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13.07.2000
 
 
   
 

Barocke Wunderkammer
Begierde und Geheimnis: Eine Ausstellung zu Luis Bunuels' 100. Geburtstag

 
Obsessionen, die sich lohnen
     
 
 
 
 

Der Künstler als junger Mann begeisterte sich für Insekten. Zwei Jahre lang studierte Luis Bunuel Anfang der zwanziger Jahre an der Madrider Universität Entomologie, die Wissenschaft der Insekten, "obwohl mir bald klar wurde, dass ich mich mehr für das Leben und die 'Literatur' der Insekten interessierte, als für deren Anatomie, Physiologie oder Klassifikation." Mit dem Studium war es schnell vorbei, doch die naturwissenschaftliche Methode hinterließ ihre Spuren. Gemeinsam mit erzkatholischem Kindheitserbe, fetischistischer Besetzung des Weiblichen, von Körper-Natur und Gewalt bildete sie einen wesentlichen Bestandteil jenes persönlichen Universums, aus dem sich in den folgenden Jahrzehnten Bunuels Filme speisten, mit denen er "das unterbewusste Leben zum Ausdruck bringen" wollte.

Eine Ausstellung des Instituto Cervantes in München (zuvor war sie in Toulouse und im Pariser Centre Pompidou zu sehen) spürt diesen persönlichen Obsessionen jetzt im Einzelnen nach. Äußerer Anlaß ist Bunuels hundertster Geburtstag am 22. Februar; doch abseits von aller biographischer Deutung versucht man hier einen anderen, strukturalistischen Zugang: In Gruppen von Bild-Tafeln bündelt die Ausstellung die reiche Welt von Bunuel zu Motiv-Kategorien, klassifiziert und erzeugt so serielle Gemeinsamkeiten.
Vor allem begegnen einem immer wieder Augen. Sie spielen die wichtigste Rolle im Werk Bunuels, nicht nur das zerschnittene weltberühmte im frühen Geniestreich UN CHIEN ANDALOU (EIN ANDALUSISCHER HUND), mit dem sich der spanische Bohemien 1929 das Entree in die erste Garde der Pariser Surrealisten verschaffte. Die großformatigen, klug gewählten Photos zeigen unzählige Blicke, die heimlichen durchs Schlüsselloch, die sehnsüchtigen aus dem Fenster, die verführerischen. Sie zeigen auch, was sich den Blicken preisgibt: Beine, Füße, Hände, schließlich Gesichter und das Gegenteil der Preisgabe: Verhüllung durch Schatten, Kleidung, Strümpfe, Schuhe, Leder – die Gefäße des Fleisches lassen eine Welt von Fetischen auferstehen.

So suggestiv diese Methode ist, so willkürlich auch, entspricht sie doch exakt dem Vorgehen Bunuels. Immer wieder isoliert er seine Objekte durch Großaufnahmen, erhöht sie dadurch ins Prinzipielle und stellt die privilegierten Einzelteile mittels flinker Schnitte in einen Zusammenhang, der auch ein anderer sein könnte – aber darauf kommt es nicht an. Mit diesen Mitteln spürt die Schau eine ganz persönliche symbolische Ordnung auf, sie zeigt eine Sammelwut die an einen Barock-Despoten erinnert, und wieder und wieder das Immergleiche sucht: Frauenbeine zum Beispiel, körperliche Gebrechen oder die Insekten der Jugend – obskure Objekte der Verneinung nicht weniger wie des Begehrens.
"Ich bin ein Feind der Wissenschaft und ein Freund des Geheimnisses" charakterisierte er sich selbst. Bunuels Werk erscheint als eine Wunderkammer, die nur zum Teil modern ist. Am besten spiegelt sich das wieder im häufigen Bunuel-Motiv der Schachtel, des Kästchens, dessen Inhalt oft ungezeigt bleibt, am berühmtesten vielleicht in einer Szene aus BELLE DE JOUR (SCHÖNE DES TAGES), in der Catherine Deneuve ein Kästchen öffnet und erschreckt - Pandorabüchse und Gefäß verbotener Früchte zugleich, Metapher für das letzte – religiöse, sexuelle? – Geheimnis wie fürs Unbewusste im Zentrum von allem.
Kaum weniger geheimnisvoll das Bestiarium von Bunuels Filmen: Kröten und Papageien, Vögel überhaupt, Skorpione, Ratten, Schlangen und Ziegen, Haustiere jeder Art trifft man hier häufiger als bei fast allen anderen Regisseuren. Bunuel kombiniert sie gern mit den Bestien des Menschlichen: Krüppel, Zwerge, schöne Frauen und Träume.

Die letzte Kategorie dieser Arie der Wiederholung und Variation bilden die Objekte des Alltags, allesamt eigentlich Mittel der Befreiung, des Ausbruchs und des Eskapismus aus dem "System von Verboten und Verdrängungen" (Bunuel) der Normalität: Zum Werkzeug dieser Befreiung kann der eigene Körper werden, bei Bunuel sind es aber vor allem Klingen und Feuerwaffen. Nur im Gewaltakt, und zwar dem spontanen scheint sie in dessen Filmen möglich, Akt der Souveränität einerseits, aber auch der Verzweiflung. Mildere Fluchtmittel: Musikinstrumente, vor allem das bürgerliche Klavier und – Handarbeiten. Die Spitzenklöpplerin aus Vermeers Gemälde begleitete Bunuels Werk vom ersten Film – dort ist es als Abbildung in einem Buch zu sehen – bis zur letzten Einstellung, die er 1977 für CET OBSCUR OBJET DU DESIR drehte: "Sie berührt mich, ohne das ich sagen könnte warum; sie bewahrt ihr Geheimnis."

So erlebt man Bunuels Filme kristallisiert zu Schlüssel-Einstellungen – das bewegte Bild des Films käme dahinter zu kurz, gäbe es nicht eine parallele Schau im Münchner Filmmuseum, die zumindest ein paar von Bunuels Filmen und wichtige Dokumentationen zeigt.
Die schreiende Verzweiflung des Archibaldo de la Cruz vermisst man trotzdem in der Schau ebenso wie das Zittern im Gang Jeanne Moreaus, dem Bunuel so viele Zeilen widmete. Oder die Catherine Deneuve seiner Träume: "Nicht unbedingt mein Frauentyp, aber mit nur einem Bein und geschminkt, finde ich sie sehr attraktiv."
Die bekannten Geschichten werden in dem hervorragenden – und wunderschön bebilderten - Katalog mitgeliefert: Von der Freundschaft mit García Lorca und den Jahren im Paris der 20er wo Bunuel bald zu den Bohemiens jener europäischen "Lost Generation" gehörte, aus der sich die Avantgardebewegungen der Epoche rekrutierten. Das öde Jahrzehnt nach 1933, in dem Bunuel keinen Film drehen konnte und im amerikanischen Exil mit Zweitrangigem beschäftigt war. Schließlich der späte Ruhm des über 60jährigen. Neben diesen Geschichten und Bunuels Filmen tauchen hier auch sehr lesenswerte Interviews auf, unter anderem mit Carlos Saura. Der verweist auf Parallelen zur Malerei Francisco Goyas, wie Bunuel (und Saura selbst) ein Aragonese. Über Goyas Liebe zur Herzogin von Alba wollte Bunuel einst einen Film drehen (Saura hat ihn nun soeben gedreht, GOYA IN BORDEAUX lief auf dem Münchner Filmfest). Gemeinsam ist Goya und Bunuel neben der Kritik an Staat, Kirche und Gesellschaft vor allem der Blick auf die ganze Wahrheit, das Nicht-Wegschauen-wollen. Seine Obsessionen verstecken wollte Bunuel nie, ein Zyniker mochte er aber erst recht nie sein. Stattdessen reflektierte er, so die Quintessenz der interessanten, aber thesenlosen Ausstellung, in seinen Filmen vor allem die eigene Widersprüchlichkeit: "Ich bin Sadist, aber ein vollkommen normales Wesen."

Bunuels Obsessionen, bis zum 26.Juli im Instituto Cervantes, Marstallplatz 7, München, danach in Bremen, Rom, Neapel. Der Katalog (344 Seiten) kostet 78 Mark. Parallel zur Ausstellung zeigt das Münchner Filmmuseum ein Begleitprogramm mit selten zu sehenden Filmen und Dokumentationen.

Rüdiger Suchsland

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