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Extreme Scenarios Are About Desperate Need
Filmfest München 1997

  17.07.1997
 
 
 
 

Hunger - Sehnsucht nach Leben: diesem Drang verdanken wir die schönsten Momente im Leben und zugleich die dümmsten Wiederholungsfehler. Was den (fast ) gleichnamigen Film von Dana Vavrova anbelangt, kann man jedoch nicht gerade behaupten, daß er zu eben jenen Momenten zählen würde. Psychothematik hin, Plattitüden her - ihn überhaupt gesehen zu haben, fällt schon eher schwer unter Kategorie No.2: heißt dies doch, daß man sich von eben jenem erfahrungsblinden Optimismus mal wieder hat aufs Münchner Filmfest treiben lassen. Dabei schien das diesjährige Motto so aufregend. "Festival der großen Gefühle". Doch das Filmfestplakat hätte mir eigentlich schon eine Warnung sein sollen, zeugt doch Sharon Stones so leidenschaftlich geöffneter Mund weniger von innerer Bewegtheit denn von höchst physischen Aktionen.. Daß diese kleine begriffliche Verwechslung allerdings nicht nur den Plakatgestaltern unterlaufen ist (und dabei brüstet man sich doch im Katalog noch damit, daß das Plakat „für den diesjährigen Slogan die passende Umsetzung gefunden" habe), sondern repräsentativ für ein gewaltiges Mißverständnis der heutigen Zeit zu sein scheint, machten die meisten der gezeigten Filme überdeutlich.

Befindlichkeiten statt großer Gefühle

Nehmen wir Bandits von Katja von Garnier, der sich als idealer Eröffnungsfilm anbot, schließlich hatte die Regisseurin passend zum Motto einen Film über ganz große Empfindungen machen wollen, mit einer Story, die „von mehr handelt als davon, ob der Nachbarshund Bauchschmerzen hat". Bei den Recherchen für ihren Dokumentarfilm „Kicks", in dem sie junge Menschen in Deutschland porträtiert, habe sie total resignierte Antworten erhalten, gepaart mit einer Sehnsucht danach, endlich mal den innersten Gefühlen Ausdruck verleihen zu dürfen, auch wenn diese manchmal gegen die Etikette verstoßen ( z.B. solch aufsässige Aktionen wie Tische umschmeißen). Daher habe sie einen Film machen wollen, der einen „jungen", „rebellischen" Geist transportiere. Ob sie das allerdings geschafft hat, scheint eher fraglich angesichts der leidenschaftlichen Beteuerungen diverser Kritiker, daß man nach diesem Film nicht mehr jung sein wolle und „eine bisher nie geahnte Sehnsucht" nach der guten alten Zeit verspüre, in der sich der Neue Deutsche Film noch auf Beziehungskomödien beschränkte. (vergl. Tobias Kniebe am 28.6. in der SZ).

Sehnsucht ist also das Stichwort, prägt sie doch, gepaart mit einer gewissen Handlungsunfähigkeit der Akteure, die meisten dieser Filme. So gibt sich Wong Kar-Wais schön fotografierter aber etwas langatmiger Film „Happy Together" den Anschein einer Liebesgeschichte (zweier schwuler Chinesen in Argentinien). In Wahrheit ist er aber eher eine - dokumentarisch genau beobachtete - Chronologie von Befindlichkeiten und Bedürfnisbefriedigungen, die eben mit Liebe verwechselt werden. Aber ist das nicht meistens so? Auch die Hauptfigur in Abel Ferraras „Blackout", ein heruntergekommener drogensüchtiger Schauspieler, hat da Orientierungsschwierigkeiten. Mit seiner neuesten „Kommt und seht, wie verführbar der Mensch ist"-Version thematisiert Ferrara selbsttreu und zugleich zeitgemäß diesen Teufelskreis des Auslebens von Befindlichkeiten. Leider wird seine berauschende, aber nicht eben kurzweilige Bilderflut am Ende auf eine etwas enttäuschend einfache „Lösung" reduziert. Was bleibt, ist eine Message, die die amerikanischen „Don´t drink & drive"-Kampagnen in nur 10 Sekunden ebenso einleuchtend rüberbringen. (Ob des Meisters Hang zu ausschweifenden Bildgelagen etwa an einer gewissen Freude am Inszenieren sündiger Szenarios liegt....?)

Sag´s durch die Kugel

Genau genommen ist also diese Unfähigkeit zu handeln, die den Filmcharakteren zu schaffen macht, vielmehr ein Problem des richtigen Handelns. Wie einst der kleine Bastian Balthasar Bux durch Phantasien odyssierte, so wurschteln sie sich durch die Anforderungen der realen Welt, meist mit verheerend bequemen Interpretationen des „Tu was du willst"-Wahlspruches im Kopf. Da ist z.B. der russische Provinzjunge Danila in Bratj, einem Film von Alexei Balabanov, der allein schon wegen der außergewöhnlichen russischen Originalschauplätze sehenswert ist. Danila zieht aus nach St. Petersburg, um dort von seinem erfolgreichen Bruder zu lernen. Als dieser sich als Berufskiller entpuppt und das Leben in der Stadt als harter Western, in dem nur der Stärkere überlebt, paßt er sich erstaunlich schnell an. Zu den „großen Gefühlen" aber, nach denen er sich sehnt, ist er nicht fähig und flüchtet sich in Szenarios des Kugelhagels - in deren Tragik ja durchaus die ersehnte ferne Leidenschaft und der Touch of Eternity aufblitzen können, wie uns bereits John Woo in „The Killer" und Wong Kar-Wai in „Fallen Angels" gezeigt haben.

Auch Paul und Peter könnte man als emotional und sozial gestört bezeichnen. Auch bei ihnen stellt das Töten eine Art Ersatzhandlung dar: die beiden wohlerzogenen jungen Männer ziehen aus Ermangelung unterhaltsamerer Ideen in schönster „Tu was du willst"-Manier um den Block und ermorden genußvoll ganze Familien. Michael Hanekes („Benny´s Video") neuer Film Funny Games soll das Kinopublikum wachrütteln und der Konsumierbarkeit von Gewalt beikommen. Mit an Psychofolter grenzenden Methoden will er ins Bewußtsein zurückrufen, was Gewalt eigentlich ist : „Schmerz, Verletzung anderer". In der Theorie mögen das ja ganz hehre Ziele sein. Ein Funktionieren des Films ist damit aber längst noch nicht gewährleistet. Durch das Bedienen des Genres Thriller mit den üblichen Handlungsschemata und ehrgeizigen Grausamkeiten gelingt ihm zwar eine kurzfristige Programmierung des Zuschauers, deren Effekt sich am besten mit dem einer Alkoholvergiftung vergleichen ließe - man läßt erstmal die Finger von dem Zeug. Daß aber eine kleine rhetorische Frage des Obermörders („Wollen Sie wirklich noch mehr davon sehen?") als verhaltensverändernde Interaktivität verkauft wird und ein kurzes, pseudophilosophisches virtuality-reality-Geplänkel als scharfsinnige Selbstreflexion des Mediums, ist wohl etwas dürftig, wenn nicht gar selbstgefällig.

Zurück zum Thema: auch strapazierte Nerven scheinen also kein Indiz für große Gefühle zu sein. Wo verdammt stecken dann aber diese Fabelwesen? Sind sie überhaupt noch im Medium Film beheimatet, oder taugt dieses „nur noch" als Ausdruck von Befindlichkeiten und Bedürfnissen? Worin überhaupt besteht der Unterschied zwischen „großen Gefühlen" und Befindlichkeiten?

Nimm zwei

Schier verzweifelt angesichts solcher großen Fragen schlug ich gedankenverloren den Katalog von 1996 auf, und da prangte sie, die Antwort, gleich auf der vordersten Seite! „Im Kino ist man nie allein." Et voilà; das Motto des letzten Jahres hatte ganz wunderbar diesen kleinen Unterschied erfaßt, daß zu richtig echten großen Gefühlen (fast) immer 2 gehören. Daher ist es ziemlich einleuchtend, daß die einzigen zwei Filme (von denen, die ich gesehen habe), die diesem Anspruch gerecht werden, von einer ganz besonderen Beziehung zwischen zwei Menschen handeln:
Kolya von Jan Sverak, schildert liebevoll die Freundschaft zwischen einem schrulligen alten Prager Musiker und einem kleinen russischen Jungen; She´s so lovely von Nick Cassavetes ist die Geschichte einer Liebe à la folie und till eternity mit phantastischer Besetzung (Sean Penn und Robin Wright Penn). Anschauen.

Schlußwort, Fazit, Ausblick: Der Hardcore-Optimismus wird uns auch nächstes Jahr wieder rumkriegen. Aber dann halt ich mich ans Kinderfilmfest und fremde Kulturen in der Dokumentarfilmreihe. Vielleicht hat man da noch keine Angst vor Gefühlskitsch. Sehr vielversprechend war in der Hinsicht schon mal Eckhardt Schmidts Dokumentation „This shit is from the heart" über die HipHop-Musiker des Wu-Tang-Clans. Der Titel sagt alles. Sowas kann wirklich von keiner Katja Riemann kommen.

Nina Stuhldreher

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