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Wir haben's ja letzte Woche schon angekündigt, und selbst
wenn nicht, wäre es eh trotzdem klar, weswegen wir diesmal
gar nicht lange um den heißen Brei herumreden wollen: Das
mit Abstand größte Münchner Kinoereignis dieser (und etlicher
der kommenden) Wochen ist die Hitchcock-Retrospektive im Filmmuseum.
Die ist so vollständig, dass da sogar Sachen laufen, die selbst
wir noch nie gesehen haben.
Das Problem ist jetzt nur: Wie sollen wir hier darüber schreiben?
Wenn wir's bei einem schlichten: "Da müssen Sie einfach reingehen"
belassen, dann fühlen Sie sich bestimmt betrogen um das Geld,
dass Sie uns für unser wunderbares Magazin nicht zahlen. Aber
zu Hitchcock noch was sagen? Da gibt es schon ganze Bibliotheken
an Schrifttum, Hitchcock-Forschung und -Interpretation ist
mittlerweile sowas wie ein eigenständiger Gewerbezweig, und
nur ganz, ganz wenige in der Kinogeschichte haben fast jede
Facette ihres Werks schon aus so vielen verschiedenen Winkeln
heraus schriftlich beleuchtet bekommen. Nicht, dass es nicht
dennoch genug Lücken, genug Ungesagtes aber Wesentliches gäbe.
Aber wir wollen uns nicht zum Narren machen und das in diesem
Rahmen hier aufzuarbeiten suchen.
Deswegen: Ein paar ganz kurze Fingerzeige nur, und ein
paar grundsätzliche Worte zum Gebrauch einer Retrospektive.
Fangen wir mit letzteren an: Leider, leider gilt bei Filmretrospektiven
wie so oft im Leben das alte "Was der Bauer nicht kennt, frißt
er nicht"-Gesetz. Die meisten Leute gehen in die Sachen, die
sie schon oft gesehen haben, dann vielleicht noch in die,
von denen sie schon viel gehört haben - aber das war's dann.
Und genau das ist verkehrt. Nicht, dass es ein Fehler wäre,
sich große Filme wieder und wieder anzuschauen - im Gegentum.
Aber das eigentlich Schöne an (zumindest kompletten) Retrospektiven
ist genau, dass man jene Sachen zu sehen bekommt, die sonst
nie und nirgends laufen. NORTH BY NORTHWEST (DER UNSICHTBARE
DRITTE), PSYCHO, VERTIGO, um bei Hitchcock zu bleiben - da
muss man höchstens ein paar Monate warten, bis die mal wieder
auf einer Leinwand zu erhaschen sind. Seine Stummfilme oder
eher obskure Streifen wie WALTZES FROM VIENNA hingegen, die
gibt es bestenfalls alle paar Jahre. Und das nicht etwa, weil
die nicht sehenswert wären. Sicher ist, sagen wir mal, THE
RING, kein VERTIGO. Aber wir zumindest kennen keinen einzigen
Hitchcock-Film, den es sich nicht gelohnt hätte anzuschauen.
Und wie gesagt: Wir haben fast alles gesehen. Das Interessante
an den wenig bekannten Filmen eines Regisseurs oder einer
Regisseurin ist aber vor allem, dass man in ihnen oft wirklich
überraschende Entdeckungen machen kann. Zum einen, weil fast
immer auch zu Unrecht vernachlässigte Perlen dabei sind -
Filme, die bisher miss- und unverstanden blieben. Zum anderen
aber auch, weil sich darunter meist jene Sachen befinden,
die den Biographen und Theoretikern nicht ins schön abgeschlossene
Bild passen. Filme, die gerne unter den Teppich gekehrt oder
ganz schnell abgehakt werden, weil sie der Idee vom monolithischen
auteur-Werk entgegenstehen. Und gerade da ist dann meistens
viel mehr Raum, um noch einen eigenen, unvoreingenommenen
Zugang zu finden, ganz andere Facetten zu sehen, auch neue
Lichtquellen zu entdecken, die das vermeintlich schon erschöpfend
Bekannte wieder ganz neu anstrahlen. Also: Vernachlässigen
Sie uns nicht einfach gewisse Filme, nur weils alle tun.
So, und nachdem wir eben noch für den unvoreingenommenen,
individuellen Zugang plädiert haben, werden wir Ihnen jetzt die
verbindliche Blickrichtung auf Hitchcock diktieren. Nein, nein,
so schlimm wird's nicht, aber wir haben ein paar Fingerzeige
versprochen, und die sollen Sie schon auch bekommen. Nur so als
Einstieg, um mal über die erste "Ach ja, Hitchcock ist der Meister
spannender Krimis"-Hürde hinwegzukommen.
Drei Dinge seien hier nur genannt, auf die sich's praktisch
immer lohnt, in einem Hitchcock-Film zu achten:
Das erste ist die Schuld. Schuld, und
vor allem die Übertragung von Schuld, das ist so eines der
zentralen Hitchcock-Themen überhaupt. Dauernd gibt's unschuldig
Verfolgte (die meistens aber zwar an der fraglichen Tat unbeteiligt
waren, die aber selten wirklich Unschuldige sind), müssen Leute für
andere Menschen Untaten büßen, gibt's über den Umweg falscher
Anklagen gerechte Strafen. Da schlägt gerne auch ein guter Schuss
Katholizismus mit durch. Und die Vorstellung der Erbsünde, womit
wir schon beim zweiten Ding wären, nämlich... Sex. Kaum ein
Film von Sir Alfred, wo der nicht unterschwellig die treibende
Kraft wäre. Genauso wenig aber welche, in denen das offen gezeigt
oder ausgesprochen würde. Die Erotik eines Hitchcock-Films ist
gewöhnlich eine enorm repressive. Und üblicherweise auch eine mit
einem gehörigen Schuss Sado-Masochismus versetzte. (Klügere Leute
als wir - doch, das gibt's - haben da auch schon lange und nicht
einfach zu lesende, aber überzeugende Abhandlungen darüber
geschrieben, dass das ganze Suspense-Erlebnis, die Angst-Lust des
Publikums, die Hitchcock so gerne hervorkitzelt, etwas mit
sado-masochistischer Psyche zu tun hat.) Man muss sich heutzutage
dafür wieder etwas sensibilisieren, wenn man's so richtig
mitbekommen will - wir sind nicht mehr so gewohnt, dass dieser
Bereich nur über Umwege und Andeutungen angesprochen wird. Aber
wenn man mal gelernt hat, die Codes zu lesen, mit denen Filmemacher
wie Hitchcock verstanden, alles eigentlich Unsag- und Zeigbare doch
an der (äußeren wie inneren) Zensur vorbeizubringen, dann hören die
Aha-Erlebnisse beim Filmeschauen kaum mehr auf. Und schließlich
noch: Kino. Selbstreflexiver als Hitchcock geht's nicht, solange
man die Illusionsebene noch halbwegs intakt lassen möchte - weiter
kommt man dann nur mit Brechtschen Mitteln, und da wird's dann
meist schon wieder viel platter. Mit erstaunlich wenigen Ausnahmen
denkt Hitchcock in seinen Filmen auch immer über das Medium selbst
nach, hat etwas zum Kino und seinen Grundlagen mitzuteilen.
Manchmal ist das sehr offensichtlich (aber deswegen im Detail nicht
weniger komplex), wie bei REAR WINDOW (DAS FENSTER ZUM HOF), wo
James Stewart uns quasi einen Kinozuschauer vorspielt. Manchmal
ist's so versteckt und esoterisch, dass man sich drüber streiten
kann, ob's überhaupt Absicht ist. (Je länger man sich damit
beschäftigt, je mehr wird man aber merken, dass es meist nur
Absicht sein kann.)
Wie gesagt: Der Rahmen dieser bescheidenen Wochen-Tips ist viel
zu eng gesteckt, als dass wir hier mehr als diese zaghaften
Hinweisschildchen aufstellen könnten. Um etwas tiefer einzusteigen
und/oder um reinzuschnuppern, auf welch Tausend andere Sachen man
bei Hitchcock noch mit Gewinn achten kann, empfehlen wir einfach,
sich eines (oder noch besser: mehrere) der vielen schönen
Hitchcock-Bücher zur Hand zu nehmen. Ein guter Start ist
beispielsweise das bekannte, beliebte, wohlfeil zu erstehende und
dank der äußerst kompetenten Übersetzerin Frieda Grafe sogar
ausnahmsweise in einer wirklich brauchbaren deutschen Fassung
erhältliche Interview-Buch von Truffaut. ("Mr. Hitchcock, wie haben
Sie das gemacht?", heißt's auf Deutsch.) Das ist amüsant zu lesen
und sehr umfassend - allerdings sollte man sich darüber klar sein,
dass Hitchcock (der auch ein bewußter und begnadeter Bastler am
eigenen Mythos war) dem armen Monsieur Truffaut auch gerne einfach
das erzählte, wovon er wusste, dass der's gerne hören wollte. Oder
ihm zum Spaß auch mal die Hucke vollgelogen hat. Sprich: Nichts
geht darüber, sich möglichst wach und aufmerksam möglichst viele
Filme wirklich selbst anzuschauen. Und so bleibt uns dann
letztendlich doch nicht viel mehr zu sagen als "Da müssen Sie
einfach reingehen". (Hitchcock-Retrospektive: FILMMUSEUM, ab
Do. (fast) tägl., Titel und Zeiten siehe Programm)
Vielleicht hat unser Sermon hier ja aber doch wenigstens ein
bißchen bewegt. Ob Sie was Brauchbares mitgenommen haben, dass
können Sie gleich ganz einfach überprüfen. Was jetzt zum Schluss
kommen muss, das wissen Sie. Dem Herrn Oehmann seine berühmten
Worte. Aber jetzt achten Sie dabei mal ganz aufmerksam auf das
Thema der Schuld, auf die unterschwellige Sexualität und auf die
versteckte Selbstreflexivität. So richtig aufmerksam. Noch
aufmerksamer. Und wenn Sie jetzt dabei auf etwas kommen - dann
schreiben Sie uns und begeben Sich dann möglichst bald in
psychiatrische Behandlung. Denn wie Sie da was entdeckt haben
wollen ist uns - ehrlich gesagt - schleierhaft. Bei: "Samstags
Fußball, Sonntag Lindenstraße."
Viel Spaß dabei wünscht Ihnen
Die
Artechock-Redaktion
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