Hunger - Sehnsucht nach Leben: diesem Drang verdanken
wir die schönsten Momente im Leben und zugleich die dümmsten
Wiederholungsfehler. Was den (fast ) gleichnamigen Film von
Dana Vavrova anbelangt, kann man jedoch nicht gerade behaupten,
daß er zu eben jenen Momenten zählen würde. Psychothematik
hin, Plattitüden her - ihn überhaupt gesehen zu haben, fällt
schon eher schwer unter Kategorie No.2: heißt dies doch, daß
man sich von eben jenem erfahrungsblinden Optimismus mal wieder
hat aufs Münchner Filmfest treiben lassen. Dabei schien das
diesjährige Motto so aufregend. "Festival der großen Gefühle".
Doch das Filmfestplakat hätte mir eigentlich schon eine Warnung
sein sollen, zeugt doch Sharon Stones so leidenschaftlich
geöffneter Mund weniger von innerer Bewegtheit denn von höchst
physischen Aktionen.. Daß diese kleine begriffliche Verwechslung
allerdings nicht nur den Plakatgestaltern unterlaufen ist
(und dabei brüstet man sich doch im Katalog noch damit, daß
das Plakat „für den diesjährigen Slogan die passende Umsetzung
gefunden" habe), sondern repräsentativ für ein gewaltiges
Mißverständnis der heutigen Zeit zu sein scheint, machten
die meisten der gezeigten Filme überdeutlich.
Befindlichkeiten statt großer Gefühle
Nehmen wir Bandits von Katja von Garnier, der sich
als idealer Eröffnungsfilm anbot, schließlich hatte die Regisseurin
passend zum Motto einen Film über ganz große Empfindungen
machen wollen, mit einer Story, die „von mehr handelt als
davon, ob der Nachbarshund Bauchschmerzen hat". Bei den Recherchen
für ihren Dokumentarfilm „Kicks", in dem sie junge Menschen
in Deutschland porträtiert, habe sie total resignierte Antworten
erhalten, gepaart mit einer Sehnsucht danach, endlich mal
den innersten Gefühlen Ausdruck verleihen zu dürfen, auch
wenn diese manchmal gegen die Etikette verstoßen ( z.B. solch
aufsässige Aktionen wie Tische umschmeißen). Daher habe sie
einen Film machen wollen, der einen „jungen", „rebellischen"
Geist transportiere. Ob sie das allerdings geschafft hat,
scheint eher fraglich angesichts der leidenschaftlichen Beteuerungen
diverser Kritiker, daß man nach diesem Film nicht mehr jung
sein wolle und „eine bisher nie geahnte Sehnsucht" nach der
guten alten Zeit verspüre, in der sich der Neue Deutsche Film
noch auf Beziehungskomödien beschränkte. (vergl. Tobias Kniebe
am 28.6. in der SZ).
Sehnsucht ist also das Stichwort, prägt sie doch, gepaart
mit einer gewissen Handlungsunfähigkeit der Akteure, die meisten
dieser Filme. So gibt sich Wong Kar-Wais schön fotografierter
aber etwas langatmiger Film „Happy Together" den Anschein
einer Liebesgeschichte (zweier schwuler Chinesen in Argentinien).
In Wahrheit ist er aber eher eine - dokumentarisch genau beobachtete
- Chronologie von Befindlichkeiten und Bedürfnisbefriedigungen,
die eben mit Liebe verwechselt werden. Aber ist das nicht
meistens so? Auch die Hauptfigur in Abel Ferraras „Blackout",
ein heruntergekommener drogensüchtiger Schauspieler, hat da
Orientierungsschwierigkeiten. Mit seiner neuesten „Kommt und
seht, wie verführbar der Mensch ist"-Version thematisiert
Ferrara selbsttreu und zugleich zeitgemäß diesen Teufelskreis
des Auslebens von Befindlichkeiten. Leider wird seine berauschende,
aber nicht eben kurzweilige Bilderflut am Ende auf eine etwas
enttäuschend einfache „Lösung" reduziert. Was bleibt, ist
eine Message, die die amerikanischen „Don´t drink & drive"-Kampagnen
in nur 10 Sekunden ebenso einleuchtend rüberbringen. (Ob des
Meisters Hang zu ausschweifenden Bildgelagen etwa an einer
gewissen Freude am Inszenieren sündiger Szenarios liegt....?)
Sag´s durch die Kugel
Genau genommen ist also diese Unfähigkeit zu handeln, die
den Filmcharakteren zu schaffen macht, vielmehr ein Problem
des richtigen Handelns. Wie einst der kleine Bastian
Balthasar Bux durch Phantasien odyssierte, so wurschteln sie
sich durch die Anforderungen der realen Welt, meist mit verheerend
bequemen Interpretationen des „Tu was du willst"-Wahlspruches
im Kopf. Da ist z.B. der russische Provinzjunge Danila in
Bratj, einem Film von Alexei Balabanov, der allein
schon wegen der außergewöhnlichen russischen Originalschauplätze
sehenswert ist. Danila zieht aus nach St. Petersburg, um dort
von seinem erfolgreichen Bruder zu lernen. Als dieser sich
als Berufskiller entpuppt und das Leben in der Stadt als harter
Western, in dem nur der Stärkere überlebt, paßt er sich erstaunlich
schnell an. Zu den „großen Gefühlen" aber, nach denen er sich
sehnt, ist er nicht fähig und flüchtet sich in Szenarios des
Kugelhagels - in deren Tragik ja durchaus die ersehnte ferne
Leidenschaft und der Touch of Eternity aufblitzen können,
wie uns bereits John Woo in „The Killer" und Wong Kar-Wai
in „Fallen Angels" gezeigt haben.
Auch Paul und Peter könnte man als emotional und sozial gestört
bezeichnen. Auch bei ihnen stellt das Töten eine Art Ersatzhandlung
dar: die beiden wohlerzogenen jungen Männer ziehen aus Ermangelung
unterhaltsamerer Ideen in schönster „Tu was du willst"-Manier
um den Block und ermorden genußvoll ganze Familien. Michael
Hanekes („Benny´s Video") neuer Film Funny Games soll
das Kinopublikum wachrütteln und der Konsumierbarkeit von
Gewalt beikommen. Mit an Psychofolter grenzenden Methoden
will er ins Bewußtsein zurückrufen, was Gewalt eigentlich
ist : „Schmerz, Verletzung anderer". In der Theorie mögen
das ja ganz hehre Ziele sein. Ein Funktionieren des Films
ist damit aber längst noch nicht gewährleistet. Durch das
Bedienen des Genres Thriller mit den üblichen Handlungsschemata
und ehrgeizigen Grausamkeiten gelingt ihm zwar eine kurzfristige
Programmierung des Zuschauers, deren Effekt sich am besten
mit dem einer Alkoholvergiftung vergleichen ließe - man läßt
erstmal die Finger von dem Zeug. Daß aber eine kleine rhetorische
Frage des Obermörders („Wollen Sie wirklich noch mehr davon
sehen?") als verhaltensverändernde Interaktivität verkauft
wird und ein kurzes, pseudophilosophisches virtuality-reality-Geplänkel
als scharfsinnige Selbstreflexion des Mediums, ist wohl etwas
dürftig, wenn nicht gar selbstgefällig.
Zurück zum Thema: auch strapazierte Nerven scheinen also
kein Indiz für große Gefühle zu sein. Wo verdammt stecken
dann aber diese Fabelwesen? Sind sie überhaupt noch im Medium
Film beheimatet, oder taugt dieses „nur noch" als Ausdruck
von Befindlichkeiten und Bedürfnissen? Worin überhaupt besteht
der Unterschied zwischen „großen Gefühlen" und Befindlichkeiten?
Nimm zwei
Schier verzweifelt angesichts solcher großen Fragen schlug
ich gedankenverloren den Katalog von 1996 auf, und da prangte
sie, die Antwort, gleich auf der vordersten Seite! „Im Kino
ist man nie allein." Et voilà; das Motto des letzten Jahres
hatte ganz wunderbar diesen kleinen Unterschied erfaßt, daß
zu richtig echten großen Gefühlen (fast) immer 2 gehören.
Daher ist es ziemlich einleuchtend, daß die einzigen zwei
Filme (von denen, die ich gesehen habe), die diesem Anspruch
gerecht werden, von einer ganz besonderen Beziehung zwischen
zwei Menschen handeln:
Kolya von Jan Sverak, schildert liebevoll die Freundschaft
zwischen einem schrulligen alten Prager Musiker und einem
kleinen russischen Jungen; She´s so lovely von Nick
Cassavetes ist die Geschichte einer Liebe à la folie und
till eternity mit phantastischer Besetzung (Sean Penn
und Robin Wright Penn). Anschauen.
Schlußwort, Fazit, Ausblick: Der Hardcore-Optimismus wird
uns auch nächstes Jahr wieder rumkriegen. Aber dann halt ich
mich ans Kinderfilmfest und fremde Kulturen in der Dokumentarfilmreihe.
Vielleicht hat man da noch keine Angst vor Gefühlskitsch.
Sehr vielversprechend war in der Hinsicht schon mal Eckhardt
Schmidts Dokumentation „This shit is from the heart" über
die HipHop-Musiker des Wu-Tang-Clans. Der Titel sagt alles.
Sowas kann wirklich von keiner Katja Riemann kommen.
Nina Stuhldreher
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