Einmal im Jahr versammelt sich in Norditalien die Crème de la
Crème unter den Filmhändlern: Anfang November wurde Mailand zum
65. Mal zum Zentrum des globalen Filmhandels, als die MIFED 98
ihre Tore öffnete. Und obwohl die kurz davor stattfindenden London
Screenings schon so manche Händler von einem Kapazitätsverlust
sprechen ließen, konnte sich das diesjährige Angebot gegen die
britische Konkurrenz behaupten und gegenüber dem Vorjahr sogar um
einige Anbieter steigern. Eine Woche lang wurden fast tausend
Filme aus allen entlegenen Erdteilen gezeigt, und die von Miramax
über Buena Vista bishin zu asiatischen Firmen wie China Star
Entertainment und dem Hongkong Marktführer Golden Harvest
abgeschlossenen Verträge lassen einen weiteren Rückgang der
Geschäfte als unwahrscheinlich gelten. Vom ersten bis zum sechsten
November konnte man sich einen filmischen Einblick über die volle
Bandbreite des kommenden Kinojahres verschaffen. Eine riesige und
facettenreiche Auswahl, von keiner Festivalleitung gefiltert und
nach Gesichtspunkten wie Anspruch oder Unterhaltung ausgesucht,
ermöglichte, neben komplexen Dramen auch einfache
Videotheken-Actionware zu betrachten. Im Folgenden nun ein kurzer
und in starkem Maße willkürlicher (weil natürlich subjektiver)
Einblick:
Die kommenden Kinofreuden im Mainstream-Bereich reichen vom
Spielerfilm ROUNDERS mit Matt Damon, Edward Norton und John
Malkovitch über die Actionkomödie RUSH HOUR mit Jackie Chan und
dem schrecklich schrillen Chris Tucker, John Boormans THE GENERAL,
die angeblich wahre Geschichte eines irischen Kriminellen bis zu
dem Faschisten-Film AMERICAN HISTORY X (mit "John Connor" Eddie
Furlong und wiederum Edward Norton). Doch als wesentlich
intessanter stellten sich die unbekannteren, gößtenteils
asiatischen Produktionen heraus: Neben dem Box-Office -Überflieger
aus Hongkong, STORMRIDERS, eine allzu planlose Fantasygeschichte
mit unglaublich vielen CGI-Effekten, dem überaus rohen BULLET
BALLET, Tsukamoto Shinyas (TETSUO 1+2) neuester Angriff auf die
Sinne, gab es auch den sehr ruhigen, doch sehr tragischen und
ungemein empfehlenswerten japanischen Anime JIN-ROH zu
begutachten, eine Arbeit vom Produzenten-Team von GHOST IN THE
SHELL. Um auf hoher qualitativer Ebene zu bleiben: Zu sehen war
auch der dritte Film vom Japaner Sabu, nach D.A.N.G.A.N. RUNNER
und POSTMAN BLUES: UNLUCKY MONKEY handelt wieder augenzwinkernd
bis haarsträubend komisch von Yakuzas und solchen, die es werden
wollen, sowie der unberechenbaren, aber nicht zu unterschätzenden
Macht des Mißgeschicks.
Zu dem bunten Cocktail bekam man auch den aktuellen PHANTOM OF
THE OPERA, diesmal von Dario Argento, leider ein belangloser,
selbstverliebter Fernsehfilm mit Julian Sands als Phantom und -
wer sonst -Asia Argento als sein Objekt der Begierde. Asia kann
man demnächst bei uns in B MONKEY, einer netten Mischung aus
Thriller und Liebesfilm an der Seite von Rupert Everett sehen.
Doch von solchen große Namen und Titeln abgesehen, konnte man auch
schon fast vergesene Klassiker entdecken: In einem der abgelegenen
Vorführräume lief doch tatsächlich eine restaurierte Fassung von
George A. Romeros NIGHT OF THE LIVING DEAD, mit neuen, hübschen
Szenen - die allerdings die Splatter-Fans nicht bedienen - zur
Feier des 30jährigen Jübiläums.
Das gewohnt abwechslungsreiches Actionprogramm aus Hongkong
hielt dieses Jahr die eigentlichen Überraschungen bereit - sowohl
im positiven, als auch im negativen Sinne. Unter anderen entdeckte
man AND NOW YOU ARE DEAD, den ersten Film mit Bruce Lee-Tochter
Shannon, die in einem mit Shootouts und Martial Arts vollgepackten
Actionbrett als Darstellerin debutierte und zudem bestens
unterhalten konnte. Zum beliebten Terroristen und Giftgas-Thema
lieferte EXTREME CRISIS ein eindeutiges Statement mittels eines
Bodycounts ab, der in puncto Konsequenz John Woos THE KILLER
schlicht im Regen stehen läßt. Von der unendlichen YOUNG AND
DANGEROUS-Reihe, die mittlerweile bei der 5. Fortsetzung
angekommen ist, lief der mit Prequel betitelte Teil in gewohnter
Dramatik um Hongkongs Bandenkriminelle, die seit geraumer
(Film-)Zeit um die Kontrolle ihres Stadtviertels kämpfen. In
HUNTRESS, manchen besser als HER NAME IS CAT bekannt, (und vielen
anderen weder unter dem einen, noch dem anderen Titel), darf sich
eine Lady im engen Lederdress unter laszivem Katzenfauchen mit
Bösen Gangstern Schießereien liefern, oder sich zu
Kuschelrockromantik von ihrem Lover streicheln lassen und dabei
entspannt schnurren. Was für ein Film! Wer NAKED KILLER attraktiv
fand, wird bei dieser Trash-Perle ganz sicher seinen Spaß
haben...
Eine Trash-“Perle“ ganz anderer Art ist da schon der großspurig
als LA CONFIDENTIAL-Nachfolger angepriesene BROWNS REQUIEM, der
hingegen in Langeweile schwelgt und mit seiner düsteren, aber
monotonen Krimiatmosphäre vergeblich kämpft, ein interessanter
Film zu werden. Doch Gurken wie diesen bleibt kein Bundesstart
erspart - und erst recht nicht dem deutschen Publikum. Wesentlich
angenehmer und versierter ist der schottische THE ACID HOUSE, der
drei Kurzgeschichten beinhaltet. Er darf schon als unoffizieller,
aber thematisch legitimer TRAINSPOTTING-Nachfolger betrachtet
werden. Die gezeigte Kopie mußte übrigens mit englischen
Untertiteln versehen werden, weil sich das schottische
Lokalkolorit vor allem im heftigen und unverständlichen Akzent
niederschlug. Weniger Verständnisschwierigkeiten bereitete der
nunmehr 4. Teil der CHILDS PLAY-Serie, bei uns eher unter "Chucky
- die Mörderpuppe" bekannt. Angenehmerweise entpuppte er sich als
ein weitgehend ironischer und unterhaltsamer Aufguß mit einem
NATURAL BORN KILLERS-Plot (!) und wie immer leiht Brad Dourif
seine Stimme dem kleinen Quälgeist.
Schnell zurück zum Bekömmlichen: Daß die asiatischen
Zelluloid-Gerichte nicht nur aus Action bestehen müssen zeigten
die folgenden Epen und Dramen, die ihr Thema überaus bewegend
umsetzten: Neben dem Historienverfilmung GHENGIS KHAN um das
Bio-Pic des legendären Mongolenführers war LOVE LETTER vom Japaner
Shunji Iwai (an dessen wunderbaren SWALLOWTAIL BUTTERFLY man sich
noch gern erinnert) ein echter Tearjerker. Nicht weniger traurig:
das Schicksalsdrama CITY OF GLASS, daß seinen thematischen
Vorbildern COMRADES und LOST AND FOUND in nichts nachsteht -
einfach herzerweichend. Dramatisch und auf lockere Art
anspruchsvoll konnte man die neue Groteske von Emir Kusturica
(TIME OF THE GYPSIES) bezeichnen, ein Feuerwerk an absurden
Einfällen mit starkem Hang zu Sergio Leone: BLACK CAT, WHITE CAT
heißt sein Meisterwerk, mit dem er sich bereits in Venedig den
Preis für die beste Regie geholt hat. Als Kontrastprogramm standen
dafür Machwerke wie BLOODSPORT - THE DARK KUMITE, der mittlerweile
vierte Teil der Kickboxreihe, die einst mit Jean-Claude van Damme
begann und weitere billige Direct-To-Video-Schoten wie RUNNING
RED, mit dem mächtig in die Breite gegangenen Jeff Speakman (A
PERFECT WEAPON).
Dank Buena Vistas Anwesenheit lief ein Screening von JUDAS KISS,
in dem der nur zu bedauernde Til Schweiger wieder eine völlig
minderbemittelte Rolle als deutscher Kleinkrimineller (war ja
klar) bekam - dann doch lieber in einer Hauptrolle, wie in DER
EISBÄR!. Da auch Bavaria-Film ein Office hatte, liefen die
deutschen Produktionen NIGHT TIME aka SIEBEN MONDE, 23 und auch
COMEDIAN HARMONISTS sowie BIN ICH SCHÖN? - auf deutsch mit
spärlichen englischen Untertiteln, mehr als gewöhnungsbedürftig,
wenn man sonst bei Originalfilmen vom Englisch mit deutschen
Untertiteln ausgeht. Allein diese Ansammlung von verschiedenen
Filmen reicht aus, um so manche Festivals zu füllen, doch mehr als
einen kurzen Überblick über das riesige Gesamtangebot scheint gar
unmöglich. Nur ein Hauch von Mailand sozusagen.
Thorsten Krüger
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