiß nicht, ob er Feinde
hatte, ich kann es mir nicht vorstellen, denn er war absolut uneigennützig
und half allen, die ihn darum baten. Viele von denen, die heute gestandene
Meister ihres Berufs sind, hat er bei ihren ersten Arbeiten unterstützt.
Und wie er sich über die Erfolge seiner Kollegen freuen konnte!
Diese wunderbaren menschlichen Eigenschaften, die Boris besaß, bestimmten
natürlich auch unser Verhältnis, und ich bin sehr schnell seinem
Charme verfallen. Schöpferische Diskussionen gab es bei uns immer,
und besonders bei unserem ersten gemeinsamen Film wollte ich meine Positionen
durchsetzen. Doch unsere Diskussionen waren immer bestimmt von der Achtung
vor dem anderen und der Achtung vor dem Film, d.h. keiner von uns beiden
sagte: Ich will es eben so! - Boris als Regisseur hätte das durchaus
machen können! - sondern wir bemühten uns immer, einander zu
überzeugen und kannten keine persönliche Eitelkeit, wenn der
andere überzeugender war.
Wenn wir den Drehort verließen, hörten wir nicht auf zu arbeiten,
wir wohnten in den Hotels zusammen, und unsere Diskussionen über
den jeweiligen Film gingen pausenlos weiter.
Jungen Filmemachern
würde ich raten: Denkt 24 Stunden am Tag an eure Arbeit! Und nicht:
jetzt habe ich abgedreht und gehe Wodka trinken.
Zwischen Boris und mir war es durchaus üblich, daß wir uns
nachts anriefen und weckten, wenn einer von uns ein Problem oder einen
Einfall hatte, d.h. unsere gedankliche Auseinandersetzung mit unserem
Thema hörte nie auf.
Boris besaß das Talent, sehr fein und taktvoll zu erklären,
warum er etwas so und nicht anders haben wollte. Wenn meine Argumente
ihn überzeugten, nahm er sie an, wenn nicht, überzeugte er mich
immer auf eine Weise von seinem Standpunkt, die nie kränkend für
mich war. Ich fühlte mich auch dann von ihm geachtet und bestätigt.
Es ist nur zu einfach zu verstehen, daß ich ganz im Bann des Talents
und Charme dieses Menschen stand.
Aus unserer Zusammenarbeit wurde mit der Zeit Freundschaft, unsere Familien
und Freunde befreundeten sich miteinander, man kann sagen, am Ende war
unsere Leben miteinander verflochten wie das liebender Ehepartner. Wir
liebten einander in einer echten festen Männerfreundschaft.
Übersetzung
von Iris Gusner, August 2000
(Teilabdruck im Katalog des 43. Internationalen Leipziger Festivals für
Dokumentar- und Animationsfilm, Oktober 2000)
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