Viel gescholten wurde die documenta und
nicht nur die diesjährige zehnte. Daß gerade noch rechtzeitig vor
der Jahrtausendwende erstmalig eine Frau das künstlerische Ruder
übernehmen durfte (!) hat die Kritiker trotz Quotenregelung nicht
eben milder gestimmt. Zu kühl, zu verkopft befand man das
Ausstellungskonzept einhellig, und attestierte Macherin Catherine
David prompt emotionale Defizite.
Genderpolitisch muß weibliche Intelligenz immer noch als Makel
gelten, beweist sie doch, daß frau die Gesetze der natürlichen
Arbeitsteilung nicht verstanden hat: das Weib gebärt die Kinder,
der Mann die wirklich großen Kunstwerke. Gott schuf die Welt in
sieben Tagen, Eva brachte nur das ungleiche Brüderpaar Kain und
Abel zuwege und wo das hinführte, ist hinlänglich bekannt.
Zu Mord und Totschlag wird die dX wohl, Gott sei´s getrommelt,
nicht führen, obwohl es zur Verhaftung des Filmemachers Christoph
Schlingensief allemal gereicht hat. Catherine David hat
Künstler verpflichtet, die ihre Weltsicht nicht mehr primär auf der
Leinwand und in Öl ausdrücken. Die Videobeiträge der dX
präsentieren sich in Räumen, die lediglich vom Flimmern der
Leinwand erhellt werden. Hier mag man sich erinnert fühlen an die
Anfangstage der "bewegten Bilder", bevor das Bürgertum zu fürchten
begann, daß im anarchistischen Dunkeln gut munkeln sein könnte und
prompt die Notbeleuchtung einführte.
Die Filme und Filmchen der dX rangieren zwischen Spielfilmlänge
und wenigen Minuten in der Endlosschleife des Projektors. Letzteres
präsentiert Stan Douglas mit DER SANDMANN. Basierend auf
Textfragmenten aus E.T.A. Hoffmanns gleichnamiger Novelle zeigt
Douglas die Welt in einer einzigen kreisförmigen Kamerafahrt. Wo
der Film auf Schnitte verzichtet, sorgt das konsequent
durchgehaltene Mittel des Splitscreen dafür, daß nicht alles so
glatt, so rund wirkt, wie die Kamera vorzugeben scheint. Daß die
Bilder verknüpft werden mit den Worten romantischer Dichtung ist
nicht so antagonistisch, wie es vielleicht scheinen mag.
Schließlich ist die Literatur E.T.A. Hoffmanns in ihrer
Auseinandersetzung mit künstlichen Realitäten und Automatenmenschen
(Cyborgs?) 1997 aktueller denn je.
Filmemacher Hans Jürgen Syberberg geht es in seiner Installation
CAVE OF MEMORY weniger um das Was als vielmehr um das Wie des
Informationskonsums im Medienzeitalter. Die Technik der Collage,
das Zeitmosaik nutzte Syberberg bereits in den siebziger Jahren.
LUDWIG - REQUIEM FÜR EINEN KÖNIG, KARL MAY und HITLER - EIN FILM
AUS DEUTSCHLAND verstanden sich als Dekonstruktionsversuche. Immer
war Syberberg bemüht, eindeutige Interpretationen in einer Vielzahl
von widersprüchlichen Aussagen aufzulösen.
Wo Syberbergs Spielfilme ihre Puzzleteile in linearer Anordnung
präsentierten, ist die CAVE OF MEMORY Informationschaos,
enervierend zunächst und bei näherer Betrachtung doch um so mehr
Alltagserfahrung. Acht Videowände, ein gutes Dutzend Fernseher,
sich überlagernde Tonspuren. Ob Mozarts Requiem oder Schleefs
Faustinszenierung vor den geschlossenen Türen des Schillertheaters
Berlin, ob Kleist oder Becket: wie mit der Fernbedienung auf dem
heimatlichen Sofa bleibt dem Betrachter eine minimaldemokratische
Auswahlmöglichkeit in der Konzentration auf ein Objekt. Nur
ausblenden lassen sich die temporär unerwünschten Bilder und Töne
bei Syberberg eben nicht.
Um die Gier der Sensationsgesellschaft nach Fakten, Fakten,
Fakten, die letztendlich doch immer Fiktion bleiben, geht es auch
Johan Grimonprez. DIAL H-I-S-T-O-R-Y signalisiert, daß Geschichte
konstruier- und abrufbar ist, sich historische Wahrheiten aus der
zeitlichen Distanz beliebig neu formulieren lassen. Dabei hat der
Katastrophenkonsum im Fernsehalltag höchsten Unterhaltungswert -
siehe jüngste Ereignisse in Paris.
Als Pseudo-Dokumentarfilm bezeichnet der Regisseur seinen Film,
der fast abendfüllende Länge erreicht. Zu Textauszügen aus Don
DeLillos WHITE NOISE und MAO II komponiert Grimonprez Bilder von
Flugzeugentführungen, Attentaten, Terrorismus, Blut und Leichen,
Opfern und Tätern. Der Beschallung mit belanglos-fetziger Tanzmusik
zum Trotz bleibt der Totentanz schwer verdaulich. Und wenn
US-Präsident Clinton sich ausschütten will vor Lachen nachdem just
ein weiteres Flugzeug explodiert ist, vermittelt Grimonprez über
die Montage, was Geschichtsschreibung eigentlich immer ist:
gruselig.
"Das Bild", so Zbigniew Herbert, "ist Ausdruck der Sehnsucht nach
der fernen, unerreichbaren, verlorenen Wirklichkeit". Oder auch
einer nie Existenten, nur Erträumten. Die Bilder, bewegte und
andere, der dX regen an zum Nachdenken über unsere
Realität(en).
Also: allen Cineasten, die Spielbergs Saurier schon haben rennen
sehen und auch ansonsten dem Sommerhit Kino nicht allzuviel
Sehenswertes abgewinnen konnten, sei die Fahrt nach Kassel ans Herz
gelegt, bevor die dX am 28. September ihre Pforten schließt.
Regine Welsch
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