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Einmal im Jahr feiert das alte Westberlin Wiederauferstehung.
Für 14 Tage verlagert sich das Zentrum aus der neualten Mitte
wieder zurück ins Herz der Nachkriegsstadt, rund um den Zoo
Palast zwischen KaDeWe und Ku'damm. Dort findet sie dann statt:
die berühmte Berlinale, das vermeintlich beste und wichtigste
deutsche Filmfestival. Sie findet statt in herrlichen 50er
Jahre-Kinos, die allen Glamour der großen Anfangsjahre dieses
Festivals noch in sich tragen. Neuerdings gibt es auch ein
einziges Ost-Kino wo ein paar wichtige Wiederholungen stattfinden.
Dieses Alibi verstärkt den Eindruck noch, daß es sich im Grunde
um eine reine West-Veranstaltung handelt, und wie könnte es
auch anders sein, bei einem Großereignis, das seit 47 Jahren
stattfindet, und seit über 20 Jahren von den gleichen Leuten
gemacht wird. Stürzen wir uns also hinein!
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Alte Berlinale-Hasen, berichtet Christiane, die auch akkreditiert
ist, fangen ihre Glossen gerne damit an, wie sie mit Festivalleiter
Moritz de Hadeln in der Paris-Bar einen saufen waren. Wenn
sie, was für die Mehrzahl zutrifft, nicht zu dieser Gruppe
gehören, dann schreiben sie halt, was alles an de Hadeln schlecht
ist. Typisch für die Berliner Zeitungen ist, das über de Hadeln
geschimpft wird, dessen Kollegen Ulrich Gregor lobt man dagegen
in den Himmel. Jeder weiß, daß sich beide nicht ausstehen
können, und es dann aber kurz vor der Berlinale immer einen
Waffenstillstand gibt.
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Ein Film, der ein gutes Thema hat, ist deswegen noch kein
guter Film. Trotzdem schwärmen hier alle ganz euphorisiert
von The People vs. Larry Flynt,
der am zweiten Tag im Wettbewerb lief. Gelassen, aber auch
gleichgültig schildert Forman das Amerika des Hustler-Verlegers.
Der Film knüpft an an die 70er Mode, aber eher dekorativ und
längst nicht so konsequent wie Scorseses "Casino" im vergangenen
Jahr. Auch vermeidet es der Regisseur, das wirklich Interessante
und Herausfordernde seiner Geschichte zum Thema zu machen:
die Frage, was von einer Freiheit zu halten ist, die es nötig
hat, daß Leute wie Larry Flynt ihre Vorkämpfer werden. Nicht
weil er ein Pornoheft macht, sondern weil er sich um die Freiheit
die er beansprucht, einen Dreck schert. Könnte er damit mehr
Profit machen, würde Flynt alle Grundrechte sofort in Grund
und Boden schreiben.
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Zur Eröffnung gab's natürlich eine Eröffnungsfeier: Kanther,
Diepgen und Jack Lang hintereinander, "gut daß wir vorher
schon gegessen haben" meinte Kollegin Tanja. Kanther erinnerte
an einen dieser deutschen Offiziere in Hollywood-Filmen, Diepgen
grinste ganz menschlich, und Lang spach darüber, wie das Kino
"im Mediendschungel" zu ersticken droht. Das Viertel der 4000
akkreditierten Journalisten, das es bis in den Saal geschafft
hat, schaute ganz betroffen, der eine oder andere grinste
auch, "viel Liebe" braucht das Kino, sagte Lang dann noch
- wer braucht das nicht, dachten wir.
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Die Berlinale hat ihren ganz eigenen Rhythmus. Während das
Münchner Filmfest erst am Abend richtig losgeht, muß man ausgerechnet
hier ganz früh aufstehen. Schon um 9 Uhr laufen die ersten
Wettbewerbsbeiträge, dummerweise die, die sowieso nicht ganz
so begehrt sind, mit dem Ergebnis, daß sie dann im nur ein
Fünftel gefüllten Saal stattfinden. Dumm gelaufen etwa für
"Port Djema" von Eric Heumann oder Bruno Barretos gelungenen
Beitrag "O que é isso companheiro?" , und selbst Spike Lee
wird es schwerhaben mit "Get on the bus" die Kritikermassen
zu locken.
Am Abend dagegen kommt es zur Wiederauferstehung der Klassengesellschaft.
Während die einen -Promis, geladene Gäste, Freunderl und wenige
Glückliche, die eine Karte an der Kasse bekommen haben, in
den Zoo-Palast pilgern, wo die offiziellen Premieren stattfinden,
durften wir Journalisten die Filme schon um 12 anschauen,
als die Promis gerade erst ihr Frühstück auf Zimmer gebracht
bekamen, und hacken derweil unsere Verrisse in den Laptop,
um später auch ja pünktlich in der Paris-Bar zu sein. Wer
fleißig war, oder heute nix schreiben muß, geht in die Kim-Novak
Retrospektive im Astor am Ku-Damm, ein kleines, feines Kino,
oder schaut sich einen der Off-Filme an, die sonst noch laufen.
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Und dann die Empfänge. Manche machen sich ihren Sport, bei
möglichst vielen dabei zu sein. Man könnte ohne Zweifel ein
eigenes Buch schreiben über die Berlinale-Empfänge, und es
stimmt auch, daß die manchmal gar nicht so feinen Unterschiede
zwischen den Empfängen ziemlich typisch sind für das, was
da sonst so produziert wird; zum Beispiel die Ordner. Bei
arte waren sie so rabiat und unhöflich, daß selbst gestandene
Promis, denen man woanders sofort einen Tisch frei gemacht
hätte, in der Kälte stehen mußten. Als gälte es, die Besucherzahl
ähnlich klein zu halten, wie die Menge der arte-Zuschauer.
Oder die Buffets. Bei arte gab's gar keines, für die Kunst
muß man halt leiden. Beim NDR mußte man erst einmal eine eineinhalbstündige
Rede über sich ergehen lassen, die überdies kein Mensch verstand,
weil die Tonübertragung nicht funktionierte. Wie bei den "Hören
sie mich, Herr Wickert?"-Interviews in den Tagesthemen. Das
Buffet war dann gut, kein Vergleich freilich mit dem WDR,
wo man sich erst sattessen durfte, bevor die kurzen Reden
kamen. Wo's so nett ist, tauchten dann auch viele Promis auf,
Helmut Dietl zum Beispiel, und es wäre alles wunderbar gewesen,
wenn nicht der Ort des Geschehens, eine leere Halle, so stillos
gewesen wäre. Und erst die Dekoration! "Wie das Betriebsfest
eines mittelständischen Unternehmens" meinte Christiane. Das
genau war es wohl.
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Harald Juhnke erhob den rechten Arm: "Heil Hitler" schrie
er, offensichtlich betrunken, durch den ganzen Saal - nein,
diesmal keine neue Schreckensnachricht aus den Staaten, sondern
eine Szene aus Conversation
with the beast. Das war wirklich witzig. Ein Glucksen
war schon durch den Saal gegangen, als Armin Mueller-Stahl,
offensichtlich kein Leser von Boulevard-Zeitungen und insofern
nicht ganz auf dem Laufenden, allen seinen Schauspielern,
darunter namentlich auch Juhnke für ihr "hervoragendes Engagement"
dankte. Das waren dann aber auch so ziemlich die einzigen
beiden befreienden Moment bei der Premiere zu Mueller-Stahls
erster Regie. Da auch das Drehbuch von ihm stammt, ist er
verantwortlich für den angestrengten, in allen Ehren gescheiterten
Versuch, Hitler als heimlich Überlebenden, inzwischen 107jährigen,
auf die Leinwand zu holen. "Sie dürfen ruhig lachen" meinte
Mueller-Stahl vor Beginn des Films. Irgendwie hatte aber keiner
Lust. Nur eben als Juhnke auftrat.
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Frankreich stellt mal wieder das stärkste europäische Kontingent
im Wettbewerb. Auffälliger waren aber bisher britische Beiträge,
und bestätigten damit den Trend des vergangenen Kinojahres.
Während die Franzosen auch sonst sehr jung und experimentierfreudig
daherkommen, entwickeln die Briten auch großes Kino für das
breite Publikum, ohne ihren eigenen Stil zu verleugnen, und
sich ganz dem Publikumsgeschmack anzupassen
Ein britischer Regisseur ist auch Nicholas Hytner: "The Madness
of King George" war vor zwei Jahren sein excellentes Debüt,
das auch beim Festival von Cannes gezeigt wurde, und einen
Oscar gewann. Jetzt hat Hytner "The Crucible" nach Arthur
Millers "Hexenjagd" gedreht. Prompt wurde er zu seiner eigenen
Überraschung auf der Pressekonferenz mit der Frage konfrontiert,
ob er damit nicht Werbung für Scientology mache, schließlich
liegt das Zeitalter von McCarthy und dem Stalinismus scheinbar
hinter uns. Und ist die Verteidigung von Hexen nicht auch
eine von Sekten ?
Mehr Showeffekte hatte die Pressekonferenz zu Anthony Minghellas
"The English Patient". Souverän und charmesprühend wickelte
Juliette Binoche die Journalistenschar um den Finger, ganz
im Gegensatz zu Kristin Scott-Thomas, die die Binoche im Film
zwar in den Schatten stellt, von dem Andrang und den Fragen
aber sichtlich genervt war.
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Die Berlinale ist ein Ereignis. Und das Ereignis mit dem
dazugehörigen Drumherum ist wichtiger als die Filme. Man mag
das bedauern, aber es ist so. Die Journalisten sind Kulisse,
Staffage, Statisten des Ereignisses, aber auch Akteure, gelegentlich
zumindest, und sie sind Lautsprecher, die das Erreignis in
die ganze Welt hinausposaunen. Weil das Ereignis wichtiger
ist, als die Filme, ist es auch wichtiger, wann man wo ist,
als in welche Filme man geht. Die Wettbewerbsbeiträge bekommt
man eh zu sehen, manche liefen schon auf Pressevorführungen
im Vorfeld, und haben nur hier in Berlin -werbetechnisch geschickt-
ihre offizielle Welt-Premiere.
In allen Programmsektionen lauern die Enttäuschungen. Neugierig
muß man schon sein, wenn man das alles überstehen soll, gefaßt
auf Enttäuschungen und dankbar schon für kleine Filmfreuden,
denn die großen sind selten hier. "Wo sind die neuen Stoffe?"
fragte ein Journalist. Wissen wir natürlich auch nicht. Vielleicht
beim nächsten Empfang um 8.
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Wir waren mit de Hadeln noch immer keinen trinken. Worüber
Christiane und Tanja auch ganz froh sind. Dafür gab's neulich
in der Kim Novak-Retrospektive "Pushover", ihren ersten Film.
Ein sehr modern, sehr schnell und konsequent erzählter Copfilm.
Wunderbar unmoralisch, wie das nur in den 50er Jahren möglich
war. Solche Filme muß man sich merken, die nichts Unnötiges
zeigen. Vergleicht man damit das Neue, was hier zu sehen ist,
kann man schon melancholisch werden. Vielleicht war früher
wirklich alles besser, jedenfalls im Kino? Schaun' mer mal,
am Freitag sehen wir "Vertigo" im Zoo-Palast.
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Bald wird das alles vorbei sein. Dieser Tage verkündete man
den Beschluß, daß die gesamte Berlinale im Jahr 2001 an den
Potsdamer Platz umziehen wird. Vorbeisein wird es dann auch
mit den schönen Kinos im Stil der 50er Jahre. Ein Multiplex
auf dem Potsdamer Platz wird neue Heimat der Berlinale. So
uncharmant das ist, es hat seine praktischen Vorteile. Wie
das alles hier aber vonstatten geht, ist das Schlimmste zu
befürchten. De Hadeln beklagt nicht ohne Grund die Riesenmängel
des künftigen Gebäudes, das im Handstreich aus dem Boden gestampft
wurde, ohne die Festivalleitung auch nur einmal nach ihren
Wünschen und Bedürfnissen zu befragen. Wenn die Berlinale
nach ihrer Ost-Odyssee 2001 sterben sollte, ist das die Chance
für andere. Ein Schelm, wer denkt, daß damit nicht auch in
München kalkuliert wird.
Rüdiger Suchsland
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