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Kritik am Hof von König Jim
Weshalb und zu welchem Ende verfaßt man Filmkritiken?

  16.04.1998
 
 
 
 

Daß Kritiker aber auch immer meckern müssen: Da erdreistet sich der gute Kenneth Turan (seines Zeichens Filmrezensent der Los Angeles Times) doch tatsächlich, das ein oder andere Haar in der Eismeer-Suppe von TITANIC zu finden. Und diese Ansicht, nach heftigen Breitseiten der Leserschaft, auch noch zu verteidigen.
Hätt' er aber auch wirklich wissen können, daß man sowas nicht macht; jetzt, wo James Cameron sich zum König der Welt gekrönt hat. Dem nicht minder guten Herrn Cameron können selbstverständlich 11 Oscars und $1 Mrd. weltweites Einspielergebnis nicht ausreichen, um sein garganteskes Ego hinreichend bestätigt zu sehen, und so stieg er kurzerhand von seinem Thron, um sich als Leserbriefschreiber zu betätigen.
Dem Resultat nach zu urteilen darf man vermuten, daß der Terminator in wesentlichen Zügen ein Cameronsches Selbstportrait ist: König Jim war mächtig böse, und Kenneth Turan darf wohl von Glück sagen, daß der Monarch nur zur Schreibmaschine und nicht zur Uzi gegriffen hat.
Turan hasse ohnehin alle Filme, habe schon längst jegliche Bodenhaftung zum ehrlichen Geschmack der arbeitenden Bevölkerung verloren, und sei zu stur und zu feige, die Unhaltbarkeit seines Urteils einzugestehen, obwohl doch mittlerweile bewiesen (!!!) sei, daß er unrecht habe, war in Camerons Attacke zu lesen. Am Schluß seiner giftsprühenden Keiferei wollte Big Jim denn auch noch Köpfe rollen sehen und forderte Turans fristlose Kündigung - mit einem starken Vergleich: "Forget about Clinton - how do we impeach Kenneth Turan?"

Nun könnte uns das alles herzlich egal sein: Hierzulande hält sich die betroffene Leserschaft der L.A. Times in engsten Grenzen, und James Cameron sei seine kindische Monomanie gegönnt und verziehen - sie ist halt nun mal Voraussetzung dafür, daß er seine Art von Filmen überhaupt in die Welt setzen kann.
Und wessen Urteil in bezug auf TITANIC das treffendere ist, dürften mittlerweile alle für sich selbst entschieden haben. (Da wär' ich übrigens sogar auf Camerons Seite.)
Aber ein Aspekt an der Kontroverse hat mich denn doch hinreichend beschäftigt um mich dazu zu bewegen, mir in diesem Rahmen meine Gedanken zu machen: Die Frage "Was soll und darf ein Filmkritiker?"

Wenn es nach Cameron ginge, dann hätte Filmkritik genau eine Aufgabe: das gewöhnliche Durchschnittspublikum darüber zu informieren, ob es als Gegenleistung für sein sauer verdientes Geld bei dem fraglichen Leinwandepos mit Unterhaltung in gewünschter und üppiger Weise rechnen kann. Also der Rezensent als Vorkoster, dessen Geschmack möglichst dem der sogenannten breiten Masse zu entsprechen hat.
Als erstes wollen wir darüber hinwegsehen, daß es freilich grober Unfug ist anzunehmen, daß es so etwas wie einen einheitlichen Geschmack von Otto und Erna Normalkinoverbraucher gäbe - das von Cameron postulierte Durchschnittspublikum ist sich üblicherweise genauso uneinig wie die Zunft der professionellen Kritiker. (Es sollen sogar, so geht das Gerücht, schon vereinzelt ganz gewöhnliche Kinobesucher gesichtet worden sein, die Kenneth Turans geringschätzige Ansicht über TITANIC teilen.)
Dann bleibt uns immer noch der Kern von Camerons Argument, der in etwa so lautet: Schreibt man über Filme in der Meinung, angemessenere Maßstäbe für deren Beurteilung zu haben als das große Publikum, dann macht man sich des bösen, elitären Schnöseltums strafbar.
Wer zahlt, schafft an; alles andere zählt nicht: im Besitz der alleinseligmachenden Weisheit sind diejenigen, die am zahlreichsten ihr Geld an die Kinokasse tragen - sie entscheiden über die gültigen Qualitätskriterien.

Nun sind aber Filmkritiker, die diese Bezeichnung wirklich verdienen und ihre Tätigkeit ernst nehmen, Menschen, die sich weit überdurchschnittlich intensiv mit Film auseinandersetzen. Sie verbringen wesentlich mehr Zeit im Kino als andere Zeitgenossen, haben ein weitaus größeres und breiter gefächertes Repertoire an Filmen, bemühen sich um mehr Hintergrundwissen, sind kundig in Filmgeschichte und beschäftigen sich gründlich mit Filmtheorie.
Daß eine solch intensive Auseinandersetzung und ein stetiges Reflektieren über Film die Sichtweise verändert, hat nichts mit elitärer Schnöselei zu tun - für Dinge, über die man fundiertes Wissen hat, bekommt man einfach andere Augen.
Jeder kennt aus eigenem Erleben sicher genug Beispiele dafür, daß die Wahrnehmung für Dinge eine ganz andere wird, wenn man sich lange mit ihnen beschäftigt hat. Keiner erwartet von einem Automechaniker, daß der einen Motor mit dem selben Blick wahrnimmt wie ein technischer Laie; einem Musiker macht man es nicht zum Vorwurf, wenn er auf einem Notenblatt nicht nur Striche und Punkte erkennt und wenn er sich über Gehörtes ganz anders äußert als jemand mit untrainierten Ohren; ein Schachspieler wird nicht für einen Schnösel gehalten, weil er auf dem Brett ein Geflecht von Beziehungen erkennt anstatt einer beliebigen Ansammlung von Figuren.
Warum also sollte ein Kritiker Filme so wahrnehmen müssen wie ein naiver Gelegenheits-Kinobesucher? Das wäre doch ein wahrhaft trauriges Ergebnis von jahrelanger Beschäftigung mit Film.
Und was ist gar so böse an der Annahme, daß das, was dieser Kritiker zu einem Film zu sagen hat, mehr Gewicht und Relevanz für sich in Anspruch nehmen darf als die Meinung eines Menschen, der alle paar Wochen ins Kino geht, um sich vom Alltag abzulenken?

"Vom Alltag ablenken": Da sind wir an einem wichtigen Punkt. Denn wo sich die Ansichten eines (guten) Kritikers und der überwiegenden Mehrheit des Publikums wohl am deutlichsten scheiden, ist in der Grundüberzeugung, daß Film mehr ist als "nur Unterhaltung".
Zu erst weil es so etwas wie "bloß Unterhaltung" schlichtweg nicht gibt. Selbst (oder wohl eher: gerade) jene Filme, bei deren Produktion alle Beteiligten nur routinemäßig ihren Job verrichtet haben, ohne je einen Gedanken an tiefere Bedeutungen zu verschwenden; jene Filme, die kreuzbrav und ohne jedwelche Ecken und Kanten alle akzeptierten Muster erfüllen, sind kulturelle Artefakte ihrer Zeit, sind unausweichlich Spiegel oder Zerrspiegel ihrer Welt, die reflektieren, was die Gesellschaft bewegt, in der sie entstanden sind. Jeder Film ist eine kleine Welterklärung, ein Versuch, dem, was zu einem gewissen Zeitpunkt in einer Kultur vor sich geht, Struktur und Sinn zu geben. Wo die Oberfläche am wenigsten Widerstand bietet, läßt sich am tiefsten ins Herz der Kultur blicken - weshalb gerade jene Filme, die im Augenblick am selbstverständlichsten, unscheinbarsten, "bloß unterhaltendsten" wirken, im Lauf der Jahre immer fremder und unverständlicher werden.
Zu den Aufgaben eines Kritikers sollte es gehören, diese Filme als Symptome zu sehen, sie als Seismogramm zu lesen. Eine gute Filmkritik kann es leisten, daß durchschaubar wird, welchen Platz ein Film in seiner Zeit hat, welche kulturelle Arbeit er leistet, welches gesellschaftliche Ritual er zelebriert; welches Weltbild er propagiert und - große Worte, ich weiß - welche Ideologie und Moral sich dabei offenbart.

In den wenigsten Fällen aber dürften solche Einsichten dazu geführt haben, daß jemand sich entschließt, sich dem Schreiben über Film zu widmen. Ausschlaggebend dafür ist wohl fast immer eine andere Art der Überzeugung, daß Film mehr als "bloß Unterhaltung" ist: Für einen (guten) Kritiker ist Film stets auch Kunst. Im besten Fall bringt das Kino Kunstwerke hervor, die an geistiger Größe denen in Musik, Malerei, Literatur in nichts nachstehen. Und wie es reich lohnt, sich immer wieder und immer genauer mit einem Streichquartett von Beethoven oder einem Roman von Hawthorne zu beschäftigen, so ist es höchst gewinnbringend, sich mit Filmen wie beispielsweise denen von Sirk, Hitchcock oder Scorsese auseinanderzusetzen.
Hier hat Filmkritik als Ziel gewiß in hohem Maße den persönlichen Erkenntnisgewinn - aber auch die Schaffung eines Bewußtseins des Publikums dafür, wo es sich wirklich lohnt, genauer hinzusehen. Es gibt in der Kunst nun einmal Dinge, die sich dem ersten Blick nicht erschließen; wo es erst so richtig interessant wird, wenn man sich die Mühe macht, unter der ansprechenden Oberfläche weiterzuforschen.
Filmkritik, die mehr sein will als Erfüllungsgehilfin der Filmwirtschaft, muß sich auch trauen dürfen, dafür entscheidende Fingerzeige zu geben. Ein gelungener Text kann es dabei vielleicht sogar schaffen spürbar zu machen, daß Kategorien wie "gut" und "schlecht", oder das Kriterium der Unterhaltsamkeit, oft bei weitem nicht die wichtigsten sind; daß es da, wo Kino sein volles Potential ausschöpft, um viel spannendere Dinge geht.

Daß es dabei begrüßenswert ist, wenn dies alles in einem Ton geschieht, der von Hochnäsigkeit frei ist, und daß man deswegen die "naive" Reaktion jener Kinobesucher nicht mißachten sollte, die sich mit Film nicht intensiver beschäftigen - das steht außer Frage.
Aber dieses Publikum täte im Gegenzug gewiß oft gut daran, wenn es Kritiken, die offensichtlich an mehr interessiert sind als der Frage, ob ein Film gute Unterhaltung bietet, nicht gleich als besserwißerische Bevormundung und intellektuelle Spintisiererei abtut.
Denn eine gelungene Kritik sollte immer auch ein Hinweis darauf sein, wo es noch mehr zu entdecken, noch Spannendes zu sehen gibt; wo außer zwei Stunden unterhaltsamen Eskapismus etwas zu holen ist.
Und damit immer ein Angebot, mehr vom Kino zu haben.

Thomas Willmann

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