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Festivals sind nicht zuletzt dazu da,
damit man sich hin und wieder davon überzeugen kann, daß nicht
nur in Amerika Filme gemacht werden. Und so bot auch das Filmfest
München Gelegenheit, internationale Produktionen kennenzulernen,
die hierzulande keinen regulären Verleih finden.
Die Franzosen haben mit ihren Beiträgen einmal mehr konsequent
hohes Niveau bewiesen. Altmeister Bertrand Tavernier setzt dem
Publikum mit dem wuchtigen und komplexen Kriegsfilm CAPITAINE
CONAN einen schweren, aber lohnenswerten Brocken vor.
Philippe Harel und sein Autor Eric Assous wagten mit LA FEMME
DÉFENDUE eines der wenigen stilistischen Experimente des Festivals:
die Geschichte einer schwierigen Liebe, mit nur zwei Sprechrollen
und 100 Minuten konsequent in subjektiver Kamera aus Sicht des
männlichen Partners. Erstaunlicherweise geht die Rechnung auf,
was der Film nicht zuletzt seiner famosen Hauptdarstellerin
Isabelle Carré verdankt.
Und selbst der arg gewollte und schleppend inszenierte ANNA
OZ (Regie: Eric Rochant, Buch: Gérard Brach, Eric Rochant) vermochte
immerhin, intelligent zu langweilen.
Aus Italien kam LA MIA GENERAZIONE von Wilma Labate, ein dichtes
Polit-Drama, daß der Gewalt als Lösung für Mißstände eine resignierte
Absage erteilt. Der tschechische Film PASSAGE von Juraj Herz,
ein kafkaesker Alptraum in der Kulisse einer nächtlichen Einkaufspassage,
war mir insgesamt zu forciert symbolträchtig, doch einzelne
Sequenzen gehörten zum Originellsten und Faszinierendsten, was
das Festival zu bieten hatte. Und DRAGON TOWN STORY (LONG CHENG
ZHENG YUE, Regie: Yang Fengliang) glänzte im Vergleich mit anderen
chinesischen Filmen zwar vielleicht nicht durch besondere Originalität,
hatte aber alles zu bieten, was chinesische Kino-Epen gemeinhin
schätzenswert macht.
Trauriger sah es dann schon bei den Produkten der hiesigen
Filmwirtschaft aus. Daß ich Vorurteile gegen den aktuellen
deutschen Film hege, gebe ich ja offen zu. Leider sind mir
aber meine Versuche, auf dem Filmfest diese Vorurteile zu
revidieren aus höchst unerfreulichen Gründen schmerzhaft deutlich
im Gedächtnis geblieben - es mag an der unglücklichen Auswahl
der "Gegengifte" gelegen haben. Der Versuch zu beschreiben,
was an Joseph Rusnaks THE WAY WE ARE alles nicht funktioniert
und/oder nervt, würde Bände füllen; eine Meinung, deren intersubjektive
Überprüfbarkeit wohl dadurch angezeigt wird, daß bei keinem
anderen Film auch nur annähernd soviele Leute vorzeitig die
Pressevorführung verlassen haben.
Immerhin gebärdet sich Rusnaks Film jedoch nicht als der Weisheit
letzter Schluß, was man von Michael Hanekes FUNNY GAMES leider
nicht behaupten kann. Für mich der ärgerlichste Film des Festivals,
über den lange Worte zu verlieren dieses besserwisserische,
intellektülle Kasperle-Theater nur in seiner Selbsteinschätzung
als wichtigen Film bestätigen würde - und genau das ist Hanekes
Werk eben nicht.
Dann doch lieber Herbert Achternbuschs PICASSO IN MÜNCHEN,
der in gewohnt gspinnerter Weise etliche Zumutungsgrenzen
über- und handwerkliche Mindestanforderungen unterschreitet,
aber dies wenigstens auf unverwechselbare, sehr persönliche
Art und nicht ohne verschrobenen Charme.
Anteilmäßig die meisten schönen Filme des Festivals gab es
auch dieses Jahr wieder einmal in den Retrospektiven zu sehen.
Allerdings möchte man aber auch nicht einfach das ganze Filmfest
im Filmmuseum zubringen. Deswegen habe ich leider nur zwei
der fünf angebotenen Werkschauen (und die auch nur teilweise)
gesehen. Vielleicht sollten die Veranstalter in Zukunft in
diesem Programmbereich doch wieder etwas Beschränkung und
klare Linie zeigen, und dafür mehr Gewicht auf die Vollständigkeit
der Reihen legen.
Die Filme der Hong Kong-Regisseurin Ann Hui haben mich dabei
weniger beeindruckt; ihre stilistische Handschrift ist deutlich
weniger ausgeprägt als die ihrer im Westen bereits arrivierten
Kollegen John Woo, Wong Kar Wei oder Tsui Hark. Dadurch vermittelten
ihre Filme allerdings einen interessanten Überblick über das
etwas alltäglichere Hong Kong Kino, und von DIE ROMANZE VON
BUCH UND SCHWERT (als historisches Martial-Arts Epos für Ann
Hui allerdings ein untypischer Film) war ich dann doch schwer
angetan.
Bei den Filmen des als militanten, rechten Knallkopf verschrienen
John Milius (der an seinem Image zugegebenermaßen fleißig
und genußvoll mitbastelt) aber wurde mir dann klar, was dem
übrigen Festivalprogramm so sehr fehlte: die Obsessionen.
Milius macht Filme, die er einfach machen muß; ohne
große Rücksicht auf Karriereinteressen und Kinomoden. Wie
sehr man auch gegen sein Weltbild allergisch sein mag - daß
sein Herzblut in den meisten seiner Filme steckt, läßt sich
unmöglich übersehen.
Zu viele der aktuellen Filme des Festivals machten den entgegengesetzten
Eindruck: sie schienen gemacht, weil es gerade opportun war,
sie zu machen. Filme, die als Eintrittskarten, Empfehlungsschreiben,
Sprossen auf der Karriereleiter gedacht waren, Projekte, die
solange nach einem Macher gesucht haben, bis sie jemandem
fanden, der oder die gerade nichts brauchbareres zu tun hatte;
Filme die man macht, damit man eines Tages den Film realisieren
kann, von dem man wirklich träumt.
Auch solche Filme können zu großen Werken werden, wenn sich
ihnen ein entsprechend geniales Talent widmet. In den Regionen
üblicher Begabung aber, wo sich 99% des Lebens abspielen,
reicht es nicht zur begeisternden Größe, wenn die für den
Film Verantwortlichen nicht selbst mit voller Begeisterung
bei der Sache sind. Und das Ergebnis ist dann eben ³nur² solides
Handwerk.
Zum Glück war die John Milius-Retrospektive auf dem diesjährigen
Filmfest aber dann doch nicht der einzige Ort, wo es Begeisterndes
zu sehen gab. Eine Handvoll Filme aus den aktuellen Reihen
hat es schließlich doch jeweils geschafft, mich aus dem eingelullten
Zustand des dauernd mit Mittelmaß bombardierten Zuschauers
zu reißen; jene wenigen Filme, an die ich mich auch eine Woche
nach dem Festival noch genau und gerne erinnere, und von denen
ich hoffe, daß diese Erinnerung mich noch länger begleiten
wird.
Da waren zunächst SWINGERS (Buch: Jon Favreau, Regie: Doug
Liman), GRACE OF MY HEART von Allison Anders und CHASING AMY
von Kevin "CLERKS" Smith. Zugegeben, auch alles keine "großen"
Filme. Aber: einige der wenigen wirklich flotten und witzigen
Filme in einem Angebot, daß von langsamem Tempo bestimmt war,
und Filme, denen man das persönliche Engagement ihrer SchöpferInnen
in jeder Minute anmerkt. SWINGERS (siehe Kritik) war für mich
darüberhinaus wie ein kleiner Urlaub im geliebten L.A., GRACE
OF MY HEART schon deswegen ein kleines Wunder, weil er ein
Musikfilm mit wirklich gelungenem Soundtrack war, und CHASING
AMY ein kleiner Schock, da ein scheinbares Ding der Unmöglichkeit
- ein erwachsener Kevin Smith-Film.
Noch viel weniger ein "guter" Film in irgendwie herkömmlicher
Bedeutung war Timothy A. Careys THE WORLD¹S GREATEST SINNER,
eine legendäre Rarität von 1958, vorgestellt von Careys Sohn
Romeo. Carey ist dem Filmfreund als Charakterdarsteller bekannt
(z.B. PATHS OF GLORY); nur einmal gelang es ihm, ein eigenes
Filmprojekt zu realisieren. THE WORLD¹S GREATEST SINNER weist
handwerklich, technisch und schauspielerisch (bis auf den
großartig chargierenden Carey selbst, versteht sich) in etwa
die selben "Qualitäten" auf wie die berüchtigten Filme Ed
Woods. Aber es ist auch klar: hier ist ein Getriebener am
Werk; der Film ist obsessiv bis zum Durchdrehen. Und wie meist,
wenn unzureichende Mittel auf megalomanische künstlerische
Energie treffen, ist das Ergebnis ein Stück faszinierender,
unfreiwilliger Surrealismus.
Die Obsession zum Thema machte hingegen Lynne Stopkewichs
KISSED. Ebenfalls mit sehr geringen Mitteln gedreht, doch
von Amateurtum ist hier nichts zu spüren. Eine verstörend
ästhetische, schöne, liebevolle und einfühlsame Annäherung
an eine abstoßende Neigung, die Nekrophilie, die viel ihres
Gelingens der großartigen, mutigen Hauptdarstellerin Molly
Parker verdankt.
Alain Berliner widmete sich mit MA VIE EN ROSE einer deutlich
weniger monströs anmutenden Abweichung vom sexualmoralischen
Normschema; erzählt wird die Geschichte des kleinen Ludovic,
der davon überzeugt ist, eigentlich ein Mädchen zu sein, und
der damit seine Familie in bittere Nöte bringt. Gab¹s auf
dem Filmfest nicht schon mehr als genug Problemfilme zu sehen?
Schon, aber MA VIE EN ROSE war nicht nur einer der ergreifenderen,
er war auch absolut der einzig bonbonbunte.
Eine gewisse Einzigartigkeit im Festivalprogramm darf auch
Steven Soderberghs zweiter Beitrag, SCHIZOPOLIS, für sich
in Anspruch nehmen. Während es sonst so schien, als hätten
die Grundregeln des klassischen Erzählkinos international
und genreübergreifend gesiegt, wehrt sich Soderbergh in dem
reichlich wilden SCHIZOPOLIS gegen fast alles, was nach funktionierendem
Framing aussieht. Sicher, die literarische Postmoderne, Richard
Lester und Monty Python waren da, aus unterschiedlicher Motivation
heraus, schon vor 25 Jahren, aber diese kleine Störung des
allerorts herrschenden, satten ästhetischen Konsens hatte
dennoch äußerst erfrischenden Charakter.
Daß das traditionelle Erzählkino selbst aber auch noch durchaus
in der Lage ist, zur Hochform aufzulaufen, bewies schließlich
Ang Lee (THE WEDDING BANQUET, SENSE AND SENSIBILITY) mit seinem
neuen Film THE ICESTORM. Er inszeniert ein Gesellschaftsbild
der USA der 1970er als Kostümfilm, und tut dies mit einer
Präzision, Komplexität und distanzierten Schmerzhaftigkeit,
daß ich von allen Filmen des Festivals rückblickend von THE
ICESTORM noch immer am meisten zehre. So unspektakulär er
zunächst beim Anschauen wirken mag: je länger man über diesen
Film nachdenkt, um so besser und eindrucksvoller wird er.
Was bleibt sonst noch übrig vom Filmfest München ¹97? Die
Liste der Filme, die ich gerne gesehen hätte. Manche paßten
beim besten Willen nicht in den Terminplan, bei manchen warte
ich auf den regulären Start, und bei einigen habe ich erst
nachträglich erfahren, daß es sich unbedingt gelohnt hätte,
sie anzuschauen.
Als da wären (in alphabetischer Reihenfolge, und ohne Anspruch
auf Vollständigkeit): AFTERGLOW, L¹APPARTEMENT, BASTARD OUT
OF CAROLINA, BIG WEDNESDAY, FAST, CHEAP AND OUT OF CONTROL,
GRIDLOCK¹D, HAPPY TOGETHER, HARD EIGHT, I LOVE YOU - DON¹T
TOUCH ME, KOLYA, die kompletten Max Linder-Filme, NOWHERE,
SHE¹S SO LOVELY und WESTERN.
Vorerst bleibt da nur Warten - einige dieser Filme werden
wohl hoffentlich in Zukunft ein weiteres Mal über Münchner
Leinwände flimmern. Und dann werde ich Versäumtes nachholen.
Und eigentlich ist das ja ohnehin noch viel schöner als die
beste Erinnerung: Vorfreude und Hoffnung.
Thomas
Willmann
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