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Er hat zwar erst zwei Filme gemacht, zählt aber doch zu den großen
Entdeckungen des französischen - oder sollte man sagen europäischen
? - Kinos. In Cannes gewann er letztes Jahr für L'HUMANITÉ
den großen Preis der Jury, umstritten ist er bei der Kritik
allemal und in den deutschen Kinos war L'HUMANITÉ ein Flop.
Artechock Mitarbeiter André Grzeszyk unterzog Dumonts Filme
einer genaueren Betrachtung.
Pharaon schaut in die Ferne. Hinunter zum Horizont. Vielleicht in
Richtung des Tatortes, dahin, wo er, der Kommissar, vor einigen
Tagen die Leiche eines mißhandelten Mädchens gefunden hat. Mit der
Dauer der Einstellung wird sein Blick physisch, konkreter als der
manifeste Inhalt des aktuellen Kaders. Einen Schnitt weiter ist
seine Gestalt verschwunden. Vom Menschen gereinigtes Bild. Doch
dann wird sein Kopf plötzlich wieder sichtbar, man denkt zunächst
die Kamera fahre nach unten, aber wenn man sich am Haus in der
hinteren linken Ecke orientiert hat merkt man, dass die Technik
starr bleibt, dass es Pharaon ist, der sich bewegt und ins Bild
schwebt. Langsam. Von Unten nach Oben. Einen halben Meter vom Boden
entfernt, jenseits der Schwerkraft, steht er in der Luft, als hätte
er sich allein aufgrund der Anstrengung seiner Augen, der Kraft
seines Blickes außerhalb der physikalischen Gesetze
positioniert...
Bruno Dumonts Filme LA VIE DE JÉSUS und L´HUMANITÉ, aus dem diese
Szene stammt, sind anders, ganz anders als die dominierenden Modi
der Inszenierung im Kino. Man taucht in eine fremde Welt, in eine
andere Art der Wahrnehmung. Man begleitet die Kamera durch die
tristen, beliebigen Gassen einer französische Kleinstadt, wo jeder
jeden kennt und wo eigentlich niemand mehr wohnen möchte. Es ist
ein bißchen als befinde man sich in einem Vakuum, als wäre die Zeit
stehen geblieben, oder vielmehr, als würde die Zeit in ihrer
konkreten Dauer plötzlich spürbar, als würde sich der Globus (und
analog die Schnittfrequenzen) nicht ständig beschleunigen.
Vielleicht läßt das Dumonts Schaffen anachronistisch erscheinen,
denn der Ursprung seiner Inszenierungsstrategien wurzelt wohl tief
im Neorealismus. Passolini sei eines seiner Vorbilder, sagt er und
das merkt man auch in jedem Augenblick. Kino des Sehenden, nicht
der Aktion, um mit Deleuze zu sprechen. Keine illustrierten
Hörspiele, in denen einheitliche Subjekte mit der Kraft der Worte
ihre Konflikte und die ihres Milieus lösen. Die Visualität rückt
extrem in den Vordergrund, ebenso wie die Blicke.
Freddy (LA VIE DE JÉSUS) und Pharaon de Winter (L´HUMANITÉ)
agieren (wie die anderen Charaktere auch) kaum. Sie begegnen ihrer
Umgebung mit ausgesprochener Passivität, nehmen die Welt mit den
Augen auf (oder verwandeln sie durch ihre Blicke, wie Pharaon, wenn
er die Streikenden vor dem Rathaus in ihre Schranken weist), als
wäre an der Oberfläche, der Verteilung verschiedener
Lichtintensitäten bereits alles abzulesen. Marie, die die zu Hilfe
eilende Mutter Freddys und dessen epileptischen Anfall sorgsam
betrachtet ohne einzugreifen. Pharaon, der wie aus Versehen dem
Geschlechtsakt Josephs und Dominos verfolgt, im Raum stehend, ohne
Scham, ohne Fragen, die Augen nicht abwendend. Bedingungslos.
Sehend und von Domino, die unter Joseph liegt, gesehend. Sie ist
nicht empört oder schockiert, springt nicht wütend auf, sondern
geht einen jener bezeichnenden stummen Dialoge über die Blicke ein.
Dumonts Figuren wirken wie in die Leinwand projizierte Zuschauer,
wie Duplizitäten, Verdoppelungen. Der Filmraum und der dunkle Raum
des Saales verschmelzen im Laufe der Erzählungen. Naiv betrachtet
die Kamera die Schauspieler. Die Innen/Außen-Verhältnisse haben
sich ins Gegenteil verkehrt. Wenn ein Fenster im Bild zu finden
ist, dann fährt die Kamera nicht hinein, um ihren Voyeurismus
nachzukommen, Intimitäten aufzuspüren, sondern Pharaon schaut
hinaus als wolle er sagen: "Die Kamera zeigt nicht mich, ich zeige
der Kamera, wie sie zu sehen hat."
Es ist frappierend, mit welcher Unerbittlichkeit Dumont diese
Strategien anwendet. Diese reine Beobachtung, die alles sagt und
gerade deshalb gar nichts sagt. Freddy, der am Totenbett eines
Freundes steht, ohnmächtig, überwältigt von der Situation in der er
sich befindet (er ist nicht der Arzt, der uns in EMERGENCY ROOM das
Leben schenkt) und doch sehen muß, hinsehen, sich nicht abwenden
kann von dem sterbenden Leib. Das brutale, reine Schauen auf das
Elend, ob im Krankenhaus oder zu Hause, wo die Mutter im Fernseher
den Zoom der Kamera auf einen dahin vegetierenden Afrikaner
verfolgt.
Der Zuschauer muß sich dieser spezifischen Wahrnehmungsweise
beugen, an der Oberfläche, am Sichtbaren bleiben, weil Dumont
keinerlei Identifikationsangebot unterbreitet. Die Helden sind
keine, Pharaon und Freddy werden zu oft gebrochen, wirken immer ein
bißchen dümmlich, so, als wäre etwas mit ihnen nicht in Ordnung.
Freddy mit seinen epileptischen Anfällen. Der Kommissar mit seinem
maskenhaften Gesicht, das in seiner Blässe an Chaplins Tramp
erinnert, ohne der Träger "tieferer" Wahrheiten zu sein. Seine
Präsenz ist doch einige Male ein Zuviel, wird unangenehm, da, wo er
das fünfte Rad am Wagen in der Beziehung zwischen Domino und Joseph
spielt. Die Dramaturgie hat keinen positiven Platz für ihn
vorgesehen. Und wer dennoch den Versuch machen sollte, sich in die
Hauptfigur einzufühlen, für den hat Dumont am Ende noch eine böse
Überraschung parat.
Pharaon und Freddy sind eigenwillige, besondere Menschen, die
dennoch keine Subjektivität zu besitzen scheinen, d.h. ihr Selbst
ständig unterdrücken. Sie wohnen beide noch bei der Mutter, im
Artefakt Familie das sich in einer hypermodernen Welt selbst
überlebt hat. Der Vater ist eine Leerstelle, die Söhne wollen nicht
erwachsen werden. Freddy und sein Mofa-Rebellentum, Pharaon, den
das Schicksal, der Tod zum nicht-mehr-Vater gemacht hat. Die
Beziehungen zum Außen, zu anderen Menschen bleiben vage,
unbestimmt. Es gibt keine over-shoulder-shots, so, als wäre keine
echte Kommunikation möglich.
Die Filme entwickeln ihre Geschichten viel zu langsam, offenbaren
zu viele Brüche, als dass man mitgerissen werden könnte. Wie bei
Kluge werden auch den alltäglichen Handlungen Raum gegeben (Marie
die sich wäscht, die Gartenarbeit Pharaons, usw.). Wenn MAGNOLIA
uns beweisen will, dass es das Kino auch im Leben gibt, dann will
Dumont uns beweisen, dass es das Leben auch im Kino geben kann.
Vielleicht erscheint das dann langatmig, jedoch brauchen seine
Filme gerade jene Dauer um die spezifische Wahrnehmungsweise zu
etablieren.
Und die ist unangenehm für den Zuschauer, weil sie uns zwingt
Dinge zu sehen, die wir nicht sehen wollen. Rassismus, ohne einen
Denzel Washington, der unseren moralischen Weg gehen würde und die
Ordnung der Dinge zumindest auf der Leinwand wiederherstellt (LA
VIE DE JÉSUS). Kindsmord, ohne den smarten und schönen Polizisten,
der den Mörder in die Zelle bringt (L´HUMANITÉ). Dumont präsentiert
einfach, ohne zu repräsentieren. Er zeigt, ohne danach den Finger
zu heben und auf etwaige Schuldige zu verweisen. Er ist ein Meister
in der Kunst, Signifikanten zu produzieren ohne uns etwas über die
Signifikate zu sagen. Er sei kein Realist, sagt er, der Realismus
interessiere ihn nicht, er möchte enthüllen. Und schafft es immer
wieder. Das Enthüllte zeigt sich immer genau da, wo man es am
wenigsten vermutet hätte: im Alltäglichen. In ganz kleinen Gesten,
wo sich die Bilder, die Abbilder der Dinge jenseits der narrativen
Einheiten entfalten, eigenständig, als Selbstzweck (entgegen dem:
"Wenn ich einen Döner in der Hand habe, dann fress´ ich ihn / wenn
ich eine nackte Frau vor mir habe, dann fick´ ich sie / und wenn
ich eine Knarre in der Tasche habe, dann benutz´ ich sie auch
irgendwann..."). Die Kamera auf der Suche nach dem Blick eines
Kindes auf die Welt. Eine Wahrnehmung vor bzw. nach allen
vorgefaßten Meinungen. Pharaon, der Kommissar, geht noch einmal den
Schulweg des ermordeten Kindes, sucht nach seiner verlorenen
Unschuld.
Im Kosmos der Erotik offenbart sich die Diskrepanz der
Dumontschen Inszenierung mit gängigen Verfahren am
signifikantesten. Sex ist kein emotionaler, affektiver Höhepunkt,
kein Sensationsmoment. Gerade an dieser Stelle läßt Dumont
sämtliche Möglichkeiten zu Psychologisierungen aus. Deutlichst
spürbar in einer der Sexszenen zwischen Freddy und Marie. Er
beginnt mit einer Totalen. Marie und Freddy fahren zusammen auf dem
Mofa von hinten links nach vorne rechts einen Feldweg hinunter. Sie
bleiben stehen, steigen ab, laufen aus dem Bild. Die Bewegung
links- rechts setzt sich in der anschließenden Halbtotalen fort und
weiter in der nächsten Einstellung, einer Totalen, die zeigt, wie
sich die Beiden, jenseits des Weges, im Gras, ohne ein Wort
miteinander zu reden, ausziehen. Die nächste Einstellung
unterbricht dann die Bewegung links/rechts, indem sie sie ins
Gegenteil verkehrt, ebenso wie mit allen Erwartungen bricht, die
sich der popcornkauende Zuschauer hätte machen dürfen. Also
zunächst Totale. Dann Schnitt. Großaufnahme, gegen die Konvention,
ebenso wie der Bildinhalt. Die Hand Maries, die sich Freddys Penis
in den Leib schiebt. Man staunt, sonst nichts. Als hätte man das
zum ersten Mal gesehen. Das ist also Sex. Nur Sex. Sex an sich. Wie
eine Gebrauchsanleitung. Stecken sie x in y. Denken sie nicht nach,
Emotionen sind überflüsssig, ein rein funktionaler, kein affektiver
Vorgang. Entpersonalisiert. Freddy und Marie stöhnen irgendwo im
Off, die Kadrierung hat ihre Gesichter, die Träger ihrer
Identitäten, abgeschnitten. Die Großaufnahme deterretorialisiert,
abstrahiert von der Narration, dem Davor und Danach, läßt den
Zuschauer allein mit dem Akt, dem SEHEN des Aktes zurück. Dann doch
noch die Gesichter, wiederum Groß. Und nur physisch, angestrengt in
ihrer Körperlichkeit. Kein Kuß, keine Psychologie, keine Liebe. Die
folgt später. Abgesetzt. Dumont schneidet zunächst auf die starre
Aufnahme eines Baumes. 11 Sekunden lang, ohne Aktion, gleichsam als
Bruchstelle, wie Auf- und Abblende (jetzt ein neues Kapitel...). Um
erst gar nicht eine Anflug von Attraktionsmontage aufkommen zu
lassen. Nach dem Baum die Zärtlichkeiten, Freddys Kopf sanft auf
der Schulter Maries. Aber das ist etwas ganz anderes, hat mit dem
Sex nichts mehr zu tun. Es ist kein x + x = Liebe, sondern ein x x
x. Wenn Domino und Joseph die Straße, den öffentlichen Raum
verlassen und im Wohnzimmer sofort mit dem Akt beginnen, dann
klingt das wie in einem Drehbuch eines Films mit Pornostar Dirk
Diggler (Die Beiden gehen nach Oben / Sie kommen schnell zur
Sache...) und es findet sich dort die gleiche pure Körperlichkeit,
dieselbe Direktheit. Keine sinnstiftende Erzählung sondern das
Aufzählen von Fragmenten.
Vielleicht ist es gerade dieser Sinn, der die Bruchstücke
verbinden könnte, den Pharaon und Freddy suchen. Als Ausweg, weg
von der ihrem Innersten eingeschriebenen Passivität. In all dem
lebt irgendwo ein kleines Fünkchen Hoffnung. Freddy, der am Ende
von LA VIE DE JÉSUS endlich bei sich selbst anzukommen scheint, als
wäre diese unsinnige, verzweifelte Reise im Kreis nun beendet. Die
extremen Nahaufnahmen seines Körpers gehen den Ursprüngen auf den
Grund, als wäre er endlich nahe genug an sich selbst, um ein Stück
von sich verstehen zu können. Als gäbe es eine Ursache hinter den
visuellen Phänomenen. Angekommen auf dem Bahnsteig der eigenen
Existenz, der eigenen Ängste und Bedürfnisse. Er beginnt zu weinen,
die Subjektivität, die Affekte brechen aus ihm heraus, wie bei
Pharaon, wenn er den überführten Kindsmörder Joseph liebevoll auf
den Mund küßt. Kleine Fluchtpunkte in den leeren hermetischen
Zirkeln, kurze Hinweise auf die Zukunft, wo es vielleicht wieder
Möglichkeiten, Alternativen gibt.
André Grzeszyk
L´HUMANITÉ (F, 1999) Regie: Bruno Dumont Buch: Bruno
Dumont Darsteller: Emmanuel Schotte, Séverine Caneele, Philippe
Tullier
LA VIE DE JÉSUS (F, 1997) Regie: Bruno Dumont Buch: Bruno
Dumont Darsteller: David Douche, Marjorie Cottreel, Sébastian
Bailleul
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