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Daß Kritiker aber auch immer meckern müssen: Da erdreistet sich
der gute Kenneth Turan (seines Zeichens Filmrezensent der Los
Angeles Times) doch tatsächlich, das ein oder andere Haar in der
Eismeer-Suppe von TITANIC zu finden. Und diese Ansicht, nach
heftigen Breitseiten der Leserschaft, auch noch zu
verteidigen. Hätt' er aber auch wirklich wissen können, daß man
sowas nicht macht; jetzt, wo James Cameron sich zum König der Welt
gekrönt hat. Dem nicht minder guten Herrn Cameron können
selbstverständlich 11 Oscars und $1 Mrd. weltweites Einspielergebnis
nicht ausreichen, um sein garganteskes Ego hinreichend bestätigt zu
sehen, und so stieg er kurzerhand von seinem Thron, um sich als
Leserbriefschreiber zu betätigen. Dem Resultat nach zu urteilen
darf man vermuten, daß der Terminator in wesentlichen Zügen ein
Cameronsches Selbstportrait ist: König Jim war mächtig böse, und
Kenneth Turan darf wohl von Glück sagen, daß der Monarch nur zur
Schreibmaschine und nicht zur Uzi gegriffen hat. Turan hasse
ohnehin alle Filme, habe schon längst jegliche Bodenhaftung zum
ehrlichen Geschmack der arbeitenden Bevölkerung verloren, und sei zu
stur und zu feige, die Unhaltbarkeit seines Urteils einzugestehen,
obwohl doch mittlerweile bewiesen (!!!) sei, daß er unrecht habe,
war in Camerons Attacke zu lesen. Am Schluß seiner giftsprühenden
Keiferei wollte Big Jim denn auch noch Köpfe rollen sehen und
forderte Turans fristlose Kündigung - mit einem starken Vergleich:
"Forget about Clinton - how do we impeach Kenneth Turan?"
Nun könnte uns das alles herzlich egal sein: Hierzulande hält
sich die betroffene Leserschaft der L.A. Times in engsten Grenzen,
und James Cameron sei seine kindische Monomanie gegönnt und
verziehen - sie ist halt nun mal Voraussetzung dafür, daß er seine
Art von Filmen überhaupt in die Welt setzen kann. Und wessen
Urteil in bezug auf TITANIC das treffendere ist, dürften
mittlerweile alle für sich selbst entschieden haben. (Da wär' ich
übrigens sogar auf Camerons Seite.) Aber ein Aspekt an der
Kontroverse hat mich denn doch hinreichend beschäftigt um mich dazu
zu bewegen, mir in diesem Rahmen meine Gedanken zu machen: Die
Frage "Was soll und darf ein Filmkritiker?"
Wenn es nach Cameron ginge, dann hätte Filmkritik genau eine
Aufgabe: das gewöhnliche Durchschnittspublikum darüber zu
informieren, ob es als Gegenleistung für sein sauer verdientes Geld
bei dem fraglichen Leinwandepos mit Unterhaltung in gewünschter und
üppiger Weise rechnen kann. Also der Rezensent als Vorkoster,
dessen Geschmack möglichst dem der sogenannten breiten Masse zu
entsprechen hat. Als erstes wollen wir darüber hinwegsehen, daß
es freilich grober Unfug ist anzunehmen, daß es so etwas wie einen
einheitlichen Geschmack von Otto und Erna Normalkinoverbraucher
gäbe - das von Cameron postulierte Durchschnittspublikum ist sich
üblicherweise genauso uneinig wie die Zunft der professionellen
Kritiker. (Es sollen sogar, so geht das Gerücht, schon vereinzelt
ganz gewöhnliche Kinobesucher gesichtet worden sein, die Kenneth
Turans geringschätzige Ansicht über TITANIC teilen.) Dann bleibt
uns immer noch der Kern von Camerons Argument, der in etwa so
lautet: Schreibt man über Filme in der Meinung, angemessenere
Maßstäbe für deren Beurteilung zu haben als das große Publikum,
dann macht man sich des bösen, elitären Schnöseltums
strafbar. Wer zahlt, schafft an; alles andere zählt nicht: im
Besitz der alleinseligmachenden Weisheit sind diejenigen, die am
zahlreichsten ihr Geld an die Kinokasse tragen - sie entscheiden
über die gültigen Qualitätskriterien.
Nun sind aber Filmkritiker, die diese Bezeichnung wirklich
verdienen und ihre Tätigkeit ernst nehmen, Menschen, die sich weit
überdurchschnittlich intensiv mit Film auseinandersetzen. Sie
verbringen wesentlich mehr Zeit im Kino als andere Zeitgenossen,
haben ein weitaus größeres und breiter gefächertes Repertoire an
Filmen, bemühen sich um mehr Hintergrundwissen, sind kundig in
Filmgeschichte und beschäftigen sich gründlich mit
Filmtheorie. Daß eine solch intensive Auseinandersetzung und ein
stetiges Reflektieren über Film die Sichtweise verändert, hat
nichts mit elitärer Schnöselei zu tun - für Dinge, über die man
fundiertes Wissen hat, bekommt man einfach andere Augen. Jeder
kennt aus eigenem Erleben sicher genug Beispiele dafür, daß die
Wahrnehmung für Dinge eine ganz andere wird, wenn man sich lange
mit ihnen beschäftigt hat. Keiner erwartet von einem
Automechaniker, daß der einen Motor mit dem selben Blick wahrnimmt
wie ein technischer Laie; einem Musiker macht man es nicht zum
Vorwurf, wenn er auf einem Notenblatt nicht nur Striche und Punkte
erkennt und wenn er sich über Gehörtes ganz anders äußert als
jemand mit untrainierten Ohren; ein Schachspieler wird nicht für
einen Schnösel gehalten, weil er auf dem Brett ein Geflecht von
Beziehungen erkennt anstatt einer beliebigen Ansammlung von
Figuren. Warum also sollte ein Kritiker Filme so wahrnehmen
müssen wie ein naiver Gelegenheits-Kinobesucher? Das wäre doch ein
wahrhaft trauriges Ergebnis von jahrelanger Beschäftigung mit
Film. Und was ist gar so böse an der Annahme, daß das, was
dieser Kritiker zu einem Film zu sagen hat, mehr Gewicht und
Relevanz für sich in Anspruch nehmen darf als die Meinung eines
Menschen, der alle paar Wochen ins Kino geht, um sich vom Alltag
abzulenken?
"Vom Alltag ablenken": Da sind wir an einem wichtigen Punkt. Denn
wo sich die Ansichten eines (guten) Kritikers und der überwiegenden
Mehrheit des Publikums wohl am deutlichsten scheiden, ist in der
Grundüberzeugung, daß Film mehr ist als "nur Unterhaltung". Zu
erst weil es so etwas wie "bloß Unterhaltung" schlichtweg nicht
gibt. Selbst (oder wohl eher: gerade) jene Filme, bei deren
Produktion alle Beteiligten nur routinemäßig ihren Job verrichtet
haben, ohne je einen Gedanken an tiefere Bedeutungen zu
verschwenden; jene Filme, die kreuzbrav und ohne jedwelche Ecken
und Kanten alle akzeptierten Muster erfüllen, sind kulturelle
Artefakte ihrer Zeit, sind unausweichlich Spiegel oder Zerrspiegel
ihrer Welt, die reflektieren, was die Gesellschaft bewegt, in der
sie entstanden sind. Jeder Film ist eine kleine Welterklärung, ein
Versuch, dem, was zu einem gewissen Zeitpunkt in einer Kultur vor
sich geht, Struktur und Sinn zu geben. Wo die Oberfläche am
wenigsten Widerstand bietet, läßt sich am tiefsten ins Herz der
Kultur blicken - weshalb gerade jene Filme, die im Augenblick am
selbstverständlichsten, unscheinbarsten, "bloß unterhaltendsten"
wirken, im Lauf der Jahre immer fremder und unverständlicher
werden. Zu den Aufgaben eines Kritikers sollte es gehören, diese
Filme als Symptome zu sehen, sie als Seismogramm zu lesen. Eine
gute Filmkritik kann es leisten, daß durchschaubar wird, welchen
Platz ein Film in seiner Zeit hat, welche kulturelle Arbeit er
leistet, welches gesellschaftliche Ritual er zelebriert; welches
Weltbild er propagiert und - große Worte, ich weiß - welche
Ideologie und Moral sich dabei offenbart.
In den wenigsten Fällen aber dürften solche Einsichten dazu
geführt haben, daß jemand sich entschließt, sich dem Schreiben über
Film zu widmen. Ausschlaggebend dafür ist wohl fast immer eine
andere Art der Überzeugung, daß Film mehr als "bloß Unterhaltung"
ist: Für einen (guten) Kritiker ist Film stets auch Kunst. Im
besten Fall bringt das Kino Kunstwerke hervor, die an geistiger
Größe denen in Musik, Malerei, Literatur in nichts nachstehen. Und
wie es reich lohnt, sich immer wieder und immer genauer mit einem
Streichquartett von Beethoven oder einem Roman von Hawthorne zu
beschäftigen, so ist es höchst gewinnbringend, sich mit Filmen wie
beispielsweise denen von Sirk, Hitchcock oder Scorsese
auseinanderzusetzen. Hier hat Filmkritik als Ziel gewiß in hohem
Maße den persönlichen Erkenntnisgewinn - aber auch die Schaffung
eines Bewußtseins des Publikums dafür, wo es sich wirklich lohnt,
genauer hinzusehen. Es gibt in der Kunst nun einmal Dinge, die sich
dem ersten Blick nicht erschließen; wo es erst so richtig
interessant wird, wenn man sich die Mühe macht, unter der
ansprechenden Oberfläche weiterzuforschen. Filmkritik, die mehr
sein will als Erfüllungsgehilfin der Filmwirtschaft, muß sich auch
trauen dürfen, dafür entscheidende Fingerzeige zu geben. Ein
gelungener Text kann es dabei vielleicht sogar schaffen spürbar zu
machen, daß Kategorien wie "gut" und "schlecht", oder das Kriterium
der Unterhaltsamkeit, oft bei weitem nicht die wichtigsten sind;
daß es da, wo Kino sein volles Potential ausschöpft, um viel
spannendere Dinge geht.
Daß es dabei begrüßenswert ist, wenn dies alles in einem Ton
geschieht, der von Hochnäsigkeit frei ist, und daß man deswegen die
"naive" Reaktion jener Kinobesucher nicht mißachten sollte, die
sich mit Film nicht intensiver beschäftigen - das steht außer
Frage. Aber dieses Publikum täte im Gegenzug gewiß oft gut
daran, wenn es Kritiken, die offensichtlich an mehr interessiert
sind als der Frage, ob ein Film gute Unterhaltung bietet, nicht
gleich als besserwißerische Bevormundung und intellektuelle
Spintisiererei abtut. Denn eine gelungene Kritik sollte immer
auch ein Hinweis darauf sein, wo es noch mehr zu entdecken, noch
Spannendes zu sehen gibt; wo außer zwei Stunden unterhaltsamen
Eskapismus etwas zu holen ist. Und damit immer ein Angebot, mehr
vom Kino zu haben.
Thomas Willmann
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