30.06.2019
36. Filmfest München 2019

Kurz & knapp

37. Filmfest München 2019
Der Trailer des Münchner Filmfest zeigt dieses Jahr seltsame Auswüchse
(Grafik: Filmfest München)

Tipps und Kurzkritiken zum 37. Filmfest München, Teil 1

Von Redaktion

Zurück zur Natur
Albert Serra: Liberté

Liberte, Albert Serra
Sich frei­ma­chen für die »Liberté«, die Freiheit

Albert Serra führt in Liberté die Sezierung des Ancien Régime zu Ende, die er im Der Tod von Ludwig XIV. begonnen hat. Der enger werdende Spielraum im revo­lu­ti­onären Frank­reich zwingt die adeligen Libertins zu Ausweich­be­we­gungen, ins Reich Fried­richs II. nach Preußen, dort erst mal in den Wald irgendwo bei Potsdam. Der Film basiert auf seinem gleich­be­ti­telten Stück, das Serra an der Dercon'schen Volks­bühne in Berlin insze­niert hatte. Helmut Berger ist auch hier wieder dabei. Zunächst zeigen sich die Libertins im preußi­schen Wäldchen jedoch skeptisch: Wo sollen sie die Frauen herkriegen, damit sie den Lust- und Laster­ka­talog ihres polymorph-perversen Begehrens abar­beiten können?
Erst mal arti­ku­lieren sie sich verbal, und Serra zeigt am feinen Mienen­spiel, wie genüss­lich bei aller höfischen Etikette die Leiden­schaften schon im Medium der Sprache ausge­kostet und zele­briert werden; dann stehen die Herr­schaften neben den Sänften, in denen sie von Dienern herge­bracht wurden, im Gehölz herum, massieren unter den Hosen ihre Geschlechts­teile und lugen verstohlen ins Laub und Gebüsch, was sich so tut. Die Kamera beob­achtet sie dabei ausdau­ernd. Nach dem Einsatz eines symbo­li­schen Phallus' wird dann, unter dem Beisein von einigen Damen, alle aris­to­kra­ti­sche Zurück­hal­tung und Deli­ka­tesse vollends aufge­geben.
Bei den vom berühmten Marquis inspi­rierten Akti­vi­täten beweist Serra, dass er auch in anderen Regionen als dem Gesicht, auch an anderen Körperöff­nungen als dem Mund mimische Regungen mit äußerster Akribie zu regis­trieren und zu entzif­fern versteht.
Rousseau hat sich unter »zurück zur Natur« sicher etwas anderes vorge­stellt, als die letzten Zuckungen der Lüstlinge des Ancien Régime im nächt­li­chen Plein-Air detail­liert zu verfolgen. Wer den Tod von Ludwig XIV. wegen seiner Subti­lität schätzte, muss sich auf einiges gefasst machen.
Wolfgang Lasinger

Liberté, von Albert Serra, mit Helmut Berger
Mi 03.07. 20 Uhr (Atelier 1), Sa 06.07. 16:30 Uhr (Astor Club Kino)

Toxic Mascu­li­nity
Riley Stearns: The Art of Self-Defense

Art of Self-Defense
Jesse Eisenberg zeigt Stärke und Härte

Mit The Art of Self-Defense eröffnete das Filmfest. Der zweite Film des texa­ni­schen Regis­seurs Riley Stearns spielt über­wie­gend in einem Karate-Club, der mit Nacht­un­ter­richts­stunden einen Dark Room eröffnet, in dem sich brachiale Gewalt entfes­selt. Weiter entfernt kann man gar nicht von »art« und »self-defense« sein, wenn sich die Karatekas Motor­rad­helme aufsetzen und als Kampf­trupp in die Stadt ziehen, um wahllos Menschen nieder­zu­schlagen. Doku­men­tiert wird das mit einer Video­ka­mera, und die so entstan­denen Snuff-Videos bringt der Karate-Sensei als VHS-Serie in Umlauf. Es geht also reichlich blutig und gewalt­tätig zu in dem Film. Aufge­fangen wird dies durch den Coun­ter­part Casey Davies, gespielt von Jesse Eisenberg, den man noch als Mark Zucker­berg in David Finchers The Social Network in Erin­ne­rung hat, dem aber auch durch sein Mitwirken in Filmen von Kelly Reichardt (Night Moves) oder Joachim Trier (Louder Than Bombs) der Inde­pen­dent anhaftet. Diese Doppel­ko­die­rung schöpft auch Riley Stearns aus, wenn er den Inde­pen­dent-Touch seines Films (die Handlung spielt in den 90er Jahren, signa­li­siert durch Retro-Farben und VHS-Kameras) mit der Bruta­lität seiner Handlung verschränkt. Der wenig selbst­be­wusste Casey Davies soll sich durch die Kara­te­stunden zum harten Mann wandeln, Ziel ist die »toxic mascu­li­nity« mit Metal-Sound, Schä­fer­hund statt Dackel, Deutsch statt Fran­zö­sisch als Hobby­sprache, Körper­s­täh­lung und Drauf­gän­gertum. Das funk­tio­niert zunächst tatsäch­lich, läuft sich aber in der Mitte des Films dann doch tot. Der Schluss, der vor keiner Konse­quenz zurück­schreckt, entschä­digt dann wieder für die Durst­strecke, während der man sich auch bereit­willig ausge­klinkt hat, da es doch unmo­ti­viert sehr brutal wurde.
Dunja Bialas

The Art of Self-Defense von Riley Stearns, mit Jesse Eisenberg, Ales­sandro Nivola, Imogen Poots
Freitag, 05.07.2019, 22:30 Uhr, Münchner Freiheit 1

Entfes­selte Sozi­al­kritik
Bong Joon-ho: Parasite

Parasite, Bong Joo-ho
Straßen­kämpfe im Elends­viertel

Ein Film, bei dem der Regisseur höchst­per­sön­lich der Film­kritik verbietet, allzu viel vom Inhalt zu verraten: das ist der Gewinner der Goldenen Cannes-Palme Parasite, eine klas­si­sche Intru­der­ge­schichte, so viel wird ja schon in der Wahl des Titels verraten. Der Südko­reaner Bong Joon-ho ist in den letzten beiden Jahr­zehnten durch intel­li­gent erwei­tertes Genrekino aufge­fallen, wie die apoka­lyp­ti­sche Action Snow­piercer oder der Monster-meets-Sozi­al­kritik-Film The Host, dem besu­cher­s­tärksten südko­rea­ni­schen Film aller Zeiten. Jetzt lässt er es wieder etwas ruhiger angehen – zunächst. Was auch schon in seinen anderen Filmen offenbar war, macht er auch in Parasite wieder deutlich: Seine Insze­nie­rung von Räumen, sein Spiel mit der Archi­tektur, und die Räume zu sozialen Topo­gra­phien aufzu­laden, in denen sich die Klassen verteilen. Wie in Snow­piercer spielt auch hier der fort­schrei­tende Zerfall der südko­rea­ni­schen Gesell­schaft in »super­reich« und »elendsarm« die Demar­ka­ti­ons­linie, an der sich die Geschichte anordnet. Parasite erinnert in seinem realis­tisch ange­legten Fami­li­en­drama auch an den letzt­jäh­rigen Cannes-Gewinner Shop­lif­ters. Ohne allzu sozi­al­dra­ma­tisch zu werden, mani­fes­tiert Bong aber anders als sein japa­ni­scher Kollege Hirokazu Koreeda wieder einmal seinen Sinn für schwarz­gal­ligen Humor. Wo andere eine Parabel gemacht hätten, lässt er seiner Sozi­al­kritik als schwarze Burleske und entfes­seltem Schel­men­s­tück freien Lauf.
Dunja Bialas

Parasite von Bong Joon-ho
Dienstag, 02.07.2019, 21:00 Uhr, Send­linger Tor (mit Q&A)
Mittwoch, 03.07.2019, 16:30 Uhr, Film­mu­seum (mit Q&A)

Verfüh­rungs­künste
Rebecca Zlotowski: Une fille facile

Une fille facile
Die Wieder­gän­gerin der B.B.: Zahia Dehar

Man meint die Pinien und das Meer zu riechen, in dem sommer­durch­flu­teten Ein leichtes Mädchen von Rebecca Zlotowski. Wie ein Remake von Godards Le mépris erscheint immer wieder der Film, vor allem durch eine der beiden Haupt­dar­stel­le­rinnen, Zahia Dehar, die wie eine aufget­unte Version der Brigitte Bardot durchs Bild stolziert. Nach dem heftigen Sex mit einem super­rei­chen Yacht­be­sitzer, den sie sich aufge­rissen hat, kommen, wie bei Godard, auf dem Bett liegend die Fragen: Magst du, was ich mit meinem Finger mache? Magst du, wie wir Sex haben? Ein Ausflug zu »Kalypso«, der Freund des Yacht­be­sit­zers »Sokrates«, die Gitarren-Musik, die dem Film zusätz­liche Schönheit verleiht, die Yacht mit ihrem Sonnen­deck und auch die finale Zurück­wei­sung der beiden Mädchen, die auf der Yacht ihren »summer of love« erleben: das alles erinnert immer wieder an Le mépris, einen der schönsten und leich­testen Filme Godards. Nur entspinnt sich hier ein Coming-of-Age-Drama, es geht auch um den Klas­sen­un­ter­schied und um die Sprache, die Kultur, den Diskurs und seine Macht. Und um die Körper, und wie alt man eigent­lich sein muss, um Sex zu haben. Zahia Dehar, die ihre Prosti­tu­ti­ons­er­fah­rungen aus dem realen Leben voll Hingabe in ihre Rolle der Sofia einbringt, ist einfach nur umwerfend, Mina Farid als ihre Cousine Naïma verankert das alles sozi­al­kri­tisch.
Dunja Bialas

Une fille facile von Rebecca Zlotowski, mit Mina Farid, Zahia Dehar, Benoît Magimel, Nuno Lopes
Montag, 01.07.2019, 21:00 Uhr, Send­linger Tor (mit Q&A)
Dienstag, 02.07.2019, 20:00 Uhr, Atelier 1
Donnerstag, 04.07.2019, 17:30 Uhr, Atelier 1

Tanz, auser­zählt
Ralph Fiennes: Nurejew – The White Crow

Nurejew – White Crow
Die Tanz­ein­lagen sind wirklich sehens­wert

Wie ein Film aus einer anderen Zeit wirkt Nurejew – The White Crow, das neue Werk des dies­jäh­rigen CineMerit-Preis­trä­gers Ralph Fiennes. Das Biopic behandelt den Werdegang eines der besten und einfluss­reichsten Ballet­tänzer des letzten Jahr­hun­derts: Rudolf Nurejew. Mit sehr vielen Totalen bei den Tanz­szenen betont der Film, dass hier wirklich der Schau­spieler tanzt. Anders als Natalie Portman in Black Swan hat er sich aber nicht im harten Training auf die Rolle vorbe­reitet, Oleg Ivenko ist tatsäch­lich ein ukrai­ni­scher Ballett-Star, der hier in seiner ersten Filmrolle zu sehen ist. Allein seine Präsenz und seine Tanz­ein­lagen machen den Film für alle Freunde des klas­si­schen Balletts sehens­wert. Ansonsten ist es leider ziemlich altbacken, was Fiennes da auf die Leinwand bringt: Komplett auser­zählte Szenen, die der Spannung entbehren, da man aufgrund der bekannten Biogra­phie Nurejews den Ausgang schon kennt. Zögerlich, wenn auch nicht zimper­lich, insze­niert er die Bise­xua­lität des Tänzers. Ärgerlich, denn mit Verlaub, das machen höchstens noch schlechte Fern­seh­filme, sind die Rück­blenden in die Kindheit in einem verwa­schenen Nicht-mehr-Farbe-aber-auch-nicht-Schwarz­weiß. Puh, Cine­master, was haben Sie sich nur dabei gedacht?
Dunja Bialas

Nurejew – The White Crow von Ralph Fiennes, mit Oleg Ivenko, Ralph Fiennes, Louis Hofmann, Adèle Exar­cho­poulos
Montag, 01.07.2019, 18:00 Uhr, Gasteig Carl-Orff-Saal, OmeU (mit Q&A)
Samstag, 06.07.2019, 18:00 Uhr Rio 1, OmdU