Berlin, 11.Februar. Es geht los.
Ausgerechnet "Sweet Dreams" heißt eine Sammlung von Kurzfilmen, mit
der an diesem Mittwoch in Berlin die Filmfestspiele beginnen. Was
könnte uns hoffnungsfroher stimmen ? Von nun an wird es fast zwei
Wochen lang täglich 3 Wettbewerbsfilme zu sehen geben, dazu pro Tag
Dutzende anderer aktueller Produktionen in den traditionellen Reihen
"Panorama" und "Internationales Forum". Außerdem locken zwei
verführerische Retrospektiven, eine zu Catherine Deneuve, die andere
zu den Brüdern Robert und Curt Siodmak, die die Münchner Kinogänger
schon gut vom letzten Filmfest und diversen Vorführungen im
Filmmuseum kennen dürften.
In diesen nächsten zwölf Tagen, so darf man erwarten, wird sich
hier tatsächlich bereits vieles von dem abzeichnen, das das
bevorstehende Filmjahr prägen wird. Schließlich gilt die Berlinale
als zweitgrößtes Filmfestival der Welt, und hierher kommt alles,
was Rang und Namen hat, und nicht in Cannes oder Venedig Premiere
haben wird.
Filmgeschichte in Jahren zu rechnen, mag auf den ersten Blick
allzu simpel wirken, denn mit Jahreszeiten, mit Aussaat und Ernte
hat das Filmgeschäft, so scheint es, genauso wenig zu tun, wie sich
seine Trends nur durch ein neues Datum plötzlich ins Gegenteil
verkehren.
Und doch. Filme werden getimed, und schon aus werbestrategischen
Gründen sind Fragen der Präsenz auf einem -und auf welchem-
Festival wichtig. Hinzu kommen die Preise. Und für kleinere
unbekanntere Produktionen ist ein Festival die Chance sich vor
großem, professionellen und aus der ganzen Welt angereistem
Publikum zu präsentieren. Für die "Kleinen" ist das sogar noch viel
wichtiger, als für Filme aus großen Studios, die allemal mit großem
Werbebudget auf den Markt geworfen werden, und darum oft eine
Wettbewerbsteilnahme scheuen, bei der sie nur verlieren können.
Insofern sind Filmfestivals Zwischenbilanzen, Zusammenfassungen,
Börsen über den augenblicklichen Stand der Dinge, die einen
besseren, weil konzentrierteren Vergleich erlauben. Und Themen wie
Tendenzen sichbarer machen. Nichts also gegen Filmfestivals, auch
nichts gegen große. Und nichts gegen die Theorie von
Filmjahrgängen.
Im letzten Jahr jedenfalls spiegelte die Berlinale bereits alles,
was noch kommen sollte im durchwachsenen Filmjahr 1997. Keine
schlechten Filme, aber irgendwie unaufregende. Teurer Mainstream,
der meist altes kaum originell aufbereitete, zwei, drei gute
Überraschungen (ROMEO AND JULIET natürlich und dann den von der
Kritik einseitig als Kitsch mißverstandenen ENGLISH PATIENT) und
unter den Independent-Produktionen einige schöne Sachen,
beispielweise interessante Fortsetzungen des Trends zu Filmen von
und über junge Frauen. Aber doch nichts wirklich Überraschendes,
neue Horizonte öffnendes.
Blickt man auf das diesjährige Programm, darf man hoffen. Es ist
ohne Frage stärker, als im vergangenen Jahr. Manche sagen sogar:
das beste seit Jahren. Allein schon der Wettbewerb: Die neuen Filme
von Tarantino, den Coen-Brüdern, von Alain Resnais und Barry
Levinson finden sich da ebenso wie die von Neil Jordan und Robert
Altman (außer Konkurrenz). In letzter Minute sagte auch Francis
Ford Coppola noch zu: wie Altman mit einer John Grisham-Verfilmung.
Ein hochkarätiger Wettbewerb, bei dem es schwerfällt, Favoriten zu
benennen.
Mit zu ihnen könnte THE BOXER gehören, mit dem die Berlinale am
Nachmittag eröffnete: Ein in Belfast spielendes anrührendes
IRA-Drama, von Jim Sheridan mit (echtem, nicht falschem) Pathos
inszeniert. Sollte der Wettbewerb so weitergehen, werden es schöne
zwei Wochen werden in Berlin.
Aber der Sinn eines Festivals ist vor allem die Begegnung mit dem
Fremden und Unerwarteten, mit Filmen, die man nur hier sehen wird,
und dann nie mehr in den Kinosälen. Asiatische Beiträge bilden
diesmal das konzentrierteste Angebot: mit blumigen Titeln locken
vor allem japanische und koreanischer, daneben auch chinesische
Filme das Publikum: SWEET DEGENERATION und JUNK FOOD heißen sie
sehr vielversprechend, oder auch TIMELESS BOTTOMLES BAD MOVIE.
Daneben gibt es dann noch ziemlich viel zu Sergej Eisenstein und
Bertold Brecht, etwa mit einem so schönen Titel wie LIEBE,
REVOLUTION UND ANDERE GEFÄHRLICHE SACHEN. Wenn das nicht hoffen
läßt.
Fin de Siecle-Blüte kurz vor der Jahrtausendwende, süße Träume in
künstlichen Paradiesen - egal was davon geblieben sein wird, wenn
die Party in zwei Wochen vorbei ist: zumindest als Versprechen
macht die 48.Berlinale Laune. Freuen wir uns drauf. Auf nach Berlin
!
Rüdiger
Suchsland
|