Spätestens seit Cannes dürfte kein Zweifel mehr darüber bestehen,
dass Lars von Trier nicht nur ein großartiger Regisseur, sondern
auch ein geschickter Anarchist der Filmkunst ist. Gerade dann,
wenn alle Welt von ihm den Ultra-Dogma-Film, mit noch mehr
Verknappung, noch weniger Kompromissen und noch strengeren Regeln
erwartet, liefert er das genau Gegenteil. Was aber ist das
Gegenteil von Dogma ? Aufwendige Historienfilme ?
Computerunterstützte Science-fiction-Knaller ? Aufgeblasene
Hollywooddramen ? Es braucht schon einen Lars von Trier, um in
einem Musical die überraschendste und zugleich logischste Antwort
auf diese Frage zu finden. Denn was ist schließlich weiter vom
strengen Realismus der Dogma-Filme entfernt, als die vollkommen
realitätsfremde Abgehobenheit von tanzenden und singenden Menschen
? Auch Kenneth Branagh bekennt sich mit seinem aktuellen Film
VERLORENE LIEBESMÜH' zu diesem mittlerweile ungewohnte Genre, wobei
seine Mischung aus Shakespeares eher unbekanntem Stück "Love's
Labour's Lost" (so auch der Originaltitel) und Jazz Standards fast
genauso gewagt ist wie von Triers Husarenstück, jedoch leider nicht
gelungen.
Warum sich Shakespeare und Cole Porter & Co. nicht vermischen
lassen? Wahrscheinlich aus dem gleichen Grund, warum Wagner Opern
und die Musik von Coltrane nicht direkt zusammenpassen oder DON
GIOVANNI Einschübe von Isaac Hayes nicht verträgt. Man stelle sich
eine Aufführung von Goethes FAUST vor, in der das Gretchen
plötzlich singt "I'm thru with love" oder der Dr. Faust ein
schmissiges "Sympathy for the Devil" anstimmt. Musical mir graut
vor dir.
Nun bin ich wirklich kein Prediger der reinen Lehre, der nur das
unverfälschte Original ohne Streichungen und am besten in
unverständlichem Altenglisch (um bei Shakespeare zu bleiben) gelten
läßt. Aber ich glaube doch daran, dass sich der Autor den ein oder
anderen Gedanken über den Aufbau, den Rhythmus und den Ablauf der
Handlung gemacht hat. Sowie die Menschen in VERLORENE
LIEBESMÜH' aber anfangen zu tanzen und zu singen kommt das
eigentliche Stück zum erliegen. Die Handlung steht still, und das
nicht einmal, sondern alle 15 Minuten. Es ist wie in den
Filmen der Marx Brothers, wenn Chico und Harpo minutenlang auf dem
Klavier bzw. der Harfe spielen (ähnlich ist es auch mit den Liedern
von Dean Martin in den Jerry Lewis Filmen). Das erstaunliche
Tempo, das ein Marx Brothers Film ansonsten hat, bremst bei diesen
Musikeinlagen augenblicklich ab und das hat mich schon immer
gestört. Das Harfenspiel von Harpo Marx hat ebenso seinen Reiz wie
die Musicalszenen in VERLORENE LIEBESMÜH', doch in einer lebhaften
Komödie wirken sie für mich wie ein Fremdkörper, noch dazu wenn die
Einlagen selber nicht komisch sind (im Gegensatz etwa zu den
Liedern in A LITTLE SHOP OF HORROR). Das ein auf den ersten Blick
ähnlicher Film wie Woody Allens ALLE SAGEN I LOVE YOU im Gegensatz
zu VERLORENE LIEBESMÜH' funktioniert, liegt schlicht daran, dass
Allens Film ein Musical mit Komödieneinschüben ist, und nicht wie
bei Branagh umgekehrt. Eine Komödie lebt ebenso von einem gewissen
Tempo wie ein Actionfilm, aber wer kann sich schon einen spannenden
Thriller mit Gesangseinlagen vorstellen ?
Das Experiment Shakespeare meets Swing hätte sicher auch gut
ausgehen können, wenn Branagh den alten Meister nicht so
fürchterlich ernst nehmen würde (jetzt sind wir wieder so weit wie
am Anfang). Nimmt man sich Shakespeare als sehr freie Vorlage, wie
etwa jetzt bei ROMEO MUST DIE oder als geistigen Grundstock wie in
LOOKING FOR RICHARD von Al Pacino, kann man damit so ziemlich alles
machen. Aber wenn man aber Shakespeare so pedantisch betreibt wie
Branagh (der immerhin einen vierstündigen HAMLET ohne Kürzungen
gemacht hat), dann steht das in sich geschlossene Kunstwerk des
Theaterstücks neben den davon unabhängigen, zeitlos schönen
Liedern.
Würde man alle Musicaleinlagen aus VERLORENE LIEBESMÜH'
herausschneiden, man hätte immer noch eine schlüssige Komödie. Täte
man das selbe bei anderen, "richtigen" Musicals, es würde nur ein
wirrer Torso übrig bleiben.
Michael Haberlander
!!!---Ein nicht unerheblicher Teil der
Redaktion möchte hier festhalten, daß er überhaupt nicht dieser
Meinung ist und LOVE'S LABOUR'S LOST große Klasse findet
---!!!
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