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Der Filmfreund rät...

  23.03.2000
 
 
 
 

Wir haben's ja letzte Woche schon angekündigt, und selbst wenn nicht, wäre es eh trotzdem klar, weswegen wir diesmal gar nicht lange um den heißen Brei herumreden wollen: Das mit Abstand größte Münchner Kinoereignis dieser (und etlicher der kommenden) Wochen ist die Hitchcock-Retrospektive im Filmmuseum. Die ist so vollständig, dass da sogar Sachen laufen, die selbst wir noch nie gesehen haben.

Das Problem ist jetzt nur: Wie sollen wir hier darüber schreiben? Wenn wir's bei einem schlichten: "Da müssen Sie einfach reingehen" belassen, dann fühlen Sie sich bestimmt betrogen um das Geld, dass Sie uns für unser wunderbares Magazin nicht zahlen. Aber zu Hitchcock noch was sagen? Da gibt es schon ganze Bibliotheken an Schrifttum, Hitchcock-Forschung und -Interpretation ist mittlerweile sowas wie ein eigenständiger Gewerbezweig, und nur ganz, ganz wenige in der Kinogeschichte haben fast jede Facette ihres Werks schon aus so vielen verschiedenen Winkeln heraus schriftlich beleuchtet bekommen. Nicht, dass es nicht dennoch genug Lücken, genug Ungesagtes aber Wesentliches gäbe. Aber wir wollen uns nicht zum Narren machen und das in diesem Rahmen hier aufzuarbeiten suchen.
Deswegen: Ein paar ganz kurze Fingerzeige nur, und ein paar grundsätzliche Worte zum Gebrauch einer Retrospektive.

Fangen wir mit letzteren an: Leider, leider gilt bei Filmretrospektiven wie so oft im Leben das alte "Was der Bauer nicht kennt, frißt er nicht"-Gesetz. Die meisten Leute gehen in die Sachen, die sie schon oft gesehen haben, dann vielleicht noch in die, von denen sie schon viel gehört haben - aber das war's dann. Und genau das ist verkehrt. Nicht, dass es ein Fehler wäre, sich große Filme wieder und wieder anzuschauen - im Gegentum. Aber das eigentlich Schöne an (zumindest kompletten) Retrospektiven ist genau, dass man jene Sachen zu sehen bekommt, die sonst nie und nirgends laufen. NORTH BY NORTHWEST (DER UNSICHTBARE DRITTE), PSYCHO, VERTIGO, um bei Hitchcock zu bleiben - da muss man höchstens ein paar Monate warten, bis die mal wieder auf einer Leinwand zu erhaschen sind. Seine Stummfilme oder eher obskure Streifen wie WALTZES FROM VIENNA hingegen, die gibt es bestenfalls alle paar Jahre. Und das nicht etwa, weil die nicht sehenswert wären. Sicher ist, sagen wir mal, THE RING, kein VERTIGO. Aber wir zumindest kennen keinen einzigen Hitchcock-Film, den es sich nicht gelohnt hätte anzuschauen. Und wie gesagt: Wir haben fast alles gesehen. Das Interessante an den wenig bekannten Filmen eines Regisseurs oder einer Regisseurin ist aber vor allem, dass man in ihnen oft wirklich überraschende Entdeckungen machen kann. Zum einen, weil fast immer auch zu Unrecht vernachlässigte Perlen dabei sind - Filme, die bisher miss- und unverstanden blieben. Zum anderen aber auch, weil sich darunter meist jene Sachen befinden, die den Biographen und Theoretikern nicht ins schön abgeschlossene Bild passen. Filme, die gerne unter den Teppich gekehrt oder ganz schnell abgehakt werden, weil sie der Idee vom monolithischen auteur-Werk entgegenstehen. Und gerade da ist dann meistens viel mehr Raum, um noch einen eigenen, unvoreingenommenen Zugang zu finden, ganz andere Facetten zu sehen, auch neue Lichtquellen zu entdecken, die das vermeintlich schon erschöpfend Bekannte wieder ganz neu anstrahlen. Also: Vernachlässigen Sie uns nicht einfach gewisse Filme, nur weils alle tun.

So, und nachdem wir eben noch für den unvoreingenommenen, individuellen Zugang plädiert haben, werden wir Ihnen jetzt die verbindliche Blickrichtung auf Hitchcock diktieren.
Nein, nein, so schlimm wird's nicht, aber wir haben ein paar Fingerzeige versprochen, und die sollen Sie schon auch bekommen. Nur so als Einstieg, um mal über die erste "Ach ja, Hitchcock ist der Meister spannender Krimis"-Hürde hinwegzukommen.
Drei Dinge seien hier nur genannt, auf die sich's praktisch immer lohnt, in einem Hitchcock-Film zu achten:
Das erste ist die Schuld. Schuld, und vor allem die Übertragung von Schuld, das ist so eines der zentralen Hitchcock-Themen überhaupt. Dauernd gibt's unschuldig Verfolgte (die meistens aber zwar an der fraglichen Tat unbeteiligt waren, die aber selten wirklich Unschuldige sind), müssen Leute für andere Menschen Untaten büßen, gibt's über den Umweg falscher Anklagen gerechte Strafen. Da schlägt gerne auch ein guter Schuss Katholizismus mit durch. Und die Vorstellung der Erbsünde, womit wir schon beim zweiten Ding wären, nämlich...
Sex. Kaum ein Film von Sir Alfred, wo der nicht unterschwellig die treibende Kraft wäre. Genauso wenig aber welche, in denen das offen gezeigt oder ausgesprochen würde. Die Erotik eines Hitchcock-Films ist gewöhnlich eine enorm repressive. Und üblicherweise auch eine mit einem gehörigen Schuss Sado-Masochismus versetzte. (Klügere Leute als wir - doch, das gibt's - haben da auch schon lange und nicht einfach zu lesende, aber überzeugende Abhandlungen darüber geschrieben, dass das ganze Suspense-Erlebnis, die Angst-Lust des Publikums, die Hitchcock so gerne hervorkitzelt, etwas mit sado-masochistischer Psyche zu tun hat.) Man muss sich heutzutage dafür wieder etwas sensibilisieren, wenn man's so richtig mitbekommen will - wir sind nicht mehr so gewohnt, dass dieser Bereich nur über Umwege und Andeutungen angesprochen wird. Aber wenn man mal gelernt hat, die Codes zu lesen, mit denen Filmemacher wie Hitchcock verstanden, alles eigentlich Unsag- und Zeigbare doch an der (äußeren wie inneren) Zensur vorbeizubringen, dann hören die Aha-Erlebnisse beim Filmeschauen kaum mehr auf.
Und schließlich noch: Kino. Selbstreflexiver als Hitchcock geht's nicht, solange man die Illusionsebene noch halbwegs intakt lassen möchte - weiter kommt man dann nur mit Brechtschen Mitteln, und da wird's dann meist schon wieder viel platter. Mit erstaunlich wenigen Ausnahmen denkt Hitchcock in seinen Filmen auch immer über das Medium selbst nach, hat etwas zum Kino und seinen Grundlagen mitzuteilen. Manchmal ist das sehr offensichtlich (aber deswegen im Detail nicht weniger komplex), wie bei REAR WINDOW (DAS FENSTER ZUM HOF), wo James Stewart uns quasi einen Kinozuschauer vorspielt. Manchmal ist's so versteckt und esoterisch, dass man sich drüber streiten kann, ob's überhaupt Absicht ist. (Je länger man sich damit beschäftigt, je mehr wird man aber merken, dass es meist nur Absicht sein kann.)

Wie gesagt: Der Rahmen dieser bescheidenen Wochen-Tips ist viel zu eng gesteckt, als dass wir hier mehr als diese zaghaften Hinweisschildchen aufstellen könnten. Um etwas tiefer einzusteigen und/oder um reinzuschnuppern, auf welch Tausend andere Sachen man bei Hitchcock noch mit Gewinn achten kann, empfehlen wir einfach, sich eines (oder noch besser: mehrere) der vielen schönen Hitchcock-Bücher zur Hand zu nehmen. Ein guter Start ist beispielsweise das bekannte, beliebte, wohlfeil zu erstehende und dank der äußerst kompetenten Übersetzerin Frieda Grafe sogar ausnahmsweise in einer wirklich brauchbaren deutschen Fassung erhältliche Interview-Buch von Truffaut. ("Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?", heißt's auf Deutsch.) Das ist amüsant zu lesen und sehr umfassend - allerdings sollte man sich darüber klar sein, dass Hitchcock (der auch ein bewußter und begnadeter Bastler am eigenen Mythos war) dem armen Monsieur Truffaut auch gerne einfach das erzählte, wovon er wusste, dass der's gerne hören wollte. Oder ihm zum Spaß auch mal die Hucke vollgelogen hat. Sprich: Nichts geht darüber, sich möglichst wach und aufmerksam möglichst viele Filme wirklich selbst anzuschauen. Und so bleibt uns dann letztendlich doch nicht viel mehr zu sagen als "Da müssen Sie einfach reingehen".
(Hitchcock-Retrospektive: FILMMUSEUM, ab Do. (fast) tägl., Titel und Zeiten siehe Programm)

Vielleicht hat unser Sermon hier ja aber doch wenigstens ein bißchen bewegt. Ob Sie was Brauchbares mitgenommen haben, dass können Sie gleich ganz einfach überprüfen. Was jetzt zum Schluss kommen muss, das wissen Sie. Dem Herrn Oehmann seine berühmten Worte. Aber jetzt achten Sie dabei mal ganz aufmerksam auf das Thema der Schuld, auf die unterschwellige Sexualität und auf die versteckte Selbstreflexivität. So richtig aufmerksam. Noch aufmerksamer.
Und wenn Sie jetzt dabei auf etwas kommen - dann schreiben Sie uns und begeben Sich dann möglichst bald in psychiatrische Behandlung. Denn wie Sie da was entdeckt haben wollen ist uns - ehrlich gesagt - schleierhaft. Bei:
"Samstags Fußball, Sonntag Lindenstraße."

Viel Spaß dabei wünscht Ihnen

Die Artechock-Redaktion

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