Wie heißt es so schön in Platos "Kratylos" (zumindest in
Friedrich Schleiermachers Übersetzung): "Daher wird unter allen
Tieren der Mensch allein Mensch genannt, weil er
zusammenschaut, was er gesehen hat." Gesehen hab' ich
viel in der letzten Woche - so um die dreißig Filme, etliche
Filmemacher und Schauspieler live, die ein oder andere
Party. Das alles nun in ein paar Zeilen zusammenzuschauen - Mensch,
das wird tierisch schwer.
Die Gesellschaftsberichterstattung überlasse ich lieber gleich
dem werten Kollegen Suchsland, der da mehr zu erzählen hat. Und
einem der schönsten Highlights des Festivals, der Monte
Hellman-Retrospektive, werde ich mich in einem eigenen Artikel
widmen. Aber da bleiben immer noch ein Haufen Filme übrig, die auf
wenige gemeinsame Nenner gebracht werden wollen. Was mir bei der
beträchtlichen Bandbreite des Angebots am meisten auffiel, waren
dabei grundsätzliche Gemeinsamkeiten unter bestimmten Filmen, die
nichts damit zu tun hatten, aus welchem Land die Werke stammten,
welchem Genre sie angehörten, oder wie hoch das Budget war -
sondern Gemeinsamkeiten in ganz elementarer Hinsicht: nämlich bei
der Frage, warum jemand überhaupt Filme macht, und was Kino leisten
soll und kann.
Kino und Unterhaltung Freilich ist jeder wirklich gute
Film auch immer ein (zumindest im weiteren Sinne) unterhaltsamer
Film. Aber es gibt auch jene Art von Kino, die "bloße" Unterhaltung
sein will. Was meist dann böse in die Hose geht, wenn die Macher
nicht wissen, daß gerade hier Intelligenz und Können unabdingbare
Voraussetzungen für wahres Gelingen sind. Bester Beweis für diese
These: der kreative Totalschaden CASCADEUR - ein filmischer
Schrotthaufen, dessen Trash-Appeal höchstens eine um die Hälfte
gekürzte Fassung getragen hätte. Wie man's richtig macht, war
bei den Charley Chase-Kurzfilmen zu bewundern und bei der
hinreißenden japanischen Tanzstunde SHALL WE DANCE?; daß es auch in
Deutschland geht mit Unterhaltung, die nicht ständig den Verstand
des Publikums beleidigt, zeigte MUSTERKNABEN 2. Und wie pure
Energie und Albernheit (und eine große Portion Herz) denn doch über
das weitgehende Fehlen der erwähnten Ingredienzien hinweghelfen
kann, war bei der Ed Wood, Jr.-Hommage I WOKE UP EARLY THE DAY I
DIED zu erleben - aber da treffen sich dann wohl auch Form und
Inhalt.
Kino und Anspruch Da es erheblichen Aufwand an Zeit,
Geld und Kraft kostet, einen Film zu machen, haben sich die meisten
Kinoschaffenden denn doch etwas höhere Ziele gesetzt, als dem
Publikum nur zwei Stunden Untermalung zum Popcorn-Konsum zu
verschaffen. Zugegeben eine recht schwammige Kategorie, läßt sich
soetwas wie "Anspruch" natürlich in den mannigfaltigsten
Manifestationen erkennen: Der kann sich äußern in dem Bestreben,
einem wohlvertrauten Genre wie dem Gangster-Film eine neue
Story-Variante abzutrotzen und dabei immer noch und noch eine
weitere, clevere Plotwendung im Ärmel zu haben: siehe den ziemlich
gelungenen SUICIDE KINGS - der für meinen Geschmack die Schraube
leider am Ende ein paar Windungen weiter dreht, als ihm wohltut.
Oder indem man Filme aus dem selben Genre mit mehr (FACE) oder
minder (NOOSE) dick aufgetragener Sozialkritik anreichert. Der
kann sich - wie in Vincent Gallos Charakterstudie BUFFALO '66 -
zeigen in Originalität, Stilwillen und tiefen, seelischen Abgründen
hinter einer humorvollen Fassade. Für viele eines der großen
Festival-Highlights, mir persönlich aber letzlich eine Spur zu kühl
und narzißtisch ausgefallen, um mich wirklich zu
begeistern. Oder schließlich wie im Fall von PERDITA DURANGO, wo
Regisseur Alex de la Iglesia zwar einiges zu erzählen hatte über
die tiefere Bedeutung, die er in seinen Film gepackt wissen wollte,
wo das tatsächliche Ergebnis dann jedoch eher an zwei Stunden
fröhlichen Kindergeburtstag gemahnte.
Kino und Politik Nicht klar zu trennen von der
vorhergehenden Kategorie, gewiß. Aber die folgenden Filme
zeichneten sich für mich dadurch aus, daß sie ganz bewußt
politische Positionen vertraten; daß sie Stellung bezogen für
Entrechtete, daß sie jenen eine Stimme zu geben versuchen, die
sonst nicht gehört werden. Etwas zu deutlich die Absicht
vielleicht in MEN WITH GUNS von dem stets schätzenswerten John
Sayles: eine Odysee ins mexikanische Bergland zu den Indios, die
dort im Kampf zwischen Regierungstruppen und Guerillas aufgerieben
werden. Manchmal einfach zu nah am Lehrstück, zu durchsichtig um -
bei allem Mut, Engagement und filmischem Können - wirklich zu
packen. Anders da SLAM; über einen schwarzen Poeten, der
entdeckt, daß Sprache die mächtigste Waffe ist im Klassenkampf: ein
Film, der (vor allem dank exzellenter Darsteller) seine unbequemen
Thesen über das Gefangensein in der Rolle des Opfers und den
selbstzerstörerischen Kreislauf der Gewalt mit solch emotionaler
Wucht und Intensität ins Publikum schleudert, daß man nicht
unberührt bleiben kann. Weniger heftig, aber dank seines Charmes
nicht minder effektiv dagegen SMOKE SIGNALS: Zwei native
americans, Indianer, auf Identitätssuche - ein sehr
vergnügliches und von schwerfälligem Moralisieren gänzlich freies
Road-Movie; ein Spiel mit und gegen etablierte Bilder, das nicht
zuletzt deswegen so sympathisch ist, weil es nicht vorgibt, alle
Antworten parat zu haben.
Wenn Sie sich nächste Woche wieder einklicken, erfahren Sie
alles über französische Meisterregisseure am Rande der
Altersdemenz, Spaghettiessen beim Haarewaschen und dicke deutsche
Dancefloor-Produzenten auf der Suche nach dem englischen Wort für
"Mülltonne" - nur hier, nur im zweiten Teil von "Zusammenschauen,
was zusammen gehört".
P.S.: Auch wenn's jetzt ein wenig aus dem Zusammenhang ist - aber
ich möchte doch unbedingt darauf hingewiesen haben, daß derzeit im
Werkstattkino eine kleine Reihe mit Filmen des japanischen
Allround-Talents Takeshi Kitano geboten wird. Da gibt's neben dem
(etwas ungehobelten) Regie-Debut VIOLENT COP und dem Meisterstück
SONATINE auch HANA-BI zu sehen - den bisher besten Film des Jahres
(und zwar, statt der nicht gerade beglückenden Synchronfassung, im
atmosphärisch dichteren Original mit Untertiteln). Wie hat's
Kollege Suchsland neulich in ähnlichem Zusammenhang so schön
formuliert: "Wer's jetzt nicht hinschaut, ist selber schuld."
Hugh.
Thomas Willmann
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