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Je später die Gäste, desto schöner...heißt es ja
bekanntlich und natürlich gilt das auch für Filme. Fast wäre er uns
noch ganz durch die Lappen gegangen, der unterschätzteste Film des
Jahres, der es gerade noch in die Kinos geschafft hat. REINDEER
GAMES von Altmeister John Frankenheimer, ein wunderbares
Weihnachtsgeschenk für Cinéphile, dem hochbezahlte Fachkräfte den
deutschen (sic!) Synchrontitel WILD CHRISTMAS verschrieben haben
(oder sich verschrieben haben?) Wie auch immer: man kann das
Wundervolle an diesem Film gleich vom Ende her aufrollen. Einer
will nach Hause, aus dem Knast raus, Mutters Heidelbeerkuchen essen
und sich überhaupt mal wieder richtig bekochen und verwöhnen lassen
über die Feiertage (wir können uns, da wir die Feiertage ja gerade
hinter uns haben und jetzt selbst vollgestopft sind wie die
Weihnachtsgans, die wir im Kreise unserer Lieben gerade erst
verputzt haben, da momentan gar nicht mehr richtig hineindenken –
müssen uns jetzt eben mal ganz dumm stellen und so tun, als wäre
nach den Feiertagen vor den Feiertagen, als wären unsere Mägen noch
leer und unser Gewicht auf der Skala einer handelsüblichen Waage
noch anzuzeigen).
Rudy Duncan ist der verlorene Sohn, Autodieb, Knacki, gespielt
von dem wunderbaren Ben Affleck – zugegeben nicht ganz so begabt
wie sein best buddy Matt Damon aber gerade deshalb umso
liebreizender. Vom Ende her betrachtet also: endlich sitzt Rudy an
der Familientafel und Ben grinst in die Kamera, die Frankenheimer
partout nicht abwenden will vom Gesicht seines gebeutelten Helden.
Und Ben grinst und grinst und grinst und das bekommt so allmählich
die Qualität jenes gequälten Zähnebleckens, das wir selber von
unzähligen Familienfotos her kennen – wenn Oma oder Tante draufhält
und „Bitte Lächeln“ sagt und dann der Blitz nicht funktioniert oder
nicht alle ins Bild kommen und daher umgruppiert werden muss oder,
oder, oder...Und man lächelt und lächelt und lächelt und wenn das
Foto erst entwickelt ist, sitzt man da mit einer Grimasse im
Gesicht, die am ehesten noch im japanischen Kabuki-Theater zu
verwenden wäre.
Ben Affleck ist einer jener Schauspieler, denen man ständig beim
schauspielern zusehen kann und dabei auch sieht, wie das richtig
verdammt harte Arbeit ist – wie aber einer sein Bestes gibt dabei.
Ben ist wohl auch der einzige Schauspieler (siehe ARMAGEDDON) der
noch weniger Gesichtsausdrücke noch unnatürlich-hölzerner bringen
kann als Edelmime Bruce Willis. Nun ist John Frankenheimer - wie
gesagt - ein Altmeister des Regiehandwerks und wir dürfen daher
unterstellen, dass der Mann weiß, was er tut. Diese Künstlichkeit,
die seinem Helden ins Gesicht geschrieben steht, ist überhaupt die
Seele des Films. Da ist künstlicher Schnee zuhauf und kleine
Miniatur-Monstertrucks – ein Winter-Wonderland. Solche Filme hat es
lange nicht mehr gegeben, solche Begeisterung am Welten-basteln, wo
ja inzwischen die Masse der
Montag-ist-Kinotag-Multiplex-Popcorn-Audience schlechte Filme gut
findet wegen der echt geilen (weil echt wie im echten Leben! Hä,
come again?) Computeranimation. Nein, nein, nein. Wir fordern das
Spiel und den Spaß daran, die sichtlich-offensichtlich künstlichen
Welten und wollen 2001 mehr Ben Affleck (die Vorfreude auf PEARL
HARBOR steigert sich nun geradezu ins Orgasmische), mehr Gary
Sinise, der hier den schurkigen Trucker mit soviel Laune besonders
fies gibt, mehr von John Frankenheimer, mehr, mehr, mehr.
Winter bleibt es (zum Glück gibt’s Filme, wenn es die Natur
wieder nicht hinkriegt mit der White Christmas). Kalt ist es auch
in diesem filmischen Familienunternehmen: ONEGIN nach dem Versroman
von Alexander Puschkin. Eine Liebesgeschichte ist das ungefähr so
sehr, wie Don Giovanni eine Liebesgeschichte ist (soll heißen: gar
keine). Um existentielle Verzweiflung geht es, um die Leere im
Inneren und den gierigen, sinnlosen Versuch, diese aufzufüllen. Um
einen Höllensturz geht es, am Ende. Bilder sind in diesem Film zu
finden, wie man sie nur kennt aus den Meisterwerken des Carl
Theodore Dreyer. Somnambule Spukbilder von Phantomkutschen und
Windmühlen am Wasser und Onegin, den Ralph Fiennes ganz
selbstzerquält gibt, ist selbst halb Mensch halb Geist, ein
Ruheloser, Hungriger, Übersättigter. Man merkt, dass Fiennes lange
Zeit in London am kleinen aber feinen Almeida Theatre Tschechow
gespielt hat. Er hat sich, ganz offensichtlich, intensiv
beschäftigt mit der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts und
so geht diese Literaturverfilmung weit, weit hinaus über Puschkin –
ist vielmehr Literaturverfilmung im Grossen. Nicht zufällig
erinnert Fiennes, wie er so aufgemacht ist in der ersten
Einstellung, da wir ihn zu sehen kriegen, stark an ein Porträt das
existiert vom Dichter Puschkin selber.
Verquickungen gibt es hier zwischen Schöpfer und Geschöpf.
Puschkin ein junger Wilder, Rebell und Revoluzzer, Ladykiller und
tragisch jung gestorben – man wagt es kaum zu sagen: literarisch
romantisch gestorben – niedergeschossen in einem Duell. Auch in
seiner Geschichte duelliert man sich, Onegin tötet seinen Freund
Lenski, wegen nichts eigentlich. Die Russen haben im 19.
Jahrhundert viel nachgedacht über die Leere des Daseins, über die
Langeweile und die Möglichkeiten diese zu töten. Im Westen kommt
das erst später, bei Fitzgerald vielleicht in den 20ern und da dann
viel melancholischer, wie trauriger Blues in einer Nachtbar. Bei
Puschkin fängt alles noch recht ironisch an, was sich entwickelt
bis zu Dostojewskij, bis zu den DÄMONEN, wo dann eine Gruppe junger
Wilder sich ausdenkt, einen umzubringen. Ein bisschen zum Spaß auch
aber vor allem, um zu sehen, ob irgendwas sich ändert, ob man
irgendwas fühlt dabei (Erich Fromm hat, ebenfalls Jahrzehnte
später, eine ganze Aggressionspsychologie aufgebaut um diese
Gedanken herum). Dostojewkskij ist natürlich der brutalste, der
nihilistischste von allen und es gibt werde Schuld noch Sühne da
zum Trost für die Anständigen, alles geht einfach so weiter. All
das, diese ganze Kälte, diese Finsternis, diese dunkle Nacht der
Seele haben Ralph und Martha Fiennes sichtbar gemacht in ihrem Film
– am Ende, wenn Onegin durch die tief verschneiten Straßen Moskaus
stapft, friert man selbst. Es gibt, für diesen Onegin, keine
Hoffnung, keine Rettung – nicht einmal in der physischen
Wirklichkeit des Höllensturzes. Nur ewige Selbstverdammung. Das ist
schlimmer.
Und weil man das Jahr nicht ganz so depressiv ausklingen lassen
soll und wir mit etwas Optimismus ja auch in die Zukunft blicken
wollen – wäre natürlich hier noch zu erinnern an Danny Boyles
sonnigen THE BEACH. Keineswegs Boyles schwächster sondern im
Gegenteil sein stärkster Film bisher, sehr klug, sehr verständig,
sehr durchdacht und ganz weit weg von dem wenn auch launigen
TRAINSPOTTING-Vergnügen. Wie verfilmt man Literatur, die eigentlich
auf die Filmgeschichte rekurriert, wie verfilmt man das Buch zum
Film? Boyle hat verstanden, dass es nicht einfach funktioniert Alex
Garlands Roman zu APOCALYPSE NOW et al. in Bilder umzusetzen, die
wieder irgendwo landen bei APOCALYPSE. Sondern hat sich eine ganz
eigene Geschichte gebastelt. Ein hübscher junger Rucksacktourist
ist reif für die Insel. Ein Gestrandeter (als hätte es Jack Dawson
alias Leonardo DiCaprio doch noch geschafft den Untergang der
TITANIC zu überleben und irgendwo auf der anderen Seite der Welt an
Land zu paddeln), ein Gelangweilter um den es hier geht: und ja,
wir entschuldigen uns, THE BEACH ist irgendwie doch ein bisschen
düster, trotz Sonne, Sand, Palmenstrand. Einer, der was sucht und
weil er nicht weiß was es ist, auch nie fündig wird. Einer, der
immer wieder was Neues anfängt und dann nicht dabei bleibt. Ein
bisschen Romanze, ein bisschen Robinsonade, ein bisschen
Rollenspiel. Mit Selbstfindung ist freilich Essig und auch mit der
Reifung, dem Erwachsenwerden. Man muss also THE BEACH vielleicht
doch sehen wie man DIE DÄMONEN liest – keine Schuld, keine Sühne.
Alles geht weiter am Ende, nur Fotos bleiben aus heiteren Tagen und
dass die meisten der Abgelichteten längst tot sind macht irgendwie
auch nix. 2001 wird DiCaprio unter der Regie von Martin Scorsese zu
sehen sein und wir ahnen – da wird er es mit Schuld und Sühne, mit
Strafe und Erlösung zu tun bekommen, bis ihm der Schädel brummt.
Wir freuen uns drauf.
Regine Welsch
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