Die Ankunft. Cannes im Ausnahmezustand. Der Flughafenbus steckt
im Stau. Ein kleiner Kranwagen vor uns hält an jedem Laternenmast
um Festival-Banner aufzuhängen. Kurz vor der Innenstadt die erste
Straßensperre. Die Croisette, die berühmte Uferstraße, ist
halbseitig gesperrt um für das Festivalvolk Platz zu schaffen.
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Eine Stunde vor der offiziellen Eröffnung
mit MOULIN ROUGE herrscht großes Gedränge vor dem Palais du
Festival. Unmengen Schaulustige beobachten, wie die Promis die
berühmte Außentreppe mit dem großen roten Teppich hinauf schreiten.
Die besten Plätze am Treppengeländer sind für Pressefotografen
reserviert. Damit auch die hinteren Reihen etwas sehen können, wird
die Prozedur auf ein riesiges Videodisplay vor dem Festivalpalais
übertragen und von einem Sprecher kommentiert. Nicole Kidman
braucht allein für die 20 Meter von der Straße zum Anfang der
Treppe 5 Minuten. Bevor sie die erste Stufe erklimmt, muß ich
weiter. Der nächste Film ruft.
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Auf dem
Filmmarkt werfen erfolgreiche Filme ihre Schatten nicht voraus
sondern hinterher. Die Blairwitch-Welle ist gerade am abebben. Es
gibt aber immer noch genug Produzenten, die glauben, es reiche ein
paar Teenager mit einer Videokammera in den Wald zu schicken, um
100 Mio. US$ sicher zu haben. Abschreckenstes Beispiel war RETURN
TO PONTIANAK, den man passender "Blairwitch-Jungle" genannt hätte.
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Der neuste Trend ist TIGER & DRAGON.
Zahlreiche Filme haben eines der beiden Kennwörter im (englischen)
Titel. (Die Originaltitel lauten - soweit man dies aus den
Schriftzeichen erkennen kann - teilweise ganz anders. Aber
vielleicht wurden die ja schon vor dem gegenwärtigen Boom gewählt.)
Den Vogel schießen zwei Hongkong-Produktionen ab: FLYING DRAGON
LEAPING TIGER und ROARING DRAGON BLUFFING TIGER.
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Auf dem Filmmarkt werden in den verschiedenen Sälen bis zu
25 Filme parallel gezeigt. Das Programm nennt zu den Filmen meist
nur Titel, Genre, Produktionsland, Regisseur und wenn es hoch kommt
zwei Hauptdarsteller und eine Inhaltsangabe von zwanzig Worten.
Welchen Film soll man sich anschauen? Manchmal dient der Name eines
vielversprechenden Regisseurs, die Empfehlung von Bekannten oder
Gerüchte, die sich zu Tips verdichten, als Entscheidungshilfe.
Häufig muss man sich auf seine Spürnase verlassen. Eine
Überlebensstrategie kristallisiert sich schnell heraus: Wenn die
Worte "Sex" im Titel oder "Internet", "E-Mail" bzw. "virtuell" in
der Inhaltsangabe vorkommen, wählt man lieber einen anderen Film.
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Zu heißen Tips auf dem Filmmarkt
entwickelten sich THE CABBIE, die humorvolle Lebensgeschichte eines
taiwanesischen Taxifahrers, TEARS OF THE BLACK TIGER, eine
Westernparodie aus Thailand, LE FABULEUX DESTIN D'AMELIE POULAIN,
der neuste Film von Jean-Pierre Jeunot der schon an französischen
Kinokassen boomt und das Münchener Filmfest eröffnen wird, und vor
allem WATERBOYS, eine Komödie aus Japan, die ein wenig an "The Full
Monthy unter Wasser" erinnert - ein paar jungen an einer
japanischen Highschool versuchen sich im Synchronschwimmen.
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Letztes Jahr wurde zu Beginn des Festivals
über die aufwendigen Werbekampagnen und rauschenden Parties der
Dotcoms gestaunt. Damals sollen einige noch während des Festivals
pleite gegangen sein. Dieses Jahr ist leider Sparsamkeit angesagt.
Keinerlei extravagante Werbeschlachten. So kann der kleine deutsche
Film MIT IKEA NACH MOSKAU schon mit einer merkwürdigen
Inhaltsangabe und einem Regisseur, der im IKEA-Dress durch die
Messe spaziert, Aufmerksamkeit erregen.
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In
der letzten Woche wird Donnerstags das Programm auf dem Filmmarkt
deutlich dünner. Freitags sind in der Messe die ersten Stände
verwaist, andere packen zusammen. Der Filmmarkt geht offiziell bis
Samstags, aber da wird schon der Teppichboden aus der Messehalle
gerissen. Der Sonntag gehört noch einmal ganz dem Festival. Die
Wettbewerbsfilme werden noch einmal wiederholt. Jetzt kann man die
Filme sehen, für die man Anfang der Woche keine Karten oder Zeit
hatte. Am Abend werden dann die Palmen verteilt.
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Dank des richtigen Badges darf ich am Sonntag für die
Wiederholung des Eröffnugsfilms als erster über den blauen Teppich
die Treppe hinaufsteigen zum Salle Debussy, dem zweit größten Saal
des Festivals. An drei langen Warteschlangen vorbei. Eigentlich ist
es ja totaler Blödsinn, trotzdem war es ein erhebendes Gefühl.
Der Film MOULIN ROUGE entpuppt sich als Höhepunkt des Festivals.
Baz Luhrmann hat wie schon in ROMEO & JULIET ein völlig
überdrehtes Spektakel geschaffen, das dem Musical neue Impulse
gibt. Die Gesangs-Medleys haben sich einen Platz unter den
Kabinettstückchen der Filmgeschichte verdient. Jeweils 1-2 Zeilen
aus bis zu 20 berühmten Popsongs werden zu regelrechten Dialogen
zusammmen gefügt.
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Der Abschlussfilm LES
AMES FORTES reiht sich in die langjährige Tradition ein - man kann
ihn schnell wieder vergessen. Wer allerdings vermutet hatte,
Supermodel Laetitia Casta würde als Hauptdarstellerin nur das
glamouröse Zuckerpüppchen geben, wurde durch ihren Mut zur
Häßlichkeit angenehm überrascht.
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Die
Abschlussbilanz der meisten Kommentatoren vermeldet eine
mittelmäßige Filmauswahl. Die Goldenen Palme für Nanni Morettis LA
STANZA DI FIGLIO war von vielen erwartet worden. Erstaunen löst
dagegen der Preissegen für DIE KLAVIERSPIELERIN des Österreichers
Michael Haneke aus, der außer der goldenen Palme alle wichtigen
Preise eingesackt hat. So abgeräumt hat lange kein Film mehr.
Claus
Schotten
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