Der durchschnittliche Amerikaner sieht die Welt ungefähr
so: Wenn jemand das Kunststück fertig bringt, sich mit dem
Rasenmäher selbst in den Fuß zu mähen, ist daran der Hersteller des
Mähers schuld. Wenn 12jährige Kinder mit großkalibrigen Waffen ein
Blutbad anrichten, ist daran das Fernsehen schuld. Wenn es soziale
Mißstände gibt, sind daran die illegalen Emigranten schuld. Wenn die
Welt untergeht, ist daran ohne Zweifel die Natur
schuld. Zumindest der letzte Punkt war nicht immer so.
Filme in früheren Zeiten führten uns noch eindringlich vor Augen,
wer meist der eigentliche Schuldige an Desastern jeder Art ist: Der
Mensch respektive wir selbst. Die Ursache eines Unheils in
älteren Katastrophenfilmen ist beinahe immer der Mensch, der durch
einen blinden Fortschrittsglauben, technischen Größenwahn und sein
eigenes, in der Regel falsches, Verhalten Katastrophen von
biblischem Ausmaß auslöste.
Damals entstanden Flutwellen durch defekte Staudämme, wurden
brennende Hochhäuser zu tödlichen Labyrinthen, rissen Flugzeuge und
Züge durch Sabotage oder menschliches Versagen ihre Passagiere in
den Tod, erwuchsen durch die atomare Verseuchung, der Umwelt
todbringende Mutanten und sorgten die Atombomben der Weltmächte für
einen strahlenden Tag danach.
In der heutigen Zeit, in der die Menschen ihre zunehmende
Freiheit durch ein abnehmendes Verantwortungsbewußtsein
kompensieren, und in der es immer schwieriger wird, einen
allumfassenden Sündenbock wie etwa die selige Sowjetunion zu
finden, hat vor allem der Stadtbewohner seinen ältesten Feind
wieder neu entdeckt. Die tödliche Natur.
Auch genährt durch die entsprechenden Dokumentationen im
Fernsehen, peinigen im Kino der 90er Jahre teuflische Wirbelstürme
wie in TWISTER die armen Bewohner des mittleren Westens, bringen
Lavamassen in VOLCANO und DANTE’S PEAK zerstörerisches Unheil und
als ob unsere Natur nicht schon grausam genug wäre, bombardiert uns
das Weltall auch noch mit Meteoriten wie in DEEP IMPACT und
ARMAGEDDON. Es verwundert nicht, daß in dieser Zeit die
Geschichte vom hinterhältigen Eisberg, der die unschuldigen
Passagiere und das tolle Luxusschiff in ein eiskaltes Grab zieht,
ihre phänomenale Wiederauferstehung feiert. Irgendwie erscheint
einem sogar der gute alte WEIßE HAI, als Opfer der Umstände
und/oder seiner Natur, wenn man ihn mit einem berechnenden Biest
wie in ANACONDA oder DER GEIST UND DIE DUNKELHEIT vergleicht.
Bezeichnend ist auch der Vergleich von zwei "Wildnisfilmen" wie
DELIVERANCE (BEIM STERBEN IST JEDER DER ERSTE) und dem letzten Film
von Lee Tamahori AUF MESSERS SCHNEIDE. Während in DELIVERANCE,
selbst in der entlegensten Region, der Mensch die Ursache der
traumatischen Erlebnisse ist, schweißt in AUF MESSERS SCHNEIDE der
Kampf gegen die Natur und einen fiesen Bären die beiden Rivalen
zusammen.
Lee Tamahori ist dabei nicht der einzige anspruchsvolle
Regisseur, der die unheilbringende Kraft der Natur wiederentdeckt.
Bei Ang Lee ist es der titelgebende EISSTURM, der in seiner
Frostigkeit als beliebtes Symbol für die "Vergletscherung der
Gefühle" herhalten muß. Und selbst Robert Altman ist sich nicht zu
schade, einen herannahenden Sturm als Zeichen für das, sich über
seinem Helden verdichtende, Unheil im GINGERBREAD MAN zu
bemühen.
Sogar im Zusammenspiel mit der Hochtechnologie zeigt die Natur
endlich ihr wahres Gesicht. Früher war die Natur das Opfer der
atomaren Machenschaften des Menschen. Ausdruck hierfür waren das
filmisch sehr ergiebige "postatomare" Zeitalter oder schreckliche
Mutanten aus dem Tierreich. Heute haben wir die Gentechnik für
solche Fälle, doch sind hier die Beweggründe der neuen Forscher
weit von den Ambitionen eines Mad Professors entfernt. Vielmehr
wollen sie Gutes tun (etwa die süßen Dinosaurier wieder zum Leben
erwecken), scheitern aber an der naturgegebenen Bösartigkeit ihrer
Geschöpfe, siehe JURASSIC PARK oder MIMIC.
All das bedenkend, verwundert es nicht, einen zufrieden
grinsenden Roland Emmerich in einem Interview sagen zu hören, daß
Godzilla irgendwie die Rache der Natur an den Menschen sei. Mir
dagegen scheint, daß GODZILLA die Rache Gottes an allen
Filmfreunden ist, aber das ist wieder ein anderes Thema.
Michael Haberlander
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