36. Filmfest München 2019
Kurz & knapp |
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Der Trailer des Münchner Filmfest zeigt dieses Jahr seltsame Auswüchse | ||
(Grafik: Filmfest München) |
Von Redaktion
Albert Serra führt in Liberté die Sezierung des Ancien Régime zu Ende, die er im Der Tod von Ludwig XIV. begonnen hat. Der enger werdende Spielraum im revolutionären Frankreich zwingt die adeligen Libertins zu Ausweichbewegungen, ins Reich Friedrichs II. nach Preußen, dort erst mal in den Wald
irgendwo bei Potsdam. Der Film basiert auf seinem gleichbetitelten Stück, das Serra an der Dercon'schen Volksbühne in Berlin inszeniert hatte. Helmut Berger ist auch hier wieder dabei. Zunächst zeigen sich die Libertins im preußischen Wäldchen jedoch skeptisch: Wo sollen sie die Frauen herkriegen, damit sie den Lust- und Lasterkatalog ihres polymorph-perversen Begehrens abarbeiten können?
Erst mal artikulieren sie sich verbal, und Serra zeigt am feinen Mienenspiel, wie
genüsslich bei aller höfischen Etikette die Leidenschaften schon im Medium der Sprache ausgekostet und zelebriert werden; dann stehen die Herrschaften neben den Sänften, in denen sie von Dienern hergebracht wurden, im Gehölz herum, massieren unter den Hosen ihre Geschlechtsteile und lugen verstohlen ins Laub und Gebüsch, was sich so tut. Die Kamera beobachtet sie dabei ausdauernd. Nach dem Einsatz eines symbolischen Phallus' wird dann, unter dem Beisein von einigen Damen, alle
aristokratische Zurückhaltung und Delikatesse vollends aufgegeben.
Bei den vom berühmten Marquis inspirierten Aktivitäten beweist Serra, dass er auch in anderen Regionen als dem Gesicht, auch an anderen Körperöffnungen als dem Mund mimische Regungen mit äußerster Akribie zu registrieren und zu entziffern versteht.
Rousseau hat sich unter »zurück zur Natur« sicher etwas anderes vorgestellt, als die letzten Zuckungen der Lüstlinge des Ancien Régime im nächtlichen Plein-Air
detailliert zu verfolgen. Wer den Tod von Ludwig XIV. wegen seiner Subtilität schätzte, muss sich auf einiges gefasst machen.
Wolfgang Lasinger
Liberté, von Albert Serra, mit Helmut Berger
Mi 03.07. 20 Uhr (Atelier 1), Sa 06.07. 16:30 Uhr (Astor Club Kino)
Mit The Art of Self-Defense eröffnete das Filmfest. Der zweite Film des texanischen Regisseurs Riley Stearns spielt überwiegend in einem Karate-Club, der mit Nachtunterrichtsstunden einen Dark Room eröffnet, in dem sich brachiale Gewalt entfesselt. Weiter entfernt kann man gar nicht von »art« und »self-defense« sein, wenn sich die Karatekas Motorradhelme aufsetzen und als Kampftrupp in die Stadt ziehen, um wahllos Menschen niederzuschlagen.
Dokumentiert wird das mit einer Videokamera, und die so entstandenen Snuff-Videos bringt der Karate-Sensei als VHS-Serie in Umlauf. Es geht also reichlich blutig und gewalttätig zu in dem Film. Aufgefangen wird dies durch den Counterpart Casey Davies, gespielt von Jesse Eisenberg, den man noch als Mark Zuckerberg in David Finchers The Social Network in Erinnerung hat, dem aber auch durch sein
Mitwirken in Filmen von Kelly Reichardt (Night Moves) oder Joachim Trier (Louder Than Bombs) der Independent anhaftet. Diese Doppelkodierung schöpft auch Riley Stearns aus, wenn er den Independent-Touch seines Films (die Handlung spielt in den 90er Jahren, signalisiert durch Retro-Farben und
VHS-Kameras) mit der Brutalität seiner Handlung verschränkt. Der wenig selbstbewusste Casey Davies soll sich durch die Karatestunden zum harten Mann wandeln, Ziel ist die »toxic masculinity« mit Metal-Sound, Schäferhund statt Dackel, Deutsch statt Französisch als Hobbysprache, Körperstählung und Draufgängertum. Das funktioniert zunächst tatsächlich, läuft sich aber in der Mitte des Films dann doch tot. Der Schluss, der vor keiner Konsequenz zurückschreckt, entschädigt
dann wieder für die Durststrecke, während der man sich auch bereitwillig ausgeklinkt hat, da es doch unmotiviert sehr brutal wurde.
Dunja Bialas
The Art of Self-Defense von Riley Stearns, mit Jesse Eisenberg, Alessandro Nivola, Imogen Poots
Freitag, 05.07.2019, 22:30 Uhr, Münchner Freiheit 1
Ein Film, bei dem der Regisseur höchstpersönlich der Filmkritik verbietet, allzu viel vom Inhalt zu verraten: das ist der Gewinner der Goldenen Cannes-Palme Parasite, eine klassische Intrudergeschichte, so viel wird ja schon in der Wahl des Titels verraten. Der Südkoreaner Bong Joon-ho ist in den letzten beiden Jahrzehnten durch intelligent erweitertes Genrekino aufgefallen, wie die
apokalyptische Action Snowpiercer oder der Monster-meets-Sozialkritik-Film The Host, dem besucherstärksten südkoreanischen Film aller Zeiten. Jetzt lässt er es wieder etwas ruhiger angehen – zunächst. Was auch schon in seinen anderen Filmen offenbar war, macht er auch in Parasite wieder deutlich: Seine Inszenierung von Räumen, sein Spiel mit der Architektur, und die Räume zu sozialen Topographien aufzuladen, in denen sich die Klassen verteilen. Wie in Snowpiercer spielt auch hier der fortschreitende Zerfall der südkoreanischen Gesellschaft in »superreich« und
»elendsarm« die Demarkationslinie, an der sich die Geschichte anordnet. Parasite erinnert in seinem realistisch angelegten Familiendrama auch an den letztjährigen Cannes-Gewinner Shoplifters. Ohne allzu sozialdramatisch zu werden, manifestiert Bong aber anders als sein japanischer
Kollege Hirokazu Koreeda wieder einmal seinen Sinn für schwarzgalligen Humor. Wo andere eine Parabel gemacht hätten, lässt er seiner Sozialkritik als schwarze Burleske und entfesseltem Schelmenstück freien Lauf.
Dunja Bialas
Parasite von Bong Joon-ho
Dienstag, 02.07.2019, 21:00 Uhr, Sendlinger Tor (mit Q&A)
Mittwoch, 03.07.2019, 16:30 Uhr, Filmmuseum (mit Q&A)
Man meint die Pinien und das Meer zu riechen, in dem sommerdurchfluteten Ein leichtes Mädchen von Rebecca Zlotowski. Wie ein Remake von Godards Le mépris erscheint immer wieder der Film, vor allem durch eine der beiden Hauptdarstellerinnen, Zahia Dehar, die wie eine aufgetunte Version der Brigitte
Bardot durchs Bild stolziert. Nach dem heftigen Sex mit einem superreichen Yachtbesitzer, den sie sich aufgerissen hat, kommen, wie bei Godard, auf dem Bett liegend die Fragen: Magst du, was ich mit meinem Finger mache? Magst du, wie wir Sex haben? Ein Ausflug zu »Kalypso«, der Freund des Yachtbesitzers »Sokrates«, die Gitarren-Musik, die dem Film zusätzliche Schönheit verleiht, die Yacht mit ihrem Sonnendeck und auch die finale Zurückweisung der beiden Mädchen, die auf der Yacht
ihren »summer of love« erleben: das alles erinnert immer wieder an Le mépris, einen der schönsten und leichtesten Filme Godards. Nur entspinnt sich hier ein Coming-of-Age-Drama, es geht auch um den Klassenunterschied und um die Sprache, die Kultur, den Diskurs und seine Macht. Und um die Körper, und wie alt man eigentlich sein muss, um Sex zu haben. Zahia Dehar, die ihre
Prostitutionserfahrungen aus dem realen Leben voll Hingabe in ihre Rolle der Sofia einbringt, ist einfach nur umwerfend, Mina Farid als ihre Cousine Naïma verankert das alles sozialkritisch.
Dunja Bialas
Une fille facile von Rebecca Zlotowski, mit Mina Farid, Zahia Dehar, Benoît Magimel, Nuno Lopes
Montag, 01.07.2019, 21:00 Uhr, Sendlinger Tor (mit Q&A)
Dienstag, 02.07.2019, 20:00 Uhr, Atelier 1
Donnerstag, 04.07.2019, 17:30 Uhr, Atelier 1
Wie ein Film aus einer anderen Zeit wirkt Nurejew – The White Crow, das neue Werk des diesjährigen CineMerit-Preisträgers Ralph Fiennes. Das Biopic behandelt den Werdegang eines der besten und einflussreichsten Ballettänzer des letzten Jahrhunderts: Rudolf Nurejew. Mit sehr vielen Totalen bei den Tanzszenen betont der Film, dass hier wirklich der Schauspieler tanzt. Anders als
Natalie Portman in Black Swan hat er sich aber nicht im harten Training auf die Rolle vorbereitet, Oleg Ivenko ist tatsächlich ein ukrainischer Ballett-Star, der hier in seiner ersten Filmrolle zu sehen ist. Allein seine Präsenz und seine Tanzeinlagen machen den Film für alle Freunde des klassischen Balletts sehenswert. Ansonsten ist es leider ziemlich altbacken, was Fiennes da auf die
Leinwand bringt: Komplett auserzählte Szenen, die der Spannung entbehren, da man aufgrund der bekannten Biographie Nurejews den Ausgang schon kennt. Zögerlich, wenn auch nicht zimperlich, inszeniert er die Bisexualität des Tänzers. Ärgerlich, denn mit Verlaub, das machen höchstens noch schlechte Fernsehfilme, sind die Rückblenden in die Kindheit in einem verwaschenen Nicht-mehr-Farbe-aber-auch-nicht-Schwarzweiß. Puh, Cinemaster, was haben Sie sich nur dabei gedacht?
Dunja
Bialas
Nurejew – The White Crow von Ralph Fiennes, mit Oleg Ivenko, Ralph Fiennes, Louis Hofmann, Adèle Exarchopoulos
Montag, 01.07.2019, 18:00 Uhr, Gasteig Carl-Orff-Saal, OmeU (mit Q&A)
Samstag, 06.07.2019, 18:00 Uhr Rio 1, OmdU