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Eigentlich müsste man darüber gar nicht diskutieren.
Eigentlich ist's das Selbstverständlichste der Welt: Im Kino können
Menschen fliegen. Ohne Vorankündigung und Begründung. Und ohne
Aufhebens - außer dem der Schwerkraft. Das sollte man spätestens
seit Georges Méliès wissen, dem großen Leinwandmagier, der schon in
den allerersten Kinderjahren des Mediums zeigte, dass die
Filmkamera kein einfaches Abbildungsinstrument ist, Kino keine
Realitätseinfangsapparatur. Sondern dass da die Gesetze für
menschliche Körper (und die Räume, durch die er sich bewegt) neu
geschrieben werden. Lange hat sich diese Erkenntnis gehalten.Im
frühen Kino war sie weitverbreitet. Die Stummfilmkomiker haben sich
ihrer bedient. Und als der Tonfilm das Musical mit sich brachte,
hatte dieses sie bald wieder im Schlepptau. Wenn Fred Astaire
tanzte, schien die Schwerkraft sowieso immer nur ein optionales
Spielzeug - Nummern wie der bekannte Tanz durchs ganze
Zimmer, Wände und Decke inklusive, in ROYAL WEDDING machten das nur
etwas expliziter. Astaire ist es wohl hauptsächlich zu verdanken,
dass das asiatische Kino in den 70ern das Fliegen und Schweben als
eine dem Menschen natürlich eigene Fortbewegungsart entdeckte. In
dem Maße, wie der martial arts-Film begann, seine Kampfszenen als
Musicalnummern zu begreifen (und sich dabei sehr bewusst die
Hollywood-Klassiker als Vorbild nahm), befreiten sich die
choreographierten Tätlichkeiten auch von der Gravität. Weil die
realen Körper, die den Rohstoff für die Filmbilder liefern, aber
auch bei allem Peking-Oper-Training nur an die Grenzen des
physikalisch Möglichen, nicht aber darüber hinaus kommen, und weil
das Hong Kong-Kino zwar durch die Magie des Schnitts viel mehr als
das amerikanische leisten kann, aber eben doch nicht alles, wurden
die "wire-stunts" geboren: Die Darsteller hängen an dünnen Drähten
und werden über ein System von Flaschenzügen an der Studiodecke
durch eine Crew am anderen Ende der Drähte durch die Luft gehievt.
Das Prinzip ist einfach - die choreographisch wirkungsvolle
Ausführung aber erfordert ungeheure Kunst.
Dem westlichen Kino war zu diesem Zeitpunkt das Fliegen schon
fast völlig abhanden gekommen. Die Erinnerung an leichtere Zeiten
war wohl im Hinterkopf noch präsent - aber ob PETER PAN, DRACULA
und seine Konsorten, MARY POPPINS oder SUPERMAN: fliegende Menschen
verlangten nach ausführlicher Erklärung und übernatürlicher
Rechtfertigung, und immer musste das Abheben Chefsache sein, durfte
nie beiläufig und selbstverständlich geschehen. Die Helden des
Action-Kinos gab's nur mit voller Erdenschwere, immer muskolöser
mussten deren Männerkörper werden, immer handfester ihre
gewalttätige Interaktion mit Raum, Dingen und anderen Körpern um
sie herum. Wenn ausnahmsweise einmal mit Hong Kong-Kino
konfrontiert, reagierte das westliche Mainstream-Publikum mit
unverständigem Lachen ob der von der Gravitation begnadigten Körper
dort, und mit dem bekannten allerdümmsten aller dummen "Argumente":
"Das ist ja gar nicht realistisch," was stets einzig und allein
heißt: "Das ist eine andere Ästhetik als die, die wir gewohnt sind,
vorgesetzt zu bekommen." Alle zaghaften Versuche westlicher
FilmemacherInnen, die zu Recht von den asiatischen Höhenflügen
begeistert waren, etwas davon in ihre Werke einfließen zu lassen,
blieben unverstanden oder bestenfalls wirkungslos. Wie sollte das
auch funktionieren?: Da waren mittlerweile zwei grundsätzlich
verschiedene Konzeptionen von kinematographischem Raum und Körper
zu Gange, die nicht auf halbem Wege zu vermitteln waren. Bis
die Gebrüder Wachowksi auf den Plan traten. Wie die meisten
RegiseurInnen, die ihren Beruf nicht als Brotjob sondern aus
Begeisterung für das Medium ausüben und deshalb auch Cineasten
sind, war die in den 80ern langsam in Europa und den USA
einsetzende Entdeckung des Hong Kong-Kinos über die Werke von John
Woo, Tsui Hark und einer handvoll anderer alles andere als spurlos
an ihnen vorüber gegangen. Sie waren Fans von wire-stunts - und
fanden als erste (wahrscheinlich sogar, ohne es geplant und bewußt
zu tun) den Weg, die auch für ein nur im Mainstream geschulten
westlichen Publikum goutierbar zu machen. Wenn die ZuschauerInnen
den künstlichen Leinwandraum und seine lokalen Gesetze für real
nehmen, dann muss zur Aufhebung der Regeln halt innerhalb dieses
Raums ein zweiter, virtueller her; wenn die erzählte Welt für eine
echte gehalten wird, dann muss sie eben von einer anderen,
künstlichen erzählen. Auftritt THE MATRIX. Da ist die Welt ein
Computerspiel und die Körper Konstrukte, durch deren Adern nur
Bitstreams fließen. Dass da für Faust- und Faustwaffenkampf andere
Gesetze gelten, weiß man ja von "Tekken" oder "Street Fighter", und
falls nicht, glaubt man's auch so. Und plötzlich fanden es alle
ganz neu und ganz toll. Neu war's nur für Menschen, die nur
zeitgenössisches amerikanisches Kino gucken, und toll war's
hauptsächlich deswegen, weil die Wachowskis klug genug waren, die
wire stunt-Arbeit in die erfahrenen Hände von Profis aus Hong Kong
zu legen, die wussten, wie man das richtig macht. Auf jeden Fall
aber war plötzlich eine der in Hollywood lange vergessenen
Kino-Möglichkeiten wieder präsent und salonfähig geworden. Mit
einem kleinen Haken: Um diese Möglichkeit auch wieder gebührend zu
nutzen, muss man sie auch noch aus den Mauern des doppelt
virtuellen Raums rauskriegen. Was gar nicht so einfach ist.
Dass es in ROMEO MUST DIE eine kleine Handvoll wire stunts gibt,
hat mit THE MATRIX erstmal nichts zu tun. Das liegt schlicht an dem
Hauptdarsteller Jet Li, einem der zahlreichen Hong Kong-Emigranten
wie John Woo oder Chow Yun-Fat. Der hat in seinem Heimat-Stadtstaat
wie alle martial arts-Stars schon seit Jahren am drahtenen Faden
gehangen, beherrscht die Technik spekatkulär gut und möchte sie
mithin auch gerne in seiner neuen filmischen Heimat vorführen. Was
er in ROMEO für Verhältnisse asiatischer Ästhetik ohnehin reichlich
zurückhaltend und sparsam tut - kein Vergleich z.B. zu Jet Lis
Auftritten in der ONCE UPON A TIME IN CHINA-Serie. Für ein
durchschnittliches westliches Publikum aber wohl immer noch zuviel
des Guten - weshalb filmisch mit Zeitlupe und
Computer-Nachbearbeitung eine visuelle Erinnerungsbrücke zu THE
MATRIX geschlagen wurde (die den stunts in diesem Kontext nicht
unbedingt gut tut). Und die komplette Werbung an diesem eigentlich
nebensächlichen und selbstverständlichen Detail aufgehängt wurde.
Der halbe Trailer scheint aus den zwei, drei wire stunts zu
bestehen, die der Film bietet, und als größtes Verkaufsargument
soll dienen: "Vom Produzenten von THE MATRIX." Der unter unzähligem
anderen auch der Produzent ist von JUMPING JACK FLASH, FATHERS'
DAY, THE HUDSUCKER PROXY oder RICHIE RICH. Alles Filme, die mit
ROMEO MUST DIE genauso wenig zu tun haben, wie es THE MATRIX tut.
Die Angst vor dem Fliegen scheint beim hiesigen Publikum noch immer
groß zu sein. Immerhin scheint das ganze eigentlich lächerliche
Brimborium aber Früchte des Erfolges zu tragen und sei damit auch
entschuldigt und abgesegnet - wenn's hilft, einen weiteren kleinen
Schritt zu tun zur neuen Akzeptanz der verschollenen Kunst des
Schwebens, soll es uns recht und willkommen sein. Und allein so
gesehen, hätte ROMEO MUST DIE schon eine wichtige Pflicht erfüllt.
Er leistet aber auch noch mehr als nur dem westlichen Publikum
etwas beizubringen, was das asiatische seit dreißig Jahren weiß.
Zum einen führt er zwei Traditionen zusammen, die auf Distanz schon
länger miteinander verbunden waren: Denn die erste große Rezeption
des asiatischen martial arts-Films fand in Amerika tatsächlich
schon in den 70ern statt, allerdings nur in der black community.
Die Afro-Amerikaner haben spätestens mit Bruce Lee begonnen, sich
intensiv mit "kung fu flicks" zu beschäftigen, und das hat seinen
zumindest unterschwelligen Niederschlag (Wortwitz ausnahmsweise
nicht beabsichtigt!) auch im Blaxploitation Kino gefunden. Nur
geflogen wurde da selten bis nie - gewiss erstmal aus pragmatischen
Gründen, weil für wire stunts keine entsprechenden Studios und
trainierten Performer vorhanden waren, aber wohl auch, weil das mit
der Konstruktion schwarzer (Körper-)Identität (zumal in Filmen, die
großteils von Weißen für ein schwarzes Publikum gemacht wurden)
damals schon schwierig genug war, ohne dass die Körper auch noch
das Fliegen anfangen. Als Option war das aber im schwarzen Kino im
Hintergrund schon immer deutlich präsenter - z.B. kann sich BLADE
rühmen, dank Wesley Snipes schon vor THE MATRIX einen größeren
(aber leider weniger gelungenen) Versuch unternommen zu haben, Hong
Kong-Ästhetik in den heutigen amerikanischen Mainstream zu
schmuggeln. In dieser Hinsicht ist der Kampf der
afro-amerikanischen und der chinesischen Familien in ROMEO MUST DIE
eigentlich eher eine family reunion. Und noch eines leistet
ROMEO: Er unterbreitet einen Vermittlungsvorschlag zwischen den so
verschiedenen Körper-Konzepten, die hinter der asiatischen und der
amerikanischen Action-Ästhetik stecken. Die computergenerierten
Röntgenaufnahmen knackender Knochen und berstender Organe sind ein
Versuch, die massive, handfeste Erdenschwere des amerikanischen
Filmkörpers mit der balletthaften Leichtheit und abstrakten
Unverwundbarkeit des asiatischen zusammenzubringen. Sie erfüllen
das, was die Hong Kong-inspirierten Bilder der Fights von aussen
nicht liefern. Sie finden unter der fremden Oberfläche das eigene
wieder. Allerdings um den Preis, das nur in einem halb-virtuellen
Raum tun zu können. So gesehen kehrt ROMEO den Prozess von THE
MATRIX exakt um: Hier ist genau das Greifbarere, "Realere" nur über
Bilder der Virtualität zugänglich. Das ist schon einen Schritt
weiter als noch die Suche nach dem authentischen Schmerz im Inneren
des Körpers bei THREE KINGS; ist ein noch radikaleres Zeichen
dafür, wie stark sich derzeit im amerikanischen Action-Kino die
Körperbilder wandeln. Die muskelbetonten Helden der 80er und 90er,
Stallone, Schwarzenegger, Willis, danken nach und nach ab, und der
Nachwuchs trägt zunehmend asiatische Züge. Bleibt zu hoffen, dass
es nur eine Frage der Zeit ist, bis auch einem amerikanischen
Filmhelden das ästhetische Gen zum natürlichen Fliegen schon mit in
die Wiege gelegt wurde.
Thomas
Willmann
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