|
Der Künstler als junger Mann begeisterte sich für Insekten. Zwei
Jahre lang studierte Luis Bunuel Anfang der zwanziger Jahre an der
Madrider Universität Entomologie, die Wissenschaft der Insekten,
"obwohl mir bald klar wurde, dass ich mich mehr für das Leben und
die 'Literatur' der Insekten interessierte, als für deren Anatomie,
Physiologie oder Klassifikation." Mit dem Studium war es schnell
vorbei, doch die naturwissenschaftliche Methode hinterließ ihre
Spuren. Gemeinsam mit erzkatholischem Kindheitserbe,
fetischistischer Besetzung des Weiblichen, von Körper-Natur und
Gewalt bildete sie einen wesentlichen Bestandteil jenes
persönlichen Universums, aus dem sich in den folgenden Jahrzehnten
Bunuels Filme speisten, mit denen er "das unterbewusste Leben zum
Ausdruck bringen" wollte.
Eine Ausstellung des Instituto Cervantes in München (zuvor war
sie in Toulouse und im Pariser Centre Pompidou zu sehen) spürt
diesen persönlichen Obsessionen jetzt im Einzelnen nach. Äußerer
Anlaß ist Bunuels hundertster Geburtstag am 22. Februar; doch
abseits von aller biographischer Deutung versucht man hier einen
anderen, strukturalistischen Zugang: In Gruppen von Bild-Tafeln
bündelt die Ausstellung die reiche Welt von Bunuel zu
Motiv-Kategorien, klassifiziert und erzeugt so serielle
Gemeinsamkeiten. Vor allem begegnen einem immer wieder Augen.
Sie spielen die wichtigste Rolle im Werk Bunuels, nicht nur das
zerschnittene weltberühmte im frühen Geniestreich UN CHIEN ANDALOU
(EIN ANDALUSISCHER HUND), mit dem sich der spanische Bohemien 1929
das Entree in die erste Garde der Pariser Surrealisten verschaffte.
Die großformatigen, klug gewählten Photos zeigen unzählige Blicke,
die heimlichen durchs Schlüsselloch, die sehnsüchtigen aus dem
Fenster, die verführerischen. Sie zeigen auch, was sich den Blicken
preisgibt: Beine, Füße, Hände, schließlich Gesichter und das
Gegenteil der Preisgabe: Verhüllung durch Schatten, Kleidung,
Strümpfe, Schuhe, Leder – die Gefäße des Fleisches lassen eine Welt
von Fetischen auferstehen.
So suggestiv diese Methode ist, so willkürlich auch, entspricht
sie doch exakt dem Vorgehen Bunuels. Immer wieder isoliert er seine
Objekte durch Großaufnahmen, erhöht sie dadurch ins Prinzipielle
und stellt die privilegierten Einzelteile mittels flinker Schnitte
in einen Zusammenhang, der auch ein anderer sein könnte – aber
darauf kommt es nicht an. Mit diesen Mitteln spürt die Schau eine
ganz persönliche symbolische Ordnung auf, sie zeigt eine Sammelwut
die an einen Barock-Despoten erinnert, und wieder und wieder das
Immergleiche sucht: Frauenbeine zum Beispiel, körperliche Gebrechen
oder die Insekten der Jugend – obskure Objekte der Verneinung nicht
weniger wie des Begehrens. "Ich bin ein Feind der Wissenschaft
und ein Freund des Geheimnisses" charakterisierte er sich selbst.
Bunuels Werk erscheint als eine Wunderkammer, die nur zum Teil
modern ist. Am besten spiegelt sich das wieder im häufigen
Bunuel-Motiv der Schachtel, des Kästchens, dessen Inhalt oft
ungezeigt bleibt, am berühmtesten vielleicht in einer Szene aus
BELLE DE JOUR (SCHÖNE DES TAGES), in der Catherine Deneuve ein
Kästchen öffnet und erschreckt - Pandorabüchse und Gefäß verbotener
Früchte zugleich, Metapher für das letzte – religiöse, sexuelle? –
Geheimnis wie fürs Unbewusste im Zentrum von allem. Kaum
weniger geheimnisvoll das Bestiarium von Bunuels Filmen: Kröten und
Papageien, Vögel überhaupt, Skorpione, Ratten, Schlangen und
Ziegen, Haustiere jeder Art trifft man hier häufiger als bei fast
allen anderen Regisseuren. Bunuel kombiniert sie gern mit den
Bestien des Menschlichen: Krüppel, Zwerge, schöne Frauen und
Träume.
Die letzte Kategorie dieser Arie der Wiederholung und Variation
bilden die Objekte des Alltags, allesamt eigentlich Mittel der
Befreiung, des Ausbruchs und des Eskapismus aus dem "System von
Verboten und Verdrängungen" (Bunuel) der Normalität: Zum Werkzeug
dieser Befreiung kann der eigene Körper werden, bei Bunuel sind es
aber vor allem Klingen und Feuerwaffen. Nur im Gewaltakt, und zwar
dem spontanen scheint sie in dessen Filmen möglich, Akt der
Souveränität einerseits, aber auch der Verzweiflung. Mildere
Fluchtmittel: Musikinstrumente, vor allem das bürgerliche Klavier
und – Handarbeiten. Die Spitzenklöpplerin aus Vermeers Gemälde
begleitete Bunuels Werk vom ersten Film – dort ist es als Abbildung
in einem Buch zu sehen – bis zur letzten Einstellung, die er 1977
für CET OBSCUR OBJET DU DESIR drehte: "Sie berührt mich, ohne das
ich sagen könnte warum; sie bewahrt ihr Geheimnis."
So erlebt man Bunuels Filme kristallisiert zu
Schlüssel-Einstellungen – das bewegte Bild des Films käme dahinter
zu kurz, gäbe es nicht eine parallele Schau im Münchner Filmmuseum,
die zumindest ein paar von Bunuels Filmen und wichtige
Dokumentationen zeigt. Die schreiende Verzweiflung des
Archibaldo de la Cruz vermisst man trotzdem in der Schau ebenso wie
das Zittern im Gang Jeanne Moreaus, dem Bunuel so viele Zeilen
widmete. Oder die Catherine Deneuve seiner Träume: "Nicht unbedingt
mein Frauentyp, aber mit nur einem Bein und geschminkt, finde ich
sie sehr attraktiv." Die bekannten Geschichten werden in dem
hervorragenden – und wunderschön bebilderten - Katalog
mitgeliefert: Von der Freundschaft mit García Lorca und den Jahren
im Paris der 20er wo Bunuel bald zu den Bohemiens jener
europäischen "Lost Generation" gehörte, aus der sich die
Avantgardebewegungen der Epoche rekrutierten. Das öde Jahrzehnt
nach 1933, in dem Bunuel keinen Film drehen konnte und im
amerikanischen Exil mit Zweitrangigem beschäftigt war. Schließlich
der späte Ruhm des über 60jährigen. Neben diesen Geschichten und
Bunuels Filmen tauchen hier auch sehr lesenswerte Interviews auf,
unter anderem mit Carlos Saura. Der verweist auf Parallelen zur
Malerei Francisco Goyas, wie Bunuel (und Saura selbst) ein
Aragonese. Über Goyas Liebe zur Herzogin von Alba wollte Bunuel
einst einen Film drehen (Saura hat ihn nun soeben gedreht, GOYA IN
BORDEAUX lief auf dem Münchner Filmfest). Gemeinsam ist Goya und
Bunuel neben der Kritik an Staat, Kirche und Gesellschaft vor allem
der Blick auf die ganze Wahrheit, das Nicht-Wegschauen-wollen.
Seine Obsessionen verstecken wollte Bunuel nie, ein Zyniker mochte
er aber erst recht nie sein. Stattdessen reflektierte er, so die
Quintessenz der interessanten, aber thesenlosen Ausstellung, in
seinen Filmen vor allem die eigene Widersprüchlichkeit: "Ich bin
Sadist, aber ein vollkommen normales Wesen."
Bunuels Obsessionen, bis zum 26.Juli im Instituto Cervantes,
Marstallplatz 7, München, danach in Bremen, Rom, Neapel. Der
Katalog (344 Seiten) kostet 78 Mark. Parallel zur Ausstellung
zeigt das Münchner Filmmuseum ein Begleitprogramm mit selten zu
sehenden Filmen und Dokumentationen.
Rüdiger
Suchsland
|