Ein Nachtclub in Paris. Drinnen die
Gangster, noch wiegen sie sich in Sicherheit. Draußen die Polizei.
Die Ruhe vor dem Sturm. Plötzlich stürzt ein Mann auf die Straße.
Der Drogenkonsum zeitigt durchschlagende Folgen. Da bleibt nur die
Erleichterung in den Seinekanal. Ein suchender Blick. In Reichweite
liegt eine Zeitschrift auf der Straße. Die Kamera identifiziert sie
als Exemplar der Cahièrs Du Cinéma. Wer bislang nichts anzufangen
wußte mit dieser Postille der Filmkritik, dem werden nun vielleicht
neue Perspektiven eröffnet. Das einstige Bollwerk der Kritiker und
späteren Regisseure der Nouvelle Vague kann heute allemal noch dazu
dienen, sich den Hintern abzuwischen.
So gesehen in Jan Kounens Spielfilmdebüt DOBERMANN, dem der
Publikumserfolg von Cannes vorauseilte, und der vor dem offiziellen
Deutschlandstart das Programm des 11. Fantasy Filmfestivals
beschloß.
Kounen will provozieren, zweifellos. Geglückt ist ihm dies
allerdings nur sehr bedingt. Undifferenzierte Gewaltdarstellung in
Anlehnung an PULP FICTION (hier scheint der überstrapazierte
Vergleich tatsächlich einmal gerechtfertigt zu sein) ist so neu
nicht. Was sich laut, schrill und ultrazynisch gibt, ist nicht per
se subversiv. Nun ist der Verstoß gegen die Regeln, zumal die
eingefahrenen des Kinos, grundsätzlich begrüßenswert. Es bleibt die
Frage, was von einem Regisseur zu halten ist, der im wahrsten Sinne
des Wortes auf Filmverständnis im Sinne der Cahièrs Du Cinéma
scheißt, sich dann aber ergeht in Bildern und ästhischen
Kunstgriffen, die auf eben jenem Verständnis basieren. So treibt
Kounen frisch von der Leber weg sein permanentes Spiel mit der
Vierten Wand, erhebt den Blick in die Kamera zum Programm oder
zitiert an prominenter Stelle Robert Aldrich´s KISS ME DEADLY.
Bilderstürmer Kounen erweist sich bei näherer Betrachtung also als
Schattenboxer. DOBERMANN ist nicht so apokalyptisch wie er sich
gerne geben möchte.
Dabei bietet gerade der Horrorfilm wie kaum ein anderes Genre die
Möglichkeit, Regeln zu brechen, aktuelle Tagespolitik dem
kritischen Blick preiszugeben. All das im Schutz des scheinbar
Fantastischen, des Irrealen, das so manchem Filmemacher jene
Narrenfreiheit garantierte, in deren Schatten sie das subversive
Potential ihrer Filme voll entfalten konnten.
So formulierte es auch der walisische Regisseur Julian Richards,
der sich anläßlich der Aufführung von DARKLANDS zum Gespräch
stellte. Gerade eine halbe Millionen Pfund teuer, wurde der Film in
nur fünf Wochen fertiggestellt. Vor dem Hintergrund keltischer
Religion, düsterer Zeremonien und Menschenopferungen, will Richards
DARKLANDS auch verstanden wissen als Film über seine Heimat Wales
und die Waliser, ihre Identitätssuche im übergeordneten Kontext
Großbritaniens, sowie den aufkommenden Nationalismus vor dem
Hintergrund des wirtschaftlichen Niedergangs.
Ein verstörender Höhepunkt des Festivals auch GONIN 2. Ishii
Takashi führt auf bedrückend intensive und pessimistische Weise
vor, wie sich die Gewalt der Männerwelt auf Frauen auswirkt. Ein
kurzer Moment des Glücks, ein flüchtiger Traum von der Freiheit ist
den fünf Frauen vergönnt, die zufällig in einen Überfall verwickelt
werden und mit der Beute zunächst fliehen können. Aber nur wenn sie
wie Leichen auf dem Boden liegen, können die Frauen ihre
optimistischen Zukunftspläne schmieden. Ein Anachronismus. GONIN 2
weist keinen Ausweg aus der Gewalt als die Gewalt selber. In einer
Schlußvision werden die drei überlebenden Frauen durch das
nächtliche Tokyo ziehen und Männer abknallen. Daß das Publikum
Sätze wie "Sorry, we have no time to rape your wife today" mit
schenkelkbrechendem Gelächter quitierte, mag als Ausdruck der
Hilflosigkeit durchgehen. Lustig war dieser Film wirklich
nicht.
Der versuchten Provokation also soweit überführt Wales und Japan.
Wie sieht es aber aus mit den Beiträgen aus den Vereingten Staaten?
Zumindest anteilsmäßig liegen die USA weit vorn im Rennen,
qualitativ zu überzeugen wußten dagegen nur wenige Filme.
David Michael Latt´s KILLERS (ja, auch hier ging man wieder
einmal mit der PULP FICTION Referenz hausieren) ergeht sich in
merkwürdiger Madonnensymbolik inklusive Kreuzigung und
anschließender Pieta und lehrt unter dem Strich, was wir eigentlich
in den Zeiten von AIDS längst wissen sollten: Sex kann das Leben
kosten, aber Mütter sind sakrosankt und überdauern auch den Kampf
gegen das Tier (im) Mann, der hier strippt wie ein Chippendales
Veteran. Provokationsfaktor: Null.
VAMPIRE JOURNALS präsentiert sich als schamlose Kopie von Neil
Jordans meisterhaftem INTERVIEW WITH THE VAMPIRE. Da werden die
Locken des bösen Untoten Ash haargenau (!) so onduliert wie weiland
der Blondschopf von Tom Cruise alias Lestat, da stibitzt
Gegenspieler Zachary unverblümt Dialogzeilen aus dem Munde Brad
Pitts alias Louis. All das könnte erträglicher sein, wenn die
Darsteller nur halb so gut aussehen würden, wie die Vampire Cruise,
Pitt oder Banderas. Tun sie aber nicht. Provokationsfaktor: für
eingeschworene INTERVIEW-Aficionados wie mich beträchtlich,
ansonsten Null.
Ein Brad-Pitt-Verschnitt a lá CALIFORNIA tummelt sich auch in der
Ballade um Gangsterethos und Racheschwüre CITY OF INDUSTRY (nein:
der Vergleich mit RESERVOIR DOGS ist nicht statthaft!). Verläßlich
gut ist Harvey Keitel und auch Timothy Hutton macht das Beste aus
seinem kurzen Auftritt. Solide Kinoware in phallischem
Showdown-Ambiente. Provokationsfaktor: Null.
Ein absolut gewaltfreier Film wurde den erwartungsvoll der Sneak
Preview harrenden Zuschauern angekündigt. Dabei hatte das Gerücht
bereits die Runde gemacht, als Rainer Stefan das Podium betrat und
somit kam der Überraschungsfilm wohl nur noch für einen kleinen
Teil wirklich überraschend. Was bleibt zu sagen zu einem weiteren
Auswurf der Walt Disney Studios, außer daß auch HERCULES wieder das
Hoch auf die heile Familie ausbringt, arische Helden ins Rennen
schickt und den ein oder anderen antisemitischen Pinsel schwingt.
Walt Disney - da weiß man was man hat. Provokationsfaktor:
erheblich, allerdings ex negativo, womit der Genuß auf der Strecke
bleibt (Übrigens: wer einen gewaltfreien Disney kennt, bitte
melden!).
Wirklich ärgerlich der wohl schlechteste Film des Festivals
(Sommers? Jahres? Jahrzehnts?): BRAM STOKERS SHADOW BUILDER hat
nicht nur Nichts zu tun mit einer etwaigen Vorlage des
DRACULA-Autors, sondern auch relativ wenig mit der Kunst des
Horrorfilms an sich. Daß der Film noch nicht fertiggestellt war,
kann den Eindruck höchstens positiv beeinflusst haben. So war die
unvermittelte Einblendung "Scene Missing" zumindest der beste
Lacher des Streifens. In Ermangelung eines Soundtracks bediente man
sich ungeniert bei Jordan´s INTERVIEW, Coppola´s DRACULA,
HELLRAISER, SCREAM und anderen. Provokationsfaktor: siehe oben (dem
INTERVIEW WITH THE VAMPIRE Fan wurde es wahrlich nicht leicht
gemacht dieses Jahr!)
Im Mittelmaß fanden sich allerdings auch einige Juwelen, und die
wären schließlich weniger erfreulich, wenn en gros verfügbar.
GROSSE POINT BLANK darf wohl zurecht als einer der Publikumserfolge
des Festivals gewertet werden. Eine rabenschwarze Kömödie, die
diese Woche in den Kinos startet und nicht verpaßt werden sollte.
Auch FEELING MINNESOTA hat einen Verleih gefunden. Die Beziehung
zweier ungleicher Brüder (Vincent D´Onofrio und Keanu Reeves) wird
von Steven Baigelman mit reichlich schrägem Humor in Szene gesetzt.
Ein vielversprechendes Debüt, dem nur der allzu
konservativ-versöhnliche Schluß nicht gut steht.
Die Filme um den berüchtigten timewarp kennen wir alle, heißen
sie nun GROUNDHOG DAY oder 12:01. Während herkömmlicherweise mit
jeder Zeitschleife alles etwas besser wird, der Held kleine
Fortschritte macht, wird es für die Protagonisten in Louis Morneaus
RETROACTIVE mit jeder Reise in die Vergangenheit blutiger, die Zahl
der Leichen steigt, Kontrollfähigkeit wächst nicht etwa
proportional zum akkumulierten Wissen, sondern sinkt vielmehr
rapide ab. Ein Film als Gegenbeweis für wohlmeinende
Erziehungsberechtigte (nein, Erfahrung macht nicht klüger!!). Der
ultimative Film auch zum 20. Todestag des King of Rock ´n´ Roll.
Nie war ein Elvis-Verschnitt so fies wie John Belushi! Kein Film
für verstörte Graceland-Pilger oder Elvis Lebt! Gläubige. Für alle
anderen ein Geheimtip!
Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis, daß die Filmnation USA
derzeit wirklich nur in der Komödie zu begeistern weiß, was ja
bekanntlich eine der schwierigsten Künste sein soll. Das wirklich
Verstörende, Düstere, Provokante kam dieses Jahr aus Asien und
Europa. Dennoch: nach zwanzig Filmen inklusive mittelmäßiger Kost
bleibt das Fantasy Filmfest auch dieses Jahr wieder unangefochten
der Rezensentin liebster Filmevent in und um München und hat sich
seinen Platz im Terminkalender 1998 definitv gesichert.
Regine Welsch
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